Kategorie: Rundbriefe

  • Rundbrief Nr. 27



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    meine am Ende des letzten Rundbriefs vorsichtig zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, die Zahlen mögen nach unten gehen, scheint sich nun tatsächlich zu erfüllen: Im Sommer und Herbst scheinen persönliche Treffen und Veranstaltungen wieder möglich zu werden. Mein Gedanke, auch Gesprächskreise oder vielleicht so etwas wie einen Stammtisch zu organisieren, wurde von Frau Klose in ihrem beigefügten Antwortbrief begrüßt. Schade, daß gerade sie einen so weiten Anfahrtsweg nach Bonn oder Köln hat. Ihre Briefe machen mir stets große Freude, sie ist in vielen Thomas-Mann-Themen wunderbar zuhause. So gebe ich jedenfalls die Bitte um Anregungen für eine Lokalität in die Runde, die sich für solche Treffen eignen würde. In Bonn käme das, vielen bekannte, Restaurant Delikart im Landesmuseum in Betracht, wenngleich dies eben ein ausgewiesenes Speiselokal ist und wir vielleicht nicht so gern gesehen sind, wenn wir stundenlang nur reden und trinken. Das Weingut Sülz ist etwas ab vom Schuß – aber wie gesagt, ich warte auf Vorschläge.

    Doch zunächst wollen wir unsere Veranstaltung im Woelfl-Haus ins Auge fassen. Das Plakat habe ich Ihnen mit dem letzten Rundbrief zukommen lassen. Die Konzertlesung „Adorno-Beethoven-Thomas Mann“ wird in Zusammenarbeit mir dem Woelfl-Haus und dem Richard Wagner Verband Bonn am 30. Juni 2021 um 19.00 Uhr im Woelfl-Haus stattfinden. Die Veranstaltung wird live gestreamt; ob und wenn ja wieviel Publikum im Saal sein kann, wird sich kurzfristig gemäß den geltenden Corona-Bestimmungen ent- scheiden. Um die Sache zu finanzieren benötigen wir in jedem Falle mehr zahlende Gäste, als das Woelfl-Haus im besten Falle aufnehmen könnte. Daher an dieser Stelle die Bitte, für dieses Streaming-Angebot (https://www.woelflhaus.de/events/adorno-beethoven- thomas-mann; https://dringeblieben.de/videos/adorno-beethoven-thomas-mann ) in Ihrem Be- kanntenkreis Werbung zu machen. Hier ein Ausblick auf das Programm:

    Es wurde von dem Musikphilosophen Michael Fürtjes gemeinsam mit dem Pianisten Kotaro Fukuma 2019 anläßlich des 50. Todestags von Adorno und im Blick auf das Beethoven-Jahr 2020 konzipiert. In Amorbach, dem beliebten Kindheitsort Adornos, kam es im November 2019 zu einer begeistert gefeierten Aufführung. Zwei Pressestimmen zu dieser Veranstaltung finden Sie im Anhang.

    Vor op. 111 von Beethoven kommen in unserem Programm 3 kleine Klavierstücke von Adorno und die Klaviersonate von dessen Kompositionslehrer Alban Berg zur Aufführung. Außerdem synchronisieren die Herren Fukuma und Fürtjes Klavierspiel und Lesung der im Roman geschilderten Sonaten-Passagen.

    Das Programm:

    Theodor W. Adorno (1903-1969) Drei Klavierstücke (1927-1945)

    1. Adagietto – Hommage á Bizet
    2. Die böhmischen Terzen
    3. Valsette

    Alban Berg (1885-1935) Klaviersonate op. 1

    Thomas Mann (1875-1955) Lesung aus dem Kapitel VIII des Romans  „Doktor Faustus“

    Ludwig van Beethoven (1770-1827) Klaviersonate Nr. 32 c-Moll op. 111

    So weit die Vorschau auf diesen sicher spannenden Abend. Wer keine technische Möglichkeit hat, an dieser Veranstaltung online teilzunehmen, aber dennoch dabei sein möchte, möge sich bei mir melden. Vielleicht kann ich mit Frau Dr. Haider-Dechant so etwas wie eine Warteliste für Präsenzgäste anlegen.

    Nun zu meinem wahrscheinlich letzten literarischen Exkurs im Rahmen des Rundbriefs, in der Hoffnung, daß sich die kommenden wieder stärker dem aktuellen Vereinsgeschehen widmen können. Um die Gemeinnützigkeit unseres Vereins zu belegen, werde ich die Rundbriefe des letzten Jahres in einer gedruckten Broschüre zusammenfassen. Wer Interesse an einem Exemplar hat, möge sich bei mir melden.

    Angeregt durch die Ausstellung: ‚Dichtung und Revolution – Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ernst Toller‘1, die 2018 in der Monacensia in München stattfand, bin ich seither dem sehr besonderen Verhältnis von Thomas Mann zu Ernst Toller nachgegangen. Ich bemühe mich nun, die Dinge chronologisch zu ordnen.

    Toller wird 1893 im heutigen Polen in eine jüdische Familie hineingeboren. Im Januar 2015 meldet er sich freiwillig an die Front und erlebt vor Verdun 13 Monate die Hölle.

    Körperlich und seelisch zerrüttet landet er im Sanatorium und versucht in expressionistischen Gedichten sein Kriegstrauma zu verarbeiten. 1917 beginnt er in München ein Studium der Literatur- und Staatswissenschaften. Der Anblick des Isenheimer Altars – damals noch im München – löst Albträume aus. Er lernt Rilke und auch Thomas Mann kennen, der an der Hochschule aus seinen Texten liest. Mit seinen ersten Gedichten wagt Toller einen Besuch beim berühmten Dichter. „…Er läßt sich die Manuskripte geben, er liest mit mir jede Zeile, lobt diese und sagt, warum die andere unzulänglich, bewundernswert ist seine Geduld, gemessen und väterlich sein Rat. Er behält sich einige Papiere, zwei Tage später schreibt er mir einen langen Brief, er hat nochmals geprüft und belehrt den jungen Menschen, der diese schöne Haltung nie vergißt.“2

    Er freundet sich mit dem um eine Generation älteren Kurt Eisner an; beide sind in ihrem Herzen Künstler und finden sich bei Kriegsende mitten in der Politik wieder. Die Ermordung Eisner spült Toller in die erste Front der Revolutionäre. Thomas Mann erwähnt ihn erstmals in seinem Tagebuch: Die Erlasse sind vom ehem. Studenten Toller aus Ostpreußen gezeichnet, der uns einmal Eier schickte. (9.4.1919) Die Gedichte sind vergessen, in Zeiten der Not sind Eier wichtiger.

    In dem beigefügten, längeren Text von Wolfgang Frühwald wird die Rolle Tollers in der Revolution im Detail geschildert. Das Kapitel im Ausstellungskatalog der Monacensia zu Ernst Toller ist vielsagend überschrieben mit ‚Armeeführer, der nicht schießen will‘.

    Jedenfalls hat der Spuk bald ein Ende, Toller flieht, wird gefaßt. Ihm droht die Exeku- tion. Viele wohlmeinende Stimmen bewahren ihn davor, auch Thomas Mann verwendet sich für ihn. ‚Ich stelle dem jungen Toller brieflich ein Zeugnis aus, das ihn vor weiteren Verhaftungen schützen soll‘ schreibt er am 3.6.2019 in sein Tagebuch.

