Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,
ich bin sehr froh, Ihnen noch vor Weihnachten mitteilen zu können, daß der Band 14 unserer Schriftenreihe erschienen ist. Im Heft:

Tobias Schwartz:
Mein Thomas Mann. Eine Spurensuche
sind neben seinem Vortrag im Museum Koenig noch vier weitere, sehr lesenswerte Essays von ihm veröffentlicht. Alle Mitglieder unseres Ortsvereins erhalten traditionsgemäß ein Exemplar dieses Hefts gratis. Aber ich bitte um Verständnis dafür, daß ich für 90 Mitglieder keinen postalischen Versand vornehmen kann. Ich werde am kommenden Mittwoch, beim Vortrag von Prof. Wortmann einen Stapel dabei haben und bei allen künftigen natürlich auch. Sie können das Buch aber auch bei jeder Buchhandlung Ihrer Wahl bestellen, selbst bei der Versandbuchhandlung, deren Namen an die antiken Reiterkriegerinnen erinnert, ist es für zehn Euro erhältlich. Ich habe das Buch bei Books-on- Demand verlegen lassen und diesmal auch nur 100 Exemplare auf Vereinskosten vorfinanziert. Alle weiteren Hefte werden erst bei Bestellung produziert – sicher ein sehr zeitgemäßes Verfahren. In diesem Zusammenhang muß ich auch noch erwähnen, daß beim Umzug der Buchhandlung Böttger noch ein weiterer, großer Stapel alter Hefte aufgetaucht ist. So haben sich nun bei mir ca. 350 Hefte fast aller Bände von 1 bis 13 angesammelt, weshalb ich mich dazu entschlossen habe, diese an Mitglieder in Einzelheften zukünftig zu verschenken und an Nichtmitglieder für nur fünf Euro abzugeben und nicht mehr für zehn.
So hoffe ich, daß wir uns am Mittwoch, den 14.12. um 18.30 Uhr in der früheren LESE zum Vortrag von Prof. Thomas (Wort-) Mann sehen werden.
Abenteuertourismus im doppelten Sinne. »Thomas Manns „Eisenbahnunglück“ und das unbekannte(re) Werk«
Auf eine weitere Veranstaltung darf ich Sie schon jetzt aufmerksam machen: Anlässlich des 90. Jahrestages des Festvortrages von Thomas Mann im Auditorium Maximum der Universität München mit dem Titel:
»Leiden und Größe Richard Wagners«
plant der Richard-Wagner-Verband Bonn e.V. in Zusammenarbeit mit unserem Ortsverein eine Veranstaltung zu diesem Thema. Mit diesem Vortrag begann das Exil Thomas Manns und seine Schmähung in den rechten Kreisen der untergegangenen Republik.
Bernt Hahn liest die wesentlichen Passagen dieses Essays, ein musikalisches Rahmenprogramm ist in Vorbereitung. Weitere Informationen folgen nach den Feiertagen.
An dieser Stelle muß ich noch die traurige Mitteilung in die Runde geben, daß das langjährige Mitglied unseres Ortsvereins Frau Rose Wolfgarten im vergangenen November plötzlich und unerwartet gestorben ist.
Feuilleton
Der eben erwähnte und uns wohlbekannte Schauspieler und Sprecher Bernt Hahn machte mich auf den russischen Schriftsteller Michail Schischkin aufmerksam, den er im Lew Kopelew Forum kennengelernt hatte, dessen tätiges Mitglied Hahn auch ist.
Schischkin hatte 2019 mit dem jüngst verstorbenen früheren Vorsitzenden des Lew Kopelew Forums Fritz Pleitgen das Buch „Frieden oder Krieg“ herausgegeben. Eindringlich mahnte er darin den Westen, die Gefährlichkeit Putins nicht zu unterschätzen, warnte seine deutschen Freunde vor der Blauäugigkeit vor dessen Brutalität. Sein Blick auf seine russischen Landsleute ist nüchtern und illusionslos, sein Blick auf deren Staatsführung erbarmungslos. Er ist in den letzten Monaten vielfach im Fernsehen aufgetreten, auch die Veranstaltung im Lew Kopelew Forum ist online abrufbar. Man erlebt einen Mann, der seine ganze Sprachmacht in den Kampf wider die Diktatur in seiner Heimat wirft. In diesem Sinne hat er nun auch einen Text verfaßt, der überschrieben ist mit „Die russische Deutschstunde – Thomas Mann und die Ukraine“.
