Rundbrief Nr. 68 + Brief von Michail Schischkin + Friedhelm Kröll: Die Archivarin des Zauberers

Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann- Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

eine Fülle von Terminen steht an. Diese möchte ich prominent auf die erste Seite des Rundbriefs in chronologischer Reihenfolge stellen:

Die erste Aufführung des Films

Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann

findet nicht, wie im letzten Rundbrief angekündigt, am Sonntag in Köln statt, sondern in Bonn Endenich,

im Rex-Theater am 3.November um 14.00 Uhr!

Aus Sorge, daß die Vorstellung schnell ausverkauft sein könnte, hat unser Mitglied Frau Monzel 9 Eintrittskarten auf Vorrat gekauft. Wer daran Interesse hat, bitte sich unmittelbar an sie zu wenden: (angelika.monzel@gmx.de) Die Vorstellung im Odeon-Kino in Köln wurde daher auf 17.30 Uhr verschoben. Ich bin sehr gespannt auf den Film – sicher ein wichtiges Gesprächsthema für unseren Stammtisch.

Die Schauspielerin Barbara Teuber wird im Haus der Theatergemeinde Bonn, Bon- ner Talweg 10, am 6.November um 19.30 Uhr

Thomas Manns Erzählung TRISTAN lesen

Um eine Anmeldung wird gebeten. Die Lesungen dort haben stets einen intimen und privaten Charakter. Bei einem Glas Wein im Anschluß, besteht die Gelegenheit, sich auszutauschen.

STAMMTISCH

Unser nächster Stammtisch wird im Gasthaus Nolden in Bonn-Endenich stattfinden, und zwar am Donnerstag, den 14.November um 18.00 Uhr. Wir müssen dem Lokal vorab mitteilen, wie viele Mitglieder wir erwarten. Daher bitte ich um Anmeldung an meine Adresse oder unmittelbar an Herrn Koehler (wokoe@t-online.de), der uns dort bereits angekündigt hat.

Noch vor unserem Stammtisch findet eine weitere Veranstaltung statt, die, wie ich finde, unsere Aufmerksamkeit verdient:

Am Sonntag, den 10. November um 11.00 Uhr hält Michael Schischkin im Literaturarchiv in Marbach seine Schillerrede. Ich hatte Ihnen Herrn Schischkin bereits im Rundbrief Nr. 45 vorgestellt und seinen Text „Die russische Deutschstunde – Thomas Mann und die Ukraine“ angefügt. In gleichem Sinne wird er in Marbach wieder auf Thomas Mann und dessen „Versuch über Schiller“ Bezug nehmen. Seine Rede wird gleichzeitig ins Netz gestellt. Über die Seite des Literatur-Archivs dla.marbach.de finden Sie leicht die Verknüpfung auf youtube.

Diesem Rundbrief beigefügt ist auch ein Brief von Herrn Schischkin: Er hat einen Literaturpreis für im Exil lebende russische Autoren ins Leben gerufen. Sein Engagement für die russische Kultur erinnert an Thomas Mann, der in seinem Exil weniger bekannte deutsche Autoren nach Kräften unterstützte, um der Welt deutlich zu machen, daß die deutsche Kultur weiterbesteht, auch wenn in Berlin die Barbaren herrschen. Die Preisträger werden kein Geld bekommen, sondern eine Übersetzung ihrer Texte. Auch diese kosten Geld. Das entsprechende Spendenkonto habe ich am Ende des Briefes von Herrn Schischkin eingestellt.

Im letzten Rundbrief habe ich von der Thomas-Mann-Tagung in Lübeck berichtet. Hierzu erhielt ich vielfach ein positives Echo. Dankenswerterweise schickte mir Patricia Fehrle ergänzende Eindrücke. Dies ist sehr gut, zumal ich den letzten Programmpunkt zu den Gegenwartsbezügen des Zauberbergs versäumte, da ich schon hatte abreisen müssen.

Die Rede von Navid Kermani wurde unter dem Titel „Es kann noch schrecklich viel passieren“ auf ZEIT-ONLINE veröffentlicht. Aus rechtlichen Gründen kann ich den Text auf diesem Wege nicht verbreiten, lesenswert ist er allemal.