    Im Gegensatz zu allem Putschisten von der rechten Seite müssen Toller und seine Kameraden ihre Strafen absitzen. Toller muß fünf Jahre in Festungshaft ertragen. Sein Leben hinter Gittern ist in Briefen gut dokumentiert. 2018 wurden die Briefe von Ernst Toller (1915-1939)3 vom Wallsteinverlag herausgegeben. Zwei Bände mit insgesamt 1.750 Seiten – eine Großleistung des Herausgeberteams, die aus aller Welt 1681 Briefe zusammentrugen und vorzüglich edierten. Tollers Umgang mit Sprache ist virtuos: Leidenschaftlich und zuweilen mit zu viel Pathos versehen sind seine politischen Briefe, wunderschön und fast gesanglich seine Liebesbotschaften und entschieden scharf, seine intellektuelle Überlegenheit ausnutzend, seine Briefe an die Obrigkeit, an den Gefängnisdirektor, den Zensor und andere. Er wußte von seinen Rechten, oft mußte er um sie kämpfen, häufig hat er sie nicht bekommen. 1922 versucht er, vorzeitig aus der Haft entlassen zu werden, wagt es, sich an Thomas Mann zu wenden, von dem er „… weiß, daß er mich nicht mit den Augen des Bürgers sieht, daß er, quand même, einer der seltenen »gentlemen« unter den Schriftstellern ist.“4 Thomas Mann reicht ein entsprechendes Schreiben beim Justizministerium ein, jedoch ohne Erfolg.

    Ernst Tollers ‚Schwalbenbuch‘5 ist der literarische Ertrag dieser harten Zeit: Pathetische Poesie der Hoffnung und der Verzweiflung geschrieben im Gefängnis und vor dem Git- terstäben die freundliche, freie und friedliche Natur, das Fürsorgliche dieser Tierchen, das Miteinander der Paare, das Kümmern um die Kleinen. Mit ihnen flogen Tollers Träume davon, ihnen taten die Wärter, die Menschen, Gewalt an, zerstörten die Nester, alles eine große Metapher auf das Leben und ein Selbstbild eines empfindsamen Herzens.

    Auf einem Kongress gegen koloniale Unterdrückung in Brüssel im Februar 1927 lernt Toller den Privatsekretär Mahatma Gandhis und späteren ersten Ministerpräsidenten von Indien Jawaharlal Nehru kennen. Die beiden blieben fortan in Kontakt.

    Im gleichen Jahr 1927, also drei Jahre, nachdem er aus der Festungshaft entlassen wurde, veröffentlicht er das Buch ‚Justiz-Erlebnisse‘, in dem er als mittlerweile sehr bekannter Theaterautor sich in der Öffentlichkeit für eine Amnestie der noch einsitzenden Kameraden aus Zeiten der Räterevolution einsetzt. Er bittet Thomas Mann, sich für dieses Buch zu verwenden. Was dieser mit einem offenen Brief im Berliner Tageblatt vom 31.7.1927 auch tut: „Sehr geehrter Herr Toller! Ihr Justizbuch ist gekommen und ich habe es mit furchtbarem Eindruck gelesen. […] Welch ein abscheulicher Mißbrauch zu Rachezwecken ist getrieben worden mit dem Begriff des Hochverrats, der praktikabel sein mag, in Tagen eines klaren, eindeutigen und legitimen Staatslebens, aber jeden Rechtssinn verliert in Zeiten wie 1919! Welch ein Unsinn, daß seit acht Jahren Menschen unter der Fuchtel von Zuchthauswärtern stöhnen und verkommen… […] Welch widerwärtiges, auf Eis Konservieren einer Rachesucht, die heute nicht einmal mehr lebendig empfunden werden kann! […]“6

    Nachdem Toller im April 1933 in Ascona bei Thomas Mann zu Gast war, spricht er im Mai auf dem PEN-Kongress in Ragusa. Die offiziellen deutschen Delegierten protestieren, bringen die gastgebenden Jugoslawen in eine schwierige Lage. Darüber berichtet er in einem Brief an Klaus Mann, den er für seinen Aufsatz gegen Gottfried Benn lobt. Darin auch erste Abreden zu ‚Eine Jugend in Deutschland‘, Tollers Autobiographie seiner jungen Jahre, die noch im gleiche Herbst bei Querido erscheinen sollte. (Der Querido-Verlag wurde als Verlag deutschsprachiger Autoren 1933 von Emanuel Querido gegründet – ein gleichnamiger holländischer Verlag bestand schon seit 1915. Er wurde geleitet von Fritz H. Landshoff und Alice van Nahuys, von Klaus Mann stets nach Kräften unterstützt. 1940, nach Einmarsch der Deutschen, wurde er zerschlagen. Emanuel Querido wurde 1943 im Vernichtungslager Sobibor ermordet.)

    In den 30er Jahren ging Ernst Toller völlig auf in seinem Kampf gegen Hitler. Allein auf das Wort setzend, Netzwerke knüpfend und Publikationen unterstützend, tat er alles, um den Nazis noch in den Arm zu fallen. In der von Klaus Mann in den Jahren 1934 und 1935 herausgegebenen literarischen Zeitschrift DIE SAMMLUNG7 finden sich einige Beiträge Tollers, poetische, erzählerische, essayistische – aber immer politische. Die Freundschaft zu Klaus Mann vertieft sich. Die Absolutheit ihres Kampfes bindet sie zusammen. In einem Brief vom 2.11.1934 zeigt er sich entzückt von Klaus Manns ‚Flucht in den Norden‘.8 Im gleichen Jahr 1934 sind sie gemeinsam auf Moskaureise. Klaus Mann erinnert sich in seinem ‚Turning-Point‘ (1942, Der Wendepunkt, 1952): „Ernst Toller, und dessen revolutionärem Pathos das emotionell-humanistische Element bestimmend war, neigte zu Abweichungen, die von den Strenggläubigen als ‚kleinbürger- lich-sentimental‘ gegeißelt wurden.“

    Toller konnte aber auch anstrengend sein. Klaus notiert am 22.1.1936 in Den Haag: „In Tollers „Briefen aus dem Gefängnis“ (Er hetzt dieses Thema – seine Gefangenenzeit – gar zu schamlos zu Ende, übrigens gibt es einige aufschlussreiche und einige rührende Stellen.)“ und am 26.10.1936 in New York: „Cocktail – Empfang … Toller spricht zu lang und zu pathetisch.“

    Im Wendepunkt wird Klaus Mann einige Jahre später notieren: „Ernst Toller kam – eine Persönlichkeit von sehr rührenden und liebenswürdigen Eigenschaften: hilfsbereit und kameradschaftlich bei aller Ich-Erfülltheit, aufrichtig bei aller Neigung zum Rhetorischen, dankbaren Herzens und oft heiteren Sinnes bei übrigens gefährlich sensitiver psychischer Disposition und einer ominösen Tendenz zum Manisch-Depressiven.“