Schischkin potenziert darin seine Sprachgewalt mit jener Thomas Manns. Die FAZ sagte ihm zu, dies Essay zu publizieren, hat dies bislang aber noch nicht getan. Herr Schischkin gestattete mir, Ihnen, quasi im privaten Kreis, den Artikel zur Lektüre zu geben, sie finden ihn im Anhang.
Michail Pawlowitsch Schischkin (Михаил Павлович Шишкин) lebt seit einigen Jahren in der Schweiz, seine Romane wurden in alle Weltsprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Ich habe ihn für das Frühjahr nach Bonn eingeladen, bevor er in die USA auf Lesereise geht. Seinen mir bislang unbekannten Romanen nähere ich mich gerade an. „Die Eroberung von Ismail“ ist ein fulminanter Liebes- und Leidensreigen um Rußland, es ist, als wolle er den Mythos und die Macht seines Landes entschlüsseln, ich konnte nicht umhin, mich an Rushdies „Satanische Verse“ erinnert zu fühlen. Der Roman erschien im Jahr 2000. Inzwischen hat sich der Blick auf sein Land weiter eingetrübt. Wir können sehr gespannt auf ihn sein.
Am Ende noch ein Hinweis auf eine literarische Veranstaltung der Görres-Gesellschaft: am 3. Februar 2023 kommt Hanns-Josef Ortheil nach Bonn in die Aula des Collegium Albertinum, um aus seinen Werken zu lesen. Dazu wird Frau Prof. Margit Haider- Dechant Stücke von Robert Schumann spielen, der ganz im Fokus dieses Abends stehen wird. Titel des Abends ist:
„Von nahen Ländern und Menschen“
Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite der Görres-Gesellschaft, Karten- bestellungen können über deren Geschäftsstelle vorgenommen werden: verwaltung@goerres-gesellschaft.de
Vorbehaltlich eines nochmaligen Wiedersehens am Mittwoch bei Prof. Wortmann wünsche ich allen Lesern meiner Rundbriefe ein geruhsames Weihnachtsfest.
Auf bald Ihr Peter Baumgärtner
Anlage Schischkin Thomas Mann Ukraine
Die russische Deutschstunde
Thomas Mann und der Ukraine-Krieg
«Das russische Volk ist stark im Hinnehmen, und da es die Freiheit nicht liebt, sondern sie als Verwahrlosung empfindet, weshalb sie ihm denn auch wirklich gewissermaßen zur Verwahrlosung gereicht, so wird es trotz schweren Desillusionierungen sich unter der neuen, roh-disziplinären Verfassung immer noch besser und richtiger in Form fühlen, immer noch „glücklicher“ sein als unter der Republik. Die unbeschränkten Belügungs-, Betäubungs- und Verdummungsmittel des Regimes kommen hinzu. Das intellektuelle und moralische Niveau ist längst so tief gesunken, daß der zu der eigentlichen Empörung notwendige Schwung einfach nicht aufzubringen ist“.
In diesem Zitat aus dem Brief von Thomas Mann an René Schickele (2.04.1934) habe ich nur ein Wort ersetzt: „deutsch“ durch „russisch“. Die historischen Parallelen zwischen Nazi-Deutschland und Putin-Russland sind frappierend. Die jüngste russische Geschichte hat den deutschen Klassiker zu unserem Zeitgenossen gemacht.
Sein ganzes Leben lang führte Thomas Mann ein Gespräch mit der russischen Literatur, noch kurz vor seinem Tod hat er über Tschechow geschrieben. Als junger Autor nahm er bei den russischen Schriftstellern Unterricht im Schreiben, jetzt erteilt er uns Unterricht im Überleben in Zeiten des Faschismus.
Russische Kulturschaffende können heute besser nachvollziehen, was Thomas Mann und andere deutsche Intellektuelle gefühlt und erlebt haben: Die Sprache Puschkins und Tolstois wurde zur Sprache von Kriegsverbrechern und Mördern gemacht. Russland wird auf absehbare Zeit nicht mit russischer Musik und Literatur assoziiert, sondern mit Bomben, die auf Kinder fallen.