Georgien

Von den Wahlen dort haben Sie alle gelesen. Selbst die Staatspräsidentin ist davon überzeugt, daß sie nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurden. Ich schrieb Natia Tscholadze einen sorgenvollen Brief: „…seid euch bewusst, daß euer „traumhafter“ Präsident in Sachen Gewalt der Stärkere ist. Ihr habt nur den Geist, das Wort und das Wissen auf eurer Seite…………………………… Versucht euer Leben in geistiger Freiheit zu gestalten. Wir sind an eurer Seite.“

Das klingt beinahe so hilflos, wie ich mich fühle. Wollen wir hoffen, daß die Gemüter nicht überschäumen, daß Friedfertigkeit und Beharrlichkeit am Ende obsiegen. Brechts Verse kommen mir in den Sinn: Am Grunde der Moldau wandern die Steine / Es liegen drei Kaiser begraben in Prag. / Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. / Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Feuilleton

Einen Gegenwartsbezug der ganz anderen Art empfand ich bei der Lektüre des folgenden Buchs: Martin Flinker: Thomas Manns politische Betrachtungen im Lichte der heutigen Zeit. Es stammt vom Initiator der Hommage à Thomas Mann und erschien 1959. Flinker pflegte ab 1950 einen regen Briefwechsel mit Thomas Mann. Das Buch ist ein fulminantes Plädoyer eines französischen Staatsbürgers österreichisch-jüdischer Provenienz zur Verteidigung der Betrachtungen eines Unpolitischen. Er spiegelt den Text von 1918 immer wieder mit seiner Gegenwart am Ende der 50er Jahre: Die „zivilisierte“ Republik Frankreich führt einen schlimmen Krieg in Algerien und ist mit der Demokratie USA in Vietnam an einem fürchterlichen Gemetzel beteiligt. Hätten aus einem gebildeten Bürgertum entstandene Staatsführungen solche Strategien auch eingeschlagen? Kann eine Demokratie gegen den Gossenjargon einer „freien“ Boulevardpresse ankommen? Geraten wir auf diesem Wege nicht in Gefahr, von einem ungebildeten Pöbel regiert zu werden? Schon beim Formulieren solcher Fragen wird mir ganz blümerant. Ich gestehe, die Bekenntnisse noch nicht gelesen zu haben, habe sie stets als Abweg und Mißgriff Thomas Manns angesehen. Im Lichte des Buchs von Martin Flinker werde ich bald einen Versuch wagen.

Vor geraumer Zeit empfahl mir Agnes Volhard das Buch „Die Archivarin des Zauberers“ von Friedhelm Kröll zu lesen. Diese Empfehlung gebe ich weiter, auch wenn das Buch vor über 20 Jahren erschien und nur noch antiquarisch erhältlich ist. Ich habe dazu Frau Volhard ausführlich geschrieben – meinen Brief an sie finden Sie im Anhang. Darin erwähne ich auch, daß ich das Exemplar von Inge Jens erwischt habe.

Ich bekam mein Exemplar vom Antiquariat in Lenninger Tal, das einen großen Teil der Bibliothek von Inge und Walter Jens im Sortiment hat. Wer Lust hat, darin zu stöbern, kann dies gerne tun: www.antiquariat- loeffler.de

Sie sehen, es gibt reichlich Gesprächsstoff für unseren Stammtisch. Ich freue mich darauf, Sie im Gasthaus Nolden zu treffen.

Es grüßt herzlich Ihr Peter Baumgärtner


Brief von Michail Schischkin

Liebe Freunde

Ich möchte Euch gerne Informationen über mein neues grosses Projekt mitteilen: Ich habe einen Preis für die vom putinschen Regime unabhängige Literatur auf Russisch gegründet.

Infolge des verbrecherischen Krieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine geriet auch die ganze russischsprachige Kultur weltweit unter Beschuss. Das gilt vor allem für diejenigen, die mit der russischen Sprache arbeiten: Schriftsteller*innen, Philolog*innen, Literaturwissenschaftler*innen. Auch für westliche Slawist*innen und Übersetzer*innen aus dem Russischen ist die Situation prekär geworden. Die Schriftsteller*innen mit Namen, die bereits viel übersetzt wurden, haben noch Chancen bei den westlichen Verlagen, aber für weniger bekannte oder für junge Autor*innen ist der Weg zu Lesern hier so gut wie verschlossen.

Zusammen mit Schweizer Slawistik-Professor*innen (George Nivat, Ilma Rakusa, Ulrich Schmid und andere) gründete ich einen Verein mit dem Ziel, russischsprachige Schriftsteller, die gegen den Krieg auftreten, zu unterstützen und ihre Werke im Westen bekannt zu machen. Der Verein bezweckt, einen unabhängigen Literaturpreis für die Werke in der russischen Sprache zu gründen. Es gibt kein Preis-Geld, das preisgekrönte Buch wird einen Übersetzer-Beitrag für die Übersetzung ins Englische, Deutsche und Französische bekommen.