    Im Jahr 1936 kommt es zu wiederholten Begegnungen Tollers mit Nehru. Dieser wurde in Indien Anfang der 30er Jahre mehrfach inhaftiert, lernte im Gefängnis die deutsche Sprache und las mit großer Begeisterung die Texte Tollers, gerade dessen ‚Jugend in Deutschland‘: Nehrus Frau ist 1936 schwer erkrankt, ein langer Sanatoriumsaufenthalt in Badenweiler kann sie nicht mehr retten. Zu dieser Zeit beginnt seine Tochter Indira in London ihr Studium und trifft dort mit dem Ehepaar Toller häufig zusammen. Toller hatte im Jahr zuvor Christiane Grautoff – die Tochter von Thomas Manns Schulfreund Otto Grautoff – geheiratet, die als Schauspielerin in London in Stücken ihres Mannes sehr erfolgreich auftritt. Zur Tochter Nehrus entwickelt sich ein freundschaftliches Verhältnis. In einem Brief von 1936 schreibt sie über Indira: „Sie kam mir wie eine Blume vor, die der Wind leicht wegblasen könnte; aber ich glaube, daß sie den Wind nicht fürchtet.“9 Welch richtige Einschätzung! Diese Briefe entnahm ich übrigens einem Bänd- chen, das sich seit vielen Jahren in meinem Bücherschrank versteckt: Jawaharlal Nehru – Ernst Toller: Dokumente einer Freundschaft 1927 -1939. Es ist 1989 in Halle und Leipzig im ‚Mitteldeutschen Verlag‘ erschienen und mit einem der letzten Vereinnah- mungs-Vorworte der DDR von längst verstorbenen Personen versehen. (Der Begriff ‚mitteldeutsch‘ überlebte nicht nur die DDR, nein, er lebt bis heute in der Verlags- und Rundfunkwelt, als würde es irgendwann wieder ein weiter östlich gelegenes Deutsch- land geben.)

    Am 28.12.1937 notiert Klaus Mann in Hollywood in sein Tagebuch: „Nach feinem Dinner in Gesellschaft: Rückweg mit Toller zu Fuß. Ziemlich bittere Gespräche über Hollywood“ Toller hatte im Februar 1937 einen lukrativen Einjahresvertrag als Drehbuchautor bei den MGM-Studios unterschrieben. Ab Juni 1937 bezieht er mit seiner Frau Christiane ein Haus in Santa Monica. Doch stellt sich bald heraus, daß er mit den Arbeitsmethoden der Filmindustrie nicht zurechtkommt. Schon am 6.3.1938 schreibt er an Klaus Mann: „Es ist ja seltsam, dass man in Städten, die einem zuwider sind, nicht einmal in der eigenen Klause ruhig und friedlich bleibt.“ Zu diesem Zeitpunkt ist er schon zurück in New York und bewohnt ein Zimmer im Mayflower Hotel, in dem er sich im Folgejahr das Leben nehmen sollte.

    Am 25.2.1939 notiert Klaus Mann in sein Tagebuch: „Toller. Abendessen mit ihm allein. … Ganz nett, wenngleich Toller sehr niedergeschlagen, auch finanziell bedrängt u.s.w.“

    Am 11. Mai 1939 sind sie gemeinsam bei einem politischen Kaffeekränzchen bei Mrs. Roosevelt, ihr Mann war unabkömmlich, mußte regieren – was Wunder in dieser Zeit.

    „…auf der Fahrt von New York nach Washington habe ich ihn im Pullmann-Wagen neben mir gehabt, wir verbrachten den Tag zusammen. Ein reicher, bunter Fest- und Reisetag. Toller, empfänglichen Herzens, dankbaren Gemüts, schien den Tag im Weißen Haus zu genießen. Ein paarmal klagte er freilich über Müdigkeit. „Wenn ich nur heute Nacht etwas schlafen könnte!“ Es war nur ein leiser Seufzer, nur für mich bestimmt, denn wir waren Freunde. … Es war unser letztes Beisammensein. Ein paar Tage später berichteten die Blätter, Ernst Toller habe sich in seinem New Yorker Hotelzimmer erhängt. Warum? Kein letzter Brief war da…“ Es folgt eine wehmütig-bewundernde Rückschau auf die Jahre ihrer Freundschaft, und dann: „Ich mußte an seinem Sarge sprechen. Er lag hinter mir, das Würgemal am Hals gnädig verdeckt. Ich wagte nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Ich hatte Angst. Ich schämte mich meiner Tränen. Wem galten sie! Doch nicht ihm, der endlich schlafen durfte.“ 10

    Neben allem dokumentarischen Wert dieser Aufzeichnungen sind sie in ihrer eindeutigen Vieldeutigkeit auch große Literatur. Klaus Mann schreibt, er ‚mußte… sprechen‘. Ja, Thomas Mann ist gebeten worden zu sprechen, aber kann auf die Schnelle nicht aus Kalifornien anreisen. Klaus trägt die Rede seines Vaters vor. In Thomas Manns Rede auf dem Schriftstellerkongress am 2. Juni 1939 in New York geht er dann allerdings ausgiebig auf Ernst Toller ein.11 Leider handelt es sich bei dem überlieferten Text um eine Rückübersetzung ins Deutsche, der Originaltext ist leider verloren, gleichwie – so nehme ich an – seine Grabrede für Toller, die Klaus am offenen Sarg halten mußte. Im Tenor wird diese ähnlich geklungen haben: Verständnis für die Verzweiflung, mahnen- der Aufruf zusammenzustehen und durchzuhalten.

    Um wieviel weniger dramatisch ist unsere Situation heute. Wir haben durchgehalten und ich hoffe, wir können am 30. Juni gemeinsam einen wunderschönen Abend erleben,

    herzlich Ihr Peter Baumgärtner


    1 Gleichnamiger Ausstellungskatalog von Laura Mokrohs, Regensburg 2018

    2 Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland; 1934; Hamburg 1963 / 1988. Seite 55

    3 Ernst Toller: Briefe 1915-1939; Göttingen 2018

    4 Briefe, Seite 257, Band 1, Brief 203 vom 17.März 1922

    5 Ernst Toller: Das Schwalbenbuch; 1923; Leipzig 1957 (Insel-Bücherei Nr.633)

    6 Briefe, Seite 655, Band 1, Brief 616 vom 26.Juli 1927, Anmerkungen

    7 Briefe, Seiten 960ff, Band 2, Brief 1017 vom 17.Juli 1933

    8 Klaus Mann: Flucht in den Norden; 1934; München 1977

    9 Jawaharlal Nehru – Ernst Toller: Dokumente einer Freundschaft 1927 -1939, Halle und Leipzig 1989. S.111

    10 Wendepunkt, Seite 392 ff

    11 Schriftsteller im Exil‘; in TM gesammelte Werke in Einzelbänden, (Frankfurter Ausgabe) ‚Rede und Antwort – über eigene Werke – Huldigungen und Kränze – über Freunde, Weggefährten und Zeitgenossen‘