Manchmal fahren auf einer Eisenbahnstrecke zwei Züge in dieselbe Richtung, Fenster an Fenster. Man nähert sich auf Armeslänge, man sieht die Leute im Nebenzug: Jemand liest, jemand döst, jemand schaut dich an. So sitzen wir, durch die Zeit voneinander entfernt und doch irgendwie gleichzeitig, in parallelen historischen Zügen, die in die Katastrophe rasen.
Hitler schaffte es, das deutsche Volk seelisch zu verseuchen, nun hat es Putin mit meinem Volk getan. 1940 nannte Thomas Mann die deutschen Siege „Schritte in einem endlosen Sumpf“. Russland hat diese Schritte in den Abgrund fast buchstäblich wiederholt. Offene rassistische Propaganda im Göbbels-Stil. Russki mir als Großdeutschland. Die Krim als Sudetenland. Ukrainerhass als Judenhass. Putin als Führer: „Gibt es Putin – gibt es Russland!“
„Leiden an Deutschland“ – so nannte Thomas Mann seine Tagebücher. In den 30er Jahren warnte er in vielen Publikationen vor der Gefahr des Hitler-Regimes und wurde von seinen Landsleuten nicht gehört. „Leiden an Russland“ – so könnte man unzählige Publikationen russischer Schriftsteller nennen, die jahrelang in oppositionellen Medien erschienen und vor der Gefahr des entstehenden faschistischen Regimes in Russland warnten. Meine Landsleute jubelten nur: „Die Krim ist unser!“
Weder 1936 noch 2014 wurden die Aufrufe zum Boykott der Olympischen Spiele gehört. Nach Berlin kamen fast 50 Nationen, obwohl die „Nürnberger Rassengesetze“ bereits 1935 verabschiedet worden waren. Den großen Sieg des deutschen Sports privatisierte Hitler. Den großen Sieg des russischen Sports hat sich Putin zugeschrieben. Der Sieg gehört ihm mit Recht, denn er hat die Spezialoperation der Geheimdienste veranlasst, bei der die Urinproben der gedopten Athleten durch saubere ersetzt wurden.
Thomas Mann scheiterte mit seinen Versuchen, die zombifizierten Deutschen wachzurütteln und musste emigrieren. Auch die russische Kultur lebt heute nur in der Emigration. In Russland muss man patriotische Lieder singen oder schweigen. „Kann aber die Kultur ohne das durch den Faschismus verpestete Territorium existieren?“ Thomas Mann hat uns die Antwort gegeben. Nach seiner Übersiedlung in die USA sagte er in einem Interview: „Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir.“ Am Beispiel Deutschlands erklärt er uns, warum Kultur und Putins Regime unvereinbar sind: „… In meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und
Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden. … Es war nicht erlaubt, es war unmöglich, «Kultur» zu machen in Deutschland, während rings um einen herum das geschah, wovon wir wissen. Es hieß die Verkommenheit beschönigen, das Verbrechen schmücken“ („Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe“). Alle Diktatoren missbrauchen die Kultur, um ihre Verbrechen zu
„schmücken“.
Jede Diktatur lebt von Feinden und Kriegen. In seinem „Bonner Brief“ 1936 beschreibt Thomas Mann sowohl das Nazi-Deutschland als auch das Putinsche Machtsystem: „Sinn und Zweck des nationalsozialistischen Staatssystems ist einzig der und kann nur dieser sein: das deutsche Volk unter unerbittlicher Ausschaltung, Niederhaltung, Austilgung jeder störenden Gegenregung für den «kommenden Krieg» in Form zu bringen“.
In den Vorkriegsjahren litt Thomas Mann – nicht weniger als an Deutschland – an der Duldung Hitlers durch den Westen, an der so genannten Appeasement-Politik. Auch Putins Einmarsch in die Ukraine war nur dank der jahrelangen Bemühungen der „Putin-Versteher“ in den demokratischen Ländern möglich. Der verzweifelte Aufruf russischer Schriftsteller zum Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 fand bei den westlichen Politikern kein Gehör. Der damals bereits vier Jahre andauernde Krieg gegen die Ukraine mit Tausenden Toten konnte keine Nation stoppen, nach Russland zu gehen und vor Putin Fußball zu spielen. Der Diktator nahm das als stillschweigende Zustimmung zu seiner Aggression wahr, der Weg zum 24. Februar 2022 war frei.