Die russische Sprache gehört nicht Diktatoren, sondern der Weltkultur. Was sehr wichtig ist, es geht nicht um „russische Schriftsteller“ und nicht um „die russische Literatur“, es geht um alle Autoren*innen aus allen Ländern – auch aus Belarus, Litauen, Kasachstan, Israel, der Ukraine etc., die auf Russisch schreiben. Zum Beispiel, die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexiewitsch und Sascha Filipenko aus Belarus, Armen Zacharyan (ursprünglich aus Armenien), Tomas Venclova (aus Litauen), Mikhail Gigolashvili (ursprünglich aus Georgien) sind unter Mitstifter*innenn und Jury-Mitgliedern. Zu Mitstifter*innen des Preises gehören Ljudmila Ulitzkaya, Boris Akunin, Dmitri Glukhovski, Dmitri Bykov und andere bekannte Autoren und Autorinnen. Alle Namen der Mitstifter*innen und Jury-Mitgliedern kann man in der beigelegten Presse-Mitteilung sehen. Es ist sehr wichtig, dass auch einige ukrainische Autor*innen bereit sind, am Preis-Wettbewerb teilzunehmen (z.B. Sergei Solovyev mit seinem grossartigen Roman „Schaktis Lächeln“). Es geht um die Entwicklung der Kultur nach dem Imperium, um die Dekolonisierung des Bewusstseins, um die Entstehung einer freien russischsprachigen Zivilgesellschaft.

Die politische Position des Preises wird ausdrücklich erklärt. Wir verurteilen die verabscheuungswürdige Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine, wir sind gegen die repressiven Diktaturen in Russland und anderen Ländern (z.B. Belarus), wir unterstützen die Ukraine in ihrem Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit.

Hier kurz das Wesentliche, wie der Preis funktioniert:

Der Wettbewerb um den Preis ist offen für Prosawerke, die weltweit in russischer Sprache erscheinen. Die Auswahl der Bücher erfolgt durch einen Expertenrat. Über den/die Preisträger/in entscheidet eine Jury, der bekannte Kritiker*innen, Philolog*innen, Literaturwissenschaftler*innen, Slawist*innen, bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens usw. angehören. Die Jury wird aus 20-30 Teilnehmer*innen bestehen, je mehr, desto besser, um Gruppendenken und Lobbyismus zu vermeiden. Die Abstimmung erfolgt schriftlich, aber offen, alle Informationen werden im Internet auf der Webseite des Preises veröffentlicht.

Der Preis besteht aus einem Übersetzungsstipendium. Die Übersetzung in die meistverbreiteten Sprachen – Englisch, Französisch, Deutsch – bietet Verlagen in verschiedenen Ländern der Welt die Möglichkeit, sich mit den Büchern vertraut zu machen.

Dieses Projekt findet ein sehr positives Echo bei allen, die ich anspreche. Auch von der Europäischen Kommission habe ich die Zusage bekommen, das Projekt zu unterstützen.

Ich habe den Literaturpreis DAR am Forum SlovoNovo (https://www.slovonovo.me/) in Montenegro Ende September präsentiert.

Beiliegend die Pressemitteilung und die Begrüßung des PEN International. Hier einige Links: Webseite rus/eng – https://darprize.com/

Mein Interview (Deepl translate kann helfen!) https://novayagazeta.eu/articles/2024/09/27/nuzhno-dat-literature-na-russkom- iazyke-novuiu-zhizn

Im Januar erfahren wir die Shortliste und Ende April den Gewinner. Dann geht es darum, das preisgekrönte Buch (oder Bücher) ins Deutsche (auch ins Englische und Französische) zu übersetzen und nach der Übersetzung nicht fallen zu lassen. Wir werden im deutschen Sprachraum Buchpräsentationen, Gespräche mit Autor*innen und Übersetzer*innen, Diskussionen etc. veranstalten. Dazu brauchen wir Unterstützung und werden uns auf jede Form der Unterstützung sehr freuen.