  • Rundbrief Nr. 26 + Anlage Brief Klose 



    „Es ist nur, daß ich es nicht vergesse.“ So hemdsärmelig,

    liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    beginnt Thomas Manns Bericht „Pariser Rechenschaft“ aus dem Jahr 1926. Ich gestehe, daß ich diesen Text erst jetzt für mich entdeckt habe und denke, vielen von Ihnen ist er auch noch unbekannt. Er ist in verschiedenen Essay-Sammlungen enthalten. Ich konnte mir antiquarisch zum Taschenbuchpreis eine Originalausgabe des S.Fischer-Verlags besorgen. Ein broschiertes Heft von 120 Seiten, die der erste Besitzer noch selbst aufschneiden mußte. Besonders daran sind zudem die stets wechselnden, stichwortartigen Seitenüberschriften – ein Stilmittel, das bei den späteren Gesamtausgaben nicht übernommen wurde. Zum Inhaltlichen: Es ist ein launig, witziger und sehr ernster Reisebericht, der Bericht einer kulturellen Annährung. Thomas Mann genießt spürbar die Internationalität der Metropole, das Zusammentreffen mit Gelehrten aus aller Welt. In Frankreich hatte man wohlwollend die Wandlung Thomas Manns vom monarchistischen Kriegsbefürworter zum liberalen Demokraten zur Kenntnis genommen und ist sich einig, daß eine Einigung Europas das Gebot der Stunde ist. Thomas Mann erhält viel Applaus bei dem Satz: „Es werde das kein Ergebnis gereifter Sittlichkeit sein, sondern ein solches der primitiven Vernunft und der baren Notwendigkeit, da allzu offenbar geworden sei, daß Europa als Ganzes stehe oder falle:…“ Die Aktualität einer solchen Bemerkung muß ich nicht hervorheben, eher darauf hinweisen, daß dieser Text wundervolle Passagen der Schilderung der Pariser Lebensart enthält, die Thomas Mann mit allen Sinnen genießt und die eine fatale Reiselust erwecken. Neben vielem anderen erfährt man auch, wie weit er 1926 gedanklich schon bei den Josephsromanen vorangedrungen war – in Gesprächen ist von „Frau Potiphar“ und „Mut-em-enet“ die Rede… Es würde jedenfalls lohnen, sich mit dieser „Pariser Rechenschaft“ eingehender zu befassen. Es werden viele mir unbekannte Namen genannt und auf tagespolitische Ereignisse verwiesen, die mir nicht geläufig sind. Ich würde hier gerne nach dem Motto verfahren: Wenn du nicht mehr weißt, dann gründe einen Arbeitskreis. Wer hat Lust daran teilzunehmen? Wollen wir hoffen, daß es im Sommer möglich sein wird, sich in einem Gartenlokal darüber auszutauschen.

    Bleiben wir noch kurz im Jahre 1926: Ende Januar hatte die Paris-Reise stattgefunden und im Oktober ist er in Bonn und begleitet seinen Mentor Bernhard Litzmann in dessen Sterbestunde. Prof. Norbert Oellers hat in seinem Beitrag zu unserer Schriftenreihe schon auf die Spannungen hingewiesen, die damals zwischen den beiden herrschte.

    Litzmann hatte von seiner deutsch-nationalen Haltung nie abgelassen. Solche Friedensfahrten zum Erbfeind waren ihm sicher fremd. In der Grabrede Thomas Manns für Litzmann wird das Thema respektvoll ausgelassen. Er saß an dessen Krankenbett am Mittag vor seinem nächtlichen Sterben. Dieser war sich bereits sicher ‚überm Berg‘ zu sein und dennoch – oder gerade deshalb – bestand er darauf, mit Thomas Mann ein letztes Mal anzustoßen. Ein fast heiterer Abgang, ein Text, der mich tief beeindruckte.

    Thomas Mann spricht damals -1926- von seinen ‚wiederholten Besuchen in Bonn.‘ Wann fanden diese im Einzelnen statt? Hat er die Pietà Röttgen irgendwann tatsächlich gesehen? (Siehe hierzu Band 9 unserer Schriftenreihe von Eva de Vos.) Ich mag es kaum glauben, daß sich nicht in irgendwelchen Zeitungs- oder Museumsarchiven Belege für diese besagten Besuche finden lassen könnten. Auch Sie, liebe Ortsvereinsmitglieder, dürfen bei entsprechenden Stellen nachfragen.

    Es ist nur, daß ich es nicht vergesse: Auf meinen letzten Rundbrief bekam ich wieder einige sehr freundliche Antworten von Ihnen. Frau Klose hat sich vertiefend mit Siegfried Kracauer und Klaus Mann beschäftigt – Ihren Brief finden Sie im Anhang – und ein Mitglied, das nicht namentlich genannt werden möchte, schickte mir eine Glosse zu den gegenwärtigen politischen Diskussionen über Öffnungsstrategien, die in ihrer Absurdität und satirischem Wert alles überragt, was wir von jenen mimischen Mittelgewichten gerade zu sehen bekamen und sie verhöhnt insbesondere nicht jene, die von dieser schrecklichen Krankheit betroffen wurden. Er schrieb:

    Lieber Herr Baumgärtner,

    bonjour. Ich nehme an, daß die nächste Bundesregierung die Werktage um drei bis vier Stunden verlängert, nach verschiedenen Bedenken dann nur Mo. Mi. Do. und dafür samedimanche kürzt. Zur Eingewöhnung wird ein Ratgeber mit 25 Seiten an alle Haushalte verteilt. Eilverfahren wird das Verfassungsgericht nicht durchführen, bevor es sich selbst eingewöhnt hat. In den so neu gewonnenen Stunden bekommen zweimal Geimpfte ungeahnte Freiheiten und dürfen sich pro Tag eine Stunde in einer Imbißstube an einen Tisch setzen. Für diese neue Lizenz wird die Mehrwertsteuer auf 22% ange- hoben. Die Gründung neuer Parteien in Imbißstuben wird verboten, weil man sonst gar keine Regierung mehr zusammenkriegt…

    Ich mußte herzlich lachen und habe dem Verfasser applaudiert. Vielleicht tun Sie es mir nach – dann darf ich vielleicht im nächsten Rundbrief seinen Namen nennen.

    Zurück zu Thomas Mann und in die Mitter der zwanziger Jahre: Angeregt durch eine Sendung des Klassik-Forums auf WDR 3, in der der Lindenbaum von Schubert besprochen wurde, habe ich mir den Absatz ‚Fülle des Wohllauts‘ aus dem siebenten und letzten Kapitel des Zauberberg noch einmal vorgenommen, in dem das Ende des Romans anklingt: Der in die Schlacht ziehende Hans Castorp singt Verse dieses romantischen Lieds im Angesicht des Grauens vor sich hin. Bei aller Schönheit und Tröstlichkeit dieser wie von selbst sich mit der Melodie sich unterlegenden Zeilen, ist mir immer noch nicht klar, wie dieses Lied mit einer Todessehnsucht in Verbindung gebracht werden kann.

    Vielleicht können Sie mir dabei helfen. Ich blicke zunächst noch einmal zurück auf die ‚Fülle des Wohllauts‘: Im Berghof gibt es eine Neuerung: Ein Grammophon wurde angeschafft, kein „armseligen Kurbelkästchen“ sondern ein elektrisches mit dem „ausgepichtesten Raffinemang“, wie der Hofrat stolz verkündet, „Ia, ff, was Besseres gibt es nicht in dem Janger.“ Und ein ganzer Schrank voller Platten steht auch bereit, den der junge Castorp in einsamen Nächten für sich erkundet. Erstaunlich nun, welche Musikstücke Thomas Mann alias Hans Castorp uns ausführlich vorstellt. Da ist zunächst Verdis ‚Aida‘, die Geschichte der unerfüllten Liebe, die Castorp unausgesprochen von seiner Clawdia träumen läßt und bei der der Begriff ‚Todessehnsucht‘ sehr wohl angebracht ist. Sie endet mit dem gemeinsamen Sterben, was Thomas Mann eher nüchtern kommentiert:

    „…bis zwei Gerippe unterm Gewölbe lagerten, deren jedem es völlig gleichgültig und unempfindlich sein würde, ob es allein oder zu zweien lagerte.“ In der Oper jedoch träumen Aida und Radames unter „seligem Oktavenvorbehalt“ vom Himmel, was den Erzähler zu dem sarkastischen Schluß bringt: „Die tröstliche Kraft dieser Beschönigung tat dem Zuhörer außerordentlich wohl…“

    An einem anderen Abend findet Castorp bei Debussys ‚Nachmittag eines Fauns‘ zur inneren Ruhe, um sich später an Bizets ‚Carmen‘ zu ergötzen. Sämtlich Musikstücke, die nicht ‚schwitzen‘, um es mit Nietzsche zu sagen oder anders herum: Wagner wird nicht in aller Breite vorgestellt. Fast ist es mir, als hätte Thomas Mann mit solchen Passagen Friedenstäubchen zu seinem Bruder Heinrich abgeschickt.