Jetzt geriet die russische Kultur im Ausland unter die Walze des „culture cancelling“, so, wie damals die deutsche. Den amerikanischen Studenten, die sich weigerten, die Kultur und Sprache eines Landes zu erlernen, das eine menschenverachtende Ideologie und Krieg in die Welt brachte, antwortete Thomas Mann, dass die Abneigung gegen das politische Regime nicht auf die deutsche Kultur übertragen werden dürfe, sie habe damit überhaupt nichts zu tun. Das war im Jahre 1938. Später, als die Gräueltaten der Nazis bekannt wurden, änderte er seine Meinung. Die Verführung und Schändung der deutschen Nation durch Hitler sei bereits durch die deutsche Geschichte und Kultur, durch die deutsche Romantik vorbereitet. „Heruntergekommen auf ein klägliches Massenniveau, das Niveau eines Hitler, brach der deutsche Romantizismus aus in hysterische Barbarei, in einen Rausch und Krampf von Überheblichkeit und Verbrechen, der nun in der nationalen Katastrophe, einem physischen und psychischen Kollaps ohnegleichen, sein schauerliches Ende findet.“ („Deutschland und die Deutschen“). Nun müssen auch wir Russen die russische klassische Kultur aufarbeiten und unsere Literatur durch das Prisma des Ukraine-Krieges mit offenen Augen neu lesen. Das wird eine wichtige Erfahrung sein, denn wir haben nie aus dieser Perspektive auf unsere Klassiker geblickt, nie die imperialistischen Untertöne ihrer großen Romane wahrgenommen. Wir haben uns durch die berüchtigte Kinderträne aus den Brüdern Karamasow verführen lassen und Dostojewskis fanatische Aufrufe zum orthodoxen Kreuzzug gegen den Westen, seinen Hass gegen alle nicht slavischen Völker und seinen besonderen Hass gegen die Slaven, die Russland „verraten“ haben, als etwas nicht Relevantes übersehen. Wir haben Tolstois naive Behauptungen nicht ernst genommen, die Wahrheit lebe in den Analphabeten, den russischen Bauern, und nicht in der Bildung und Kultur, den sozialen und technischen Errungenschaften der westlichen Zivilisation.
Und doch gibt es nichts, was der Barbarei entgegenzusetzen ist, als die Kultur. In seinem Roman Lotte in Weimar macht Thomas Mann Goethe zu seinem Avatar und spricht über das der Barbarei verfallene Volk: „Sie mögen mich nicht – recht so, ich mag sie auch nicht, so sind wir quitt. Ich hab mein Deutschtum für mich – mag sie mitsamt der boshaften Philisterei, die sie so nennen, der Teufel holen. Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins, und gings zu Grunde mit Stumpf und Stiel, es dauerte in mir.“ Deutschland ging zu Grunde vor den Augen des Schriftstellers, ruiniert von Hitler und seinem Krieg. Jetzt geht Russland vor unseren Augen unter. Damals ging es ums Überleben der deutschen Kultur, jetzt geht es ums Überleben der russischen.
Thomas Mann lässt Goethe sein Deutschtum definieren: „Deutschtum ist Freiheit, Bildung, Allseitigkeit und Liebe, – daß sies nicht wissen, ändert nichts daran. Tragödie zwischen mir und diesem Volk“. Aber das ist mein „Russischtum“ auch: Freiheit, Bildung, Allseitigkeit und Liebe, und das hat weder mit Deutschland noch mit Russland zu tun. Das ist unser gemeinsames Menschentum, welches sich
über das Nationale hinweg zur Weltkultur, zu unserem geistigen Zusammenleben auf der Erde entwickelt.
Aber sind Symphonien und Poeme die Antwort auf Bomben und Gefängnisse? Die Besten Bücher der Menschheit handeln nicht vom Hass, sondern von der Liebe. Steht die Kultur gegen die Barbarei auf verlorenem Posten? Für Thomas Mann ist die klare Antwort: Nein! Die Kultur, die Demokratie, die Zivilisation muss sich verteidigen können. „Europa wird nur sein, wenn der Humanismus seine Männlichkeit entdeckt, wenn er lernt, in Harnisch zu gehen, und nach der Erkenntnis handelt, daß die Freiheit kein Freibrief sein darf für diejenigen, die nach ihrer Vernichtung trachten.“ („Humaniora und Humanismus, 1936). Nur „militanter Humanismus“ kann die Weltkultur retten. Die Barbarei muss mit Gewalt im Krieg besiegt werden. Das ist vielleicht die wichtigste Lektion von Thomas Mann an uns Russen: Wenn man das eigene Land liebt, muss man ihm in seinem ungerechten Krieg eine vernichtende Niederlage wünschen.