Ich bin bereit, alle Fragen zu beantworten. Mit herzlichen Grüßen

Michail Schischkin / Mikhail Shishkin

President of the Association Literary Prize „Dar“ Chairman of the Jury dar.literaturpreis@gmail.com

IBAN: CH67 0076 9441 0931 9200 1

Kunde: Verein „Literaturpreis Dar“ Laufenstrasse 154, 4245 Kleinlützel

Bank Name: Basellandschaftliche Kantonalbank Swift: BLKBCH22, Clearing Nr: 769


Friedhelm Kröll: Die Archivarin des Zauberers

Liebe Agnes,

diese Woche ist es mir endlich gelungen, neben allen beruflichen und Thomas-Mann-Verpflichtungen die Ida-Herz-Biografie zu lesen. Ich mußte an die Tagung in Lübeck denken: Zum Abschluß der Mitgliederversammlung fragte Hans Wißkirchen nach Anregungen für das Tagungsthema 2027 – denn die nächsten beiden Jahre sind gesetzt: 2025: 150. Geburtstag, 2026: 125 Jahre Buddenbrooks.

Jedenfalls stand eine Frau auf und regte an, Thomas Mann und die Frauen oder Thomas Mann und das Judentum in den Blick zu nehmen. Für beide Themen böte dieses Buch vielfältige Quellen. Kröll hat den Briefwechsel mit Ida Herz intensiv studiert. Ihr Schicksal als Jüdin aus der Nazi-Stadt Nürnberg und ihre Bewunderung für Thomas Mann, die oft von der geistigen Ebene in die körperliche überspringen wollte – von ihrer Seite – verzahnen sich unauflöslich. Den privaten und sehr freien Ton von Thomas Manns Briefen an die Herz genoß ich sehr, wie stark er sich doch unterscheidet vom Tenor der Briefe an wichtige Persönlichkeiten. Wie du richtig sagtest, entdeckt man ganz neue Seiten an „unserem“ Thomas Mann.

Als störend habe ich empfunden, daß Kröll im Ton einer Kampfschrift versucht, den berühmten Biographen Thomas Manns Oberflächlichkeit und mangelnden Tiefgang vorwirft, auch wenn er hie und da recht damit hat. Von Thomas Mann hätte er lernen können, solcherlei in ironischen Spitzen zu formulieren und auf Schulmeisterei zu verzichten. Seine psychologischen Studien der abschließenden Kapitel wage ich nicht zu beurteilen. Vorlesungen von Sigmund Freud verstehe ich sehr gut, diese Auslassungen von Kröll weniger.

Wie ich dir schon schrieb, habe ich das Exemplar von Inge Jens erwischt. Ich wagte nicht, eigene Anstreichungen zu machen. Jene von Inge Jens sind dezent, aber präzise: Hinweise zum vorgenannten Biographenstreit markiert sie mit kurzen Strichen, aber wenn Katia ins Spiel kommt, ihren Mann unterstützend und beschützend vor der zuweilen etwas zudringlichen Ida Herz, wird die Markierung verdoppelt und zuweilen eine Unterstreichung hinzugefügt. Das Buch erschien 2001, Frau Thomas Mann2003, fraglos hat Frau Jens daraus geschöpft. Ich erinnere mich noch gut an diese angenehme, selbstbewußte und dennoch bescheiden auftretende Frau bei ihrem Vortrag damals im Uni-Club – Seid ihr auch dort gewesen?

Zur Aktualität von Thomas Mann habe ich mir zwei Zitate herausgeschrieben: »Die Juden heißen ›das Volk des Buches‹ – man muß verstehen, was alles in dem Wort ›Buche‹ an Empfindlichkeit, Empfänglichkeit, seelischer Reife, Leidenskenntnis,

Liebe zum Geistigen symbolisch sich andeutet, um die Dankbarkeit zu begreifen, die der literarische Geist gerade in Deutschland den Juden schuldet.« (Als Quelle nennt Kröll hier: Mann, Manifeste. Ich mußte eine Weile in meinen Regalen stöbern, bis ich fand, was er meint: Katia Mann gab 1966 „Thomas Mann: Sieben Manifeste zur jüdischen Frage“ heraus. Das Zitat entstammt dem Text „Zum Problem des Antisemitismus“ von 1937)

Dann zur Verteidigung der Demokratie: »Jede Sorge um die ›bürgerliche Kultur‹ ist läppisch, wenn es wie jetzt zum Äußersten kommen soll. Kommunisten und Sozialdemokraten müssen sich jetzt finden, und ihnen muß das katholisch-universalistische Deutschland, die protestantische Bildung, das Judentum, die Künstlerschaft, – müssen alle, alle, die noch einen Funken geistiger Ehre im Leibe haben, eine entschlossene Front bilden, damit diesen Kriegslümmeln, diesen Henkern deutscher Freiheit und Geistigkeit das Handwerk gelegt werde.« So schrieb er Ida Herz am 28. Februar 1933 – man hat nicht auf ihn gehört.