    Dann folgt die Passage mit dem Lindenbaum, die, wie gesagt, in meinen Augen „etwas dunklerweise“ daherkommt. Das Lied wird als „bewunderungswürdiges Gleichnis für die Welt“ beschrieben, hinter welcher Castorp „seiner Gewissensahnung zufolge“ eine verbotene Liebe zum Tode spüren sollte. Settembrinis Gedankenwelt wird hinzubemüht, und schon sitzt Castorp „in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge…“ Thomas Mann nennt weder den Namen des Dichters des Lindenbaums und der Winterreise, noch die Namen des Komponisten des Kunstlieds oder des später daraus entstandenen Volkslieds. Und hier kommt die Klassik-Forum-Sendung ins Spiel, die Xaver Frühbeis in seiner unnachahmlichen Weise moderierte. Ich schrieb ihn über den Sender an und er war so freundlich, mir sein Manuskript zur Verfügung zu stellen. Er verschaffte mir einen erheblichen Erkenntnisgewinn – nicht über die Todessehnsucht Castorps, aber über den politischen Charakter von Lied, Dichter und Komponist. Doch lesen Sie den entsprechenden Ausschnitt seiner Moderation selbst:

    Verschlossen vor der Welt, ohne Haß, aber beladen mit Wehmut ist unser Sänger im nächsten Schubert-Lied unterwegs. Es ist eine kalte Winternacht, er blickt ein letztes Mal noch zurück, erinnert sich an die glücklichen Stunden, die er hier [unter dem Lindenbaum] verbracht hat, aber er muß weiter, weg von dort, obwohl oder grad: weil es so schön dort gewesen ist. Früher mal.

    „Der Lindenbaum“, das wohl berühmteste Lied aus Schuberts Liederzyklus „Winterreise“. Viele kennen das, auch wenn sie wenig mit klassischer Musik zu tun haben, aber: unter einem anderen Namen. „Am Brunnen vor dem Tore“, das ist die erste Textzeile, und „Der Lindenbaum“, das ist der Titel, den der Dichter Wilhelm Müller dem Gedicht gegeben hat.

    Das ist ein nicht unbekanntes Phänomen: daß die Leute, wenn so ein Lied bekannt und volkstümlich geworden ist, den Übertitel ignorieren, und das Lied wird unter seinem Textanfang bekannt. Beim „Lindenbaum“ ist das auch so, und: hier ist aber auch noch die Struktur des Lieds „Am Brunnen vor dem Tore“ eine ganz andere als die im Kunstlied von Schubert. Das merkt man aber erst, wenn man mal genauer anschaut, was Schubert in dem Lied eigentlich macht, und das dann mit dem Volkslied vergleicht.

    Sechs Strophen hat Müllers Gedicht, Schubert faßt sie zusammen zu drei Doppelstrophen, und vertont die auch ganz unterschiedlich. Je nachdem, was drin vorkommt. In der ersten, in Dur, bringt Schubert die bekannte Melodie. Der Wanderer steht vor dem Baum und erinnert sich an früher, an die schönen Träume in seinem Schatten und an die Liebesworte, die er in seine Rinde geschnitzt hat. Dann: die zweite Strophe dieselbe Melodie, aber eingetrübt nach Moll. Der Sänger weiß, hier kann er nicht bleiben, er muß fort, die sanft raschelnden Zweige der Linde versprechen ihm zwar Ruhe, aber: die ist trügerisch. Die dritte und letzte Strophe: bringt den dramatischen Höhepunkt, es blasen dem Sänger die kalten Winde ins Gesicht, Schubert läßt hier die bekannte Melodie weg und bringt stattdessen völlig andere, opernhaft aufwühlende Musik. Der Schluß des Lieds spielt Stunden später, die Dramatik ist weg, der Sänger ganz munter unterwegs, aber es wirkt ihn ihm noch immer die Linde als Versuchung nach. So richtig weitergekommen ist er also nicht, in seinen Gefühlen, und das zeigt uns Schubert in einem musikalischen Kreisschluß. Wir sind wieder am Anfang angelangt, in Dur und wieder mit unserer bekannten Melodie.

    Was Schubert hier gemacht hat, nennt man ein „variiertes Strophenlied“. Sowas ist zwar schön und kunstvoll, – ABER – hat sich der Liedertafelkomponist Friedrich Silcher gedacht – viel zu schwierig. Meine Männerchöre wollen es einfacher haben. Und so hat Silcher zwanzig Jahre nach Schubert den dramatischen Aufbau des originalen Lieds vereinfacht, er hat die Strophen-Melodien einander angeglichen, hat die Wendung ins Moll entfernt, den dramatischen Höhepunkt hat er auch weggelassen, und in dieser vereinfachten Form gilt seitdem „Am Brunnen vor dem Tore“ in aller Welt als ein typisches deutsches Volkslied.

    Man hat das Silcher in unseren Tagen durchaus vorgeworfen. Daß er aus einem Lied, in dem es „um Leben und Tod“ geht, eine „spießbürgerliche Kleinstadt-Idylle“ gemacht habe. Aber ich finde, da tut man Silcher unrecht damit. Kunstlied und Volkslied sind zwei paar Stiefel, und wenn man aus dem einen das andere machen will, dann muß man ein paar wichtige Dinge beiseiteschieben und das Ganze einfacher machen. Sonst haut das ja nicht hin, mit dem Volkslied.

    Wieso eigentlich soll es in dem Lied „um Leben und Tod“ gehen? Eine interessante Frage. Wir wollen uns mal anschauen, was der Text hier sagt, im „Lindenbaum“.

    Die Linde vor der Stadt, hinter dem Tor, am alten Brunnen, ist eine idyllische Szene aus alter Zeit. Eine Linde ist ein Versammlungsort gewesen für die Bewohner der Stadt, Treffpunkt für die Jugend und Ruhepunkt des Alters. Und: die Linde vor der Stadt war immer auch ein Ort, wo der mühsalgeplagte Fußwanderer von auswärts kommend Schatten finden und ausruhen kann, bevor er in die Stadt geht und seine Geschäfte treibt. Und um so eigenartiger ist es, daß der Winterwanderer bei Wilhelm Müller dieser Linde nicht traut. Lieber geht er weiter, der Wind bläst ihm ins Gesicht, der Hut fliegt ihm vom Kopf, aber das zieht er vor. Viele kluge Leute haben sich schon diese Frage gestellt. Wieso Müllers Wanderer diese Linde nicht mag. Und haben sich dabei vielerlei Antworten einfallen lassen.

    Am interessantesten finde ich, was dabei rauskommt, wenn man den sozialen Kontext mit einbezieht. Als Wilhelm Müller die „Winterreise“ gedichtet hat, war im habsburgischen Österreich eine Zeit des Rückschritts. Der ganze Mut zum Aufbruch aus der Enge der Aristokratie, die ganze Hoffnung auf freiere Zeiten für die Bürger war dahin. Die Politik hat auf dem Wiener Kongress die alten Verhältnisse wieder eingesetzt, und damit der Bürger nicht auf die Idee kam, da irgendwelche Dinge dagegen auszuhecken, hat der Fürst Metternich ein Polizei- und Spitzelsystem eingeführt. Die Leute sind überwacht worden, Treffen zu mehreren an öffentlichen Orten waren untersagt, Probeabende von Liedertafeln zum Beispiel mit mehr als vier Sängern waren verboten, deswegen sind auch die meisten von Schuberts Männerchören für eine kleine Besetzung. Und wie der Frühling und der Mai in der Literatur Symbole sind für den Aufbruch, so ist der Winter hier ein Symbol für soziale und politische Kälte. In so einer Gesellschaft will man nicht leben, wo es so zugeht, kann man sich nicht zuhause fühlen. Deswegen ist unser Mann hier auf Wanderschaft, und sucht Wärme und Identität in einem Land, das ihm das nicht mehr bieten kann. Und die gewohnte Ruhe, die der Lindenbaum ihm noch anbieten kann, die ist eine trügerisch gewordene Ruhe in einer kalten und mißtrauisch gewordenen Gesellschaft. Dieses Angebot kann der Wanderer nicht annehmen, lieber geht er weiter, in eine ungewisse Zukunft mit eisigen Gegenwinden, als sich mit den alten restaurativen Kräften gemein zu machen. Wilhelm Müllers Text ist ein fortschrittlich politischer, wenn auch zutiefst resignativer Text, und Franz Schuberts Lied ist ein fortschrittlich politisches Lied.

    So weit der Moderationstext von Xaver Frühbeis. Was wußte von alledem Thomas Mann? Wilhelm Müller war zu seiner Zeit ein sehr populärer Dichter. Drei Jahre älter als Schubert veröffentlichte er 1822 die Winterreise in der Zeitschrift ‚Urania‘, die daraufhin und dieses Gedichtzyklusses wegen verboten wurde. In Müllers Todesjahr 1827 schrieb Schubert seine Vertonung. Kaum denkbar, daß er nicht vom politischen Charakter der Texte wußte. Die Dramatik seiner Vertonung spricht dafür, die Harmlosigkeit von Silchers Fassung von der biedermeierlichen Restauration. In der weiteren Korrespondenz mit Herrn Frühbeis zeigte er sich überzeugt, daß die Müllerschen Leser und die Schubertschen Sänger und Zuhörer ganz selbstverständlich diese Botschaften zwischen den Zeilen verstehen konnten. Anders als wir heute. Dem schließe ich mich an. Zum Glück haben wir Zensur noch nicht leibhaftig erleben müssen. Thomas Mann kannte Sie und mir ist, als käme sie in allzu vielen Ländern wieder in Mode.

    So weit der heutige Rundbrief, aber: Es ist nur, daß ich es nicht vergesse: In den letzten Tagen wurden die Vorbereitungen für unsere Veranstaltung im und mit dem Woelfl- Haus vorangerieben, das Plakat bzw. der Online-Flyer hierfür fertig gestellt – sie finden es in der Anlage. In der Korrespondenz zwischen Frau Prof. Dr. Haider-Dechant und Herrn Dr. Fürtjes wurde mir deutlich, um welch außerordentlich begabten und aufstrebenden Musiker es sich bei Kataro Fukuma handelt, der im vergangenen Jahr aus bekanntem Grund kaum Einnahmen erzielen konnte. Auch der Auftritt bei unseren Kollegen vom Ortsverein Hamburg mußte abgesagt werden. Im Woelfl-Haus hat man sich inzwischen eine für Bonn einzigartige Mikrophon- und Kameratechnik angeschafft, deren „geströmte“ Übertragungsqualität sich von gewöhnlichen Fernsehübertragungen nicht mehr unterscheidet. Bitte merken Sie sich den Termin vor. Vielleicht können Ende Juni auch einige Zuschauer vor Ort zugelassen werden. Die Veranstaltung ist kostspielig. Unser Ortsverein wird sie mit 500.- Euro unterstützen, Hamburg steuert 250.- Euro bei. Sollten über das vereinbarte, bescheidene Honorar von Herrn Fukuma noch weitere Überschüsse erzielt werden, so sollen diese dem jungen Künstler zur Verfügung gestellt werden.

    Nun aber: Auf in den Mai und herunter mit den Zahlen, die wir täglich verfolgen, herzlich Ihr Peter Baumgärtner

    Anlage Brief Klose

    Lieber Herr Baumgärtner, vielen Dank für die beiden Rundbriefe, mit denen Sie zu einem literarischen Spaziergang einladen.

    Zu „Treffpunkt im Unendlichen“ habe ich mich an etwas erinnert.

    Das Bild auf dem Umschlag meiner Spangenberg-Ausgabe aus 1992 mit einem Nachwort von Fredric Kroll, datiert November 1991, ist im Motiv angelehnt an ein Cover zu Ralph Benatzkys Revue „Für Dich“. Zitat der Bildunterschrift: „Das Bild zeigt das Titelbild des 1925 erschienenen Revue-Librettos mit der Klavierbearbeitung.“ Es ist mit der Karikatur einer Frau mit großem Herzen in schönen überwiegend lindgrün-blauen Pastelltönen gehalten, was an sich ja schon Freude vermittelt, während der Romaneinband zwar auch die Frau mit dem roten Herzen, das schon unter ihren Hals gerutscht ist, zeigt, jedoch die dunkleren Farben schwarz-rot-gold überwiegen, dazu das Hakenkreuz …… Ein Kommentar ist wohl nicht nötig.

    „Treffpunkt im Unendlichen“ hat mich an einen Roman von F. Scott Fitzgerald erinnert – „Die Schönen und Verdammten“. Auch dieser Roman, wenn auch früher erschienen, handelt ja von jungen reichen Leuten, die das Leben genießen. Wie kein anderer hat Fitzgerald das Lebensgefühl dieser Gesellschaftsschicht der „roaring twenties“ in den USA beschrieben, es ist ja praktisch seine und Zeldas Autobiographie, sie verkörperten das jazz-age wie kaum andere.

    Natürlich unterscheiden sich die Lebenswege der beiden Autoren voneinander und damit auch die jeweilige Schreibweise der Romane (wie auch bei Anthony Powell, der als ehemaliger Etonianer das Leben dieser Gesellschaftsklasse kannte). Sie wussten, wovon sie schrieben. „Die Schönen und die Verdammten“ sind für mich schwungvoller und flüssiger zu lesen als „Treffpunkt im Unendlichen“, was sich etwas langsam dahinzieht. Zitat aus dem Nachwort von Fredric Kroll: „Klaus Mann will durch die Form des Romans dem Leser eine Veranschaulichung der „mystischen Einheit“ allen Seins vermitteln. Die ethische Aussage wohnt der Form inne. Der Roman, der über die in der Handlung geschilderten Grenzen von Raum und Zeit hinausdrängt, bildet die neue Unendlichkeit, in der die Figuren sich treffen können, trotz einer Handlung, die sie sogar im Tode trennt.“ Es ist ein Roman des Nebeneinanders. Klaus Mann übte Jahre später ja Selbstkritik am literarischen Wert seines Buches, zu schnell geschrieben, ohne Dichte. Wenn man allerdings im Nachhinein sein Leben, die politischen Verhältnisse, das Exil etc. betrachtet, so bleibt – Zitat „Treffpunkt im Unendlichen“ als beredtes Zeugnis von Klaus Manns psychologischem und dichterischen Können“.

    Während Golo Mann von dem Roman begeistert war, hatte Siegfried Kracauer harsche Kritik geübt. Ob nun ein literarisches Werk gefällt oder nicht, ist ja wohl auch Geschmackssache der Leserschaft, und das sagt ja nicht unbedingt etwas über die literarische Qualität.

    Zu Kracauers „Ginster“ habe ich einen Artikel aus dem Feuilleton der FAZ vom 21. Januar 2021 (Nr. 17 Seite 13) mit der Überschrift: „Dass Sie lachen mussten, bestätigt doch auch meine Kunst“ – Wie Siegfried Kracauer der Kritik einer Buchhändlerin begegnete, die ihm als Vorbild für eine Romanfigur bedient hatte. – Es geht um die Figur der Elfriede, die bisher nur als literarische Fiktion gesehen worden war.

    Aus einem bisher unbekannten Brief Kracauers geht hervor, dass es sich um eine reale Person gehandelt hat. Kracauer hatte während seiner Osnabrücker Zeit beim Stadtbauamt eine junge Buchhändlerin mit Namen Friedel Hanckel, geb. Wulff, kennengelernt. Sie stammte aus einer Osnabrücker Familie und war mit dem Berliner Buchhändler Bruno Hanckel verheiratet. Die beiden hatten in der Osnabrücker Krahnstrasse eine Buchhandlung gegründet, wo Kracauer die junge Frau wohl kennengelernt hatte. Er hatte ihr ein Gedicht „Über die Freundschaft“ mit Datum 5. Juni 1918 gewidmet, ihr Geburtstag war am 6. Juni.

    Zurück in Frankfurt in 1921 arbeitete Kracauer bis zu seiner Emigration als leitender Redakteur des Feuilletons der „Frankfurter Zeitung“ und hatte wohl keine Verbindung mehr nach Osnabrück – jedenfalls ist keine Korrespondenz erhalten.

    Als Buchhändlerin hatte Frau Hanckel „Ginster“ nach Erscheinen gelesen, sich in der Figur der Elfriede wiedererkannt und in einem wohl verloren gegangenen Brief an Kracauer kritische Worte bezüglich ihrer Charakterisierung geäußert. Kracauer hatte, wie er ihr schrieb, sie nicht über das Erscheinen des Buches informiert, aus Angst vor ihrer vielleicht nicht wohlwollenden Reaktion darauf. Das Buch war von der Kritik auch alles andere als wohlwollend aufgenommen worden. Einzig sein Freund Joseph Roth zeigte sich begeistert, seine Rezession hatte Kracauer ihr mit dem Brief zugesandt. Er betont weiter, dass die Figur Elfriede fiktional sei und er damit nur Osnabrücker Erinnerungen verbinde.

    Erst über 40 Jahre später, als Kracauer noch im New Yorker Exil lebte, hatte er nochmals brieflich Verbindung mit Frau Hanckel. In einem Brief vom 7. April 1965 an Frau Hanckel wirbt er bei ihr ein letztes Mal um Verständnis für seine Elfriede. Friedel Hanckel solle ihm – Zitat -„nicht boeser sein, als es unbedingt notwendig ist“.

    Zu Siegfried Kracauer bin ich noch über einen Artikel in der FAZ Literatur vom 8. April 2021 auf ein neues Buch von Dorothee Kimmich aufmerksam geworden: „Leeres Land – Niemandsländer in der Literatur“. Kimmich behandelt darin Orte der Literatur, die real sind oder waren und nicht unbedingt als „Niemandsland“ in das Bewusstsein der Leserschaft eingehen. So zum Beispiel bei Kracauers Essay über die Berliner Lindenpassage, die nicht mehr existierte, als Kracauer im Dezember 1930 darüber in der „Frankfurter Zeitung“ schrieb.

    Kimmichs Untersuchung verweist auf den Vorrang des Objekts. Zitat: „Als das eigentliche Sujet der Niemandslandstexte – so Kimmich – könne man „die Erfahrungen bezeichnen, die die Niemande im Niemandsland machen: Die Entkoppelung von Eigen und Eigentum gehört ebenso dazu wie eine erstaunliche Beglückung durch Entfremdung…““.

    Frau Kimmich behandelt in dem Buch noch weitere Niemandsländer, so zum Beispiel die von Theodor Storm, Gottfried Keller, Goethes Faust, Adalbert Stifter. – Aber diese Lektüre um Kracauer herum habe ich noch vor mir. Dazu möchte ich noch auf Frau Kimmichs kleines Büchlein aus 2011 „Lebendige Dinge in der Moderne“ hinweisen, das auch schon einen Text zu Siegfried Kracauer „Überleben im Niemandsland der Dinge“ enthält.

    So haben wir sicher noch eine Reihe von Spaziergängen durch die Literatur vor uns. Wie ich wieder einmal festgestellt habe, zieht auch hier ein Buch andere nach. Ausgehend von einem Schriftsteller kommt man zum nächsten …

    Ich freue mich schon darauf, was Sie, lieber Herr Baumgärtner, als nächstes ansprechen. Mit freundlichen Grüßen aus Duisburg

    Ellen Klose

  • Rundbrief Nr. 25



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    „Das Vaterland kann man verlieren, aber die Muttersprache ist der unverlierbare Besitz, die Heimat der Heimatlosen.“ Von diesem Satz Klaus Manns – aus: Das Sprachproblem von 1947 – war ich seltsam ergriffen. Er denkt darin nach über sein erzwungenes Schreiben in einer fremden Sprache. Ich mußte an unseren gegenwärtigen kulturellen Heimatverlust denken, an unseren Verlust persönlicher Begegnungen, des gemeinsamen Erlebens von Kultur, in der Oper, Konzerthäusern, Theatern, Museen, Kinos und in unserem Falle eben von Lesungen, von Gesprächen über Literatur. Was uns bleibt, ist die Sprache an sich, die Texte, unsere Bücher, mit denen wir noch einige Zeit einsam in unserem häuslichen Exil verbringen müssen.

    Auf meinen letzten Rundbrief erhielt ich vielerlei Zustimmung zu meinen Äußerungen zu den Übersetzungsfragen festgemacht an dem Gedicht von Amanda Gorman, aber ich erhielt auch einen recht entrüsteten Brief über meine Äußerungen zur gendergerechten Sprache und den diversen sexuellen Identitäten. Mein Ausdruck ‚sprachliche Umerziehung‘ sei sehr polemisch gewesen, was ich in einem Antwortbrief auch einräumte, dies aber eben meinem persönlichen Empfinden entsprechen würde. Dann wurde moniert, daß meine Ausdrucksweise „gespiegelte und verdrehte sexuelle Identitäten“ bei Transmenschen übel aufstoßen würde. Darauf konnte ich nur antworten, daß in meinen Ohren der Begriff „Transmensch“ ganz fürchterlich klingt, bezeichnet er doch eher einen technisch-medizinischen Vorgang als die Sehnsucht und Neigung eines Menschen. Einig waren wir uns schnell, daß in einer Thomas-Mann-Gesellschaft jegliche Vorbehalte gegen jedwede sexuellen Neigungen keinen Platz haben und daß gerade in einer literarischen Gesellschaft Diskussionen über sprachliche Konventionen und Empfindlichkeiten sehr wohl ihren Platz haben.

    Zu dem Buch ‚Prag empfing uns als Verwandte – Die Familie Mann und die Tschechen‘ hat sich ein interessanter Dialog entwickelt zwischen dem Autor Peter Lange und unserem Mitglied Ellen Klose aus Duisburg, über den zu berichten sein wird, wenn wir in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft Herrn Lange in Bonn begrüßen dürfen. Und auch bei Herrn Jens-Peter Otto kamen wieder vielfältiger Erinnerungen an die Fahrten mit Golo Mann auf und an seine vielen Begegnungen in Kilchberg, mit Katia, Erika und vielen anderen mehr. Auch hier gilt die oben genannte Hoffnung, bald in einer öffentlichen Veranstaltung darüber berichten zu können.

    Doch nun zur Fortsetzung meines Spaziergangs durch die Literatur im Umfeld Thomas Manns Ende der 20er Jahre. Dabei stieß ich auf meine frühere Beschäftigung mit Klaus Manns ‚Treffpunkt im Unendlichen‘, erschienen 1932. Der Roman schildert das Leben junger, wohlhabender Leute, die in der bürgerlichen Welt nicht mehr zuhause sind.

    Verschiedene Handlungsstränge werden parallel erzählt, spielen in Berlin und Paris, in Nizza und in München. Die erzählerische Form, der sprunghafte Wechsel von Zeit, Ort und Personen entspricht dem Dargestellten, dem Reigen, in dem diese jungen Menschen umeinander tanzen, sich trösten und sich verletzen. Das Leben bleibt ohne Ziel und Richtung, in filmischer Schnitttechnik beleuchtet Mann Augenblicke: Da liest eine Frau in der Zeitung von Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl in den USA, während deren Freundin daneben von einem sportlichen Masseur, der über den Körperkult schwafelt, durchgewalkt wird; ein Zimmer weiter setzen sich zwei Freundinnen die Spritze und träumen vom großen Glück und auf der Straße ziehen grölend die Braunhemden mit den roten Fahnen vorbei, und im fernen Nizza nimmt sich ein junger Homosexueller das Leben, weil er keine Aussicht sieht, je sein Glück zu finden.

    Klaus Mann wußte, wovon er schreibt. Viele aus seinem Umkreis fühlten sich karikiert, bloßgestellt, protestierten bei Klaus lauthals, nachdem das Buch erschienen war. Doch das Bloßstellen war nie seine Absicht. Er beschrieb in all seinen Figuren letztendlich sich selbst, seine eigene Ausweglosigkeit. Seine Art zu schreiben wurde erst dreißig Jahre später wieder entdeckt. Doch da war sein Licht längst erloschen.

    Dies ist kein reifes Werk, sprachlich hätte er noch vieles feilen können, herbste Kritik mußte er dafür einstecken. So auch von Siegfried Kracauer, der am 1. Mai 1932 in der Frankfurter Zeitung das Buch eine „wendige Schmiererei“ nannte und „einfach zum Kotzen“ sei. „Klaus Mann mit seinem Schreibtalent schreibt das schmierige Leben einfach ab, ohne ihm irgendeine Bedeutung zu entnehmen, …“ Klaus Mann, verletzt, notiert in sein Tagebuch: „Kracauers bitterböser Aufsatz in der Frankfurter. Schon gescheit – aber dann hat man doch wieder gar nichts davon, weil zu voreingenommen, neidisch und essentiell […] böse ist. […] Kann mir trotzdem manches merken.“ Meinte er, wenn er den Sohn schlug, eigentlich den Vater? Ein Jahr zuvor schon, im Mai 1927, hatte Kracauer sich diesen vorgenommen:

    „Der Dichter Thomas Mann verdient vor Thomas Mann, dem praeceptor Germaniae, in Schutz genommen zu werden; vor dem Praezeptor das Massenhafte der Demokratie. Es muß gesagt sein: das sonderbare Liebeswerben des großen bürgerlichen Prosaisten um die Demokratie, oder was er so nennt, ist ein Schauspiel unerquicklicher Art. Sein Instinkt ist über der Anstrengung unsicher geworden, sein Urteil hat sich verwirrt, seine Ironie sich vollends ins Grundlose verlaufen. Das Bild des Dichters erhielte sich reiner, wenn der demokratische Präzeptor sich weniger bemühte.“

    Wer war dieser Siegfried Kracauer? Woher rührt diese Schroffheit? Kracauer wurde 1889 in Frankfurt geboren, studierte auf Wunsch der Eltern Architektur, war wie Thomas Mann beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs begeistert, bevor er nach dem Kriege die Architektur hinter sich ließ. Er verfolgte in Frankfurt die Gründung des ‚Instituts für Sozialforschung‘ und lernte dabei Erich Fromm, Max Horkheimer und auch den jungen Theodor Wiesengrund Adorno kennen, im Freien Jüdischen Lehrhaus machte er die Bekanntschaft mit Martin Buber und Franz Rosenzweig. 1921 trat er als Lokalreporter bei der Frankfurter Zeitung ein, 1922 wechselte er ins Feuilleton, als dessen Chef er 1930 nach Berlin ging. Er bewegte sich also im Fokus linksliberaler Kreise der Weimarer Republik. Ob Thomas Mann dessen ersten Roman ‚Ginster‘ (erschienen 1928) nach dem obigen Zitat in die Hand genommen hat, halte ich für fraglich – sein Vergnügen daran hätte er gehabt. Das Buch trägt starke autobiographische Züge, wenngleich er seinen Protagonisten Ginster zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu einem entschiedenen Drückeberger macht, der sehr an Felix Krull erinnert. Im Gegensatz zu Thomas Mann ist der Duktus von Kracauers Sprache wissenschaftlich knapp und präzise und entwickelt gerade dadurch eine poetische Kraft. Ginster arbeitete während des Krieges noch als Architekt und hat als solcher den Auftrag, einen Soldatenfriedhof zu planen:

    Ihre Angehörigen wollten sie wieder haben; wenn nicht lebendig, so doch die Leichen. Auch mußten sich die Soldaten selbst in schönen Gräbern wohler fühlen als draußen. Manche von ihnen waren zu Lebzeiten mit Frau und Kindern in einem Loch unterge- bracht gewesen, nun sollten sie wenigstens im Tod besser einquartiert werden.“ Neben einem solch ätzenden Sarkasmus versteht sich Kracauer auch in feiner und wunder- schön böswilliger Ironie. Ginster wird nach dem Kriege Lokalreporter und hat es als solcher mit den lokalen Größen zu tun: „Wenzel hatte einen Bauch in mittleren Jahren und beaufsichtigte die städtische