Thomas Mann führte in den Radiosendungen „Deutsche Hörer!“ seinen persönlichen Kampf. In den ersten Ansprachen hegte er noch die Hoffnung, dass sein durch die Nazis verführtes Volk zur Besinnung kommt und sich gegen die Hitler-Diktatur erhebt. Der Schriftsteller war so naiv zu glauben, die Deutschen sehnten Hitlers Niederlage tatsächlich ebenso herbei wie er selbst. „Die Hölle, Deutsche, kam über euch, als diese Führer über euch kamen. Zur Hölle mit ihnen und all ihren Spießgesellen! Dann kann euch immer noch Rettung, kann euch Friede und Freiheit werden.“ (November 1941) Aber diese Hoffnung auf gesunde Kräfte in Deutschland schrumpfte schnell.
Angesichts von ungeheuren Verbrechen des Regimes und einer schweigenden Bevölkerung begann er, von deutscher Kollektivschuld zu reden.
„… Daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute. Das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: ‚Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung.‘“
Das böse Russland Putins, das ist das fehlgegangene gute Russland, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Wie lässt sich erklären, dass Millionen russischer Männer und Frauen die Verbrechen des eigenen Staates unterstützen und gehorsam in den Krieg ziehen, um die Ukrainer zu töten? Wo liegt hier die Grenze zwischen dem bösen russischen Staat und dem guten russischen Volk?
Wurde Thomas Mann von den deutschen Hörern überhaupt gehört? Oder waren seine Sendungen bloß verzweifelte Rufe ins Leere? Immer wieder sprach er über die Massenvernichtung der Juden überall dort, wo die Deutschen Fuß fassten – in Frankreich, Österreich, Polen. „Nach den Informationen der polnischen Exil-Regierung sind alles in allem bereits 700.000 Juden von der Gestapo ermordet oder zu Tode gequält worden […] Wißt ihr Deutschen das? Und wie findet ihr es?“ (27.09.1942) Die Antwort lautete 1945: „Wir haben nichts gewusst.“
Ich nehme an, Thomas Mann wurde während des Kriegs von den meisten im eigenen Land als Verräter wahrgenommen. Genauso wie die emigrierten russischen Autoren, die jetzt die Ukraine unterstützen. Alle im Internet publizierten Bücher und Artikel von mir und anderen regimekritischen Schriftstellern können die Massen in Russland nicht erreichen, die ihrem Führer in den Abgrund folgen. Hat Thomas Mann auch als „Vaterlandsverräter“ Morddrohungen von seinen Landsleuten bekommen?
Jahrelang hat er seine Radioansprachen gemacht, auch ohne zu wissen, ob jemand seine Stimme hört. Für «deutsche Hörer» waren seine Worte gefährliche Botschaften. Sogenannte Rundfunkverbrechen wurden streng geahndet und bestraft – sogar Todesstrafen wurden verhängt. Diese Ansprachen waren vor allem für ihn selbst überlebenswichtig. Sie waren sein Kampf gegen Hitler und für die deutsche Kultur, für die deutsche Sprache. „Überleben hieß: siegen. Ich hatte gekämpft und den Lästerern der Menschheit Hohn und Fluch geboten, indem ich lebte: also ist es, auch persönlich, ein Sieg“ („Entstehung des Doktor Faustus“ 1949). Er verteidigte sein Deutschland, sein Deutschtum der Freiheit, Bildung, Allseitigkeit und Liebe. Er gab uns ein Beispiel dafür, dass Schriftsteller den Kampf nicht aufgeben müssen, auch wenn sie von den Lesern abgeschnitten sind, vom eigenen Land verraten und
verleumdet werden. Jetzt müssen wir unsere russische Sprache gegen Putin und die Kriegsverbrecher verteidigen, wie Thomas Mann seine Sprache verteidigte. Fast im Alleingang, als „Vaterlandsverräter“ gegen das eigene Land, gegen das eigene Volk.
Am 28. März 1942 wurde Manns Vaterstadt Lübeck von den Alliierten angegriffen, als Vergeltung für die Vernichtung von Coventry. Hunderte starben im Feuer, auch sein Buddenbrook-Haus wurde zerstört. Die anschließenden Worte fielen ihm nicht leicht: „Ich denke an Coventry – und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muß“. Galt die Kollektivschuld auch für die getöteten deutschen Kinder? Mussten sie durch ihren Tod für den Tod der englischen Kinder bezahlen?
Mit Wut beschwört Thomas Mann die Bombardierung der deutschen Städte: „Zweitausend Lufthunnen täglich über diesen Lügensumpf, – es gibt nichts anderes. Diese unmäßige Niedertracht, dieser revoltierende, den Magen umkehrende Betrug, diese schmutzige Schändung des Wortes und der Idee, dies überdimensionierte Lustmördertum an der Wahrheit muss vernichtet, muss ausgelöscht werden um jeden Preis und mit allen Mitteln.“ (28. März 1944)
Meine ukrainischen Freunde sagen: „Wenn nach jeder Rakete, die auf Charkiv oder Kiev fällt, eine Rakete in Moskau oder Sankt-Petersburg explodiert, dann wird der Krieg schneller zu Ende gehen. Das ist der einzige Weg zum Frieden.“ Müssen jetzt russische Kinder durch ihren Tod für den Tod der ukrainischen Kinder bezahlen?
Thomas Mann gibt Antworten, aber es sind seine Antworten auf meine Fragen. Hat ein Emigrant weit weg vom Krieg überhaupt das moralische Recht, dem ganzen Volk Kollektivschuld zu geben? Sollen auch russische Städte „unter einem Regen aus Feuer und Schwefel“ untergehen, wenn das der Preis für den Frieden ist? Wenn man sagt, dass alles bezahlt werden muss, nimmt man in Kauf, dass die heute noch lachenden Kinder bald der Kollektivschuld zum Opfer fallen werden. Bin ich bereit, diese Verantwortung zu übernehmen?
„Es wird mehr Lübecker geben, mehr Hamburger, Kölner, Düsseldorfer, die dagegen auch nichts einzuwenden haben. Und wenn sie das Dröhnen der Royal Air Force über ihren Köpfen hören, ihr guten Erfolg wünschen.“ Werden meine Landsleute ukrainischen Raketen guten Erfolg wünschen können?
Thomas Mann hat an die Zukunft seines Landes geglaubt. „Die Gnade ist höher als jeder Blutsbrief. Ich glaube an sie, und ich glaube an Deutschlands Zukunft, wie verzweifelt auch immer seine Gegenwart sich ausnehmen, wie hoffnungslos die Zerstörung erscheinen möge. Man höre doch auf, vom Ende der deutschen Geschichte zu reden! Deutschland ist nicht identisch mit der kurzen und finsteren geschichtlichen Episode, die Hitlers Namen trägt.“ („Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe“) In der Zerstörung des Staates, der zum Instrument der Gewaltherrschaft wurde, sah Thomas Mann eine Chance: „Goethe ging, wenigstens in mündlicher Unterhaltung, so weit, die deutsche Diaspora herbeizuwünschen. ,Verpflanzt‘, sagte er, ,und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden!‘ Und er fügte hinzu: ,um die Masse des Guten, die in ihnen liegt, ganz und zum Heile der Nationen zu entwickeln.‘ Die Masse des Guten – sie ist da, und in der hergebrachten Form des nationalen Staates konnte sie sich nicht erfüllen.“ („Deutschland und die Deutschen“)
Thomas Mann konnte an eine demokratische Zukunft Deutschlands glauben, da diese Zukunft nach der Zerstörung des Nazi-Staates von den Alliierten gesichert wurde. Wie würde die deutsche Zukunft aussehen, wäre die Gestapo an der Macht geblieben? Wie soll die Zukunft meines Landes aussehen? Wer wird die demokratische Zukunft Russlands sichern? Wer wird die Entputinisierung durchführen? Der nächste Putin? Wer wird „Nürnberger Prozesse“ gegen die Kriegsverbrecher durchführen? Die Kriegsverbrecher selbst? Glaube ich an eine demokratische Zukunft Russlands?
Seine letzte Radioansprache am 10. Mai 1945 beendete Thomas Mann mit den Worten: „Ich sage, es ist trotz allem eine große Stunde: die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit.“ Wird diese große Stunde überhaupt kommen: die Rückkehr Russlands zur Menschlichkeit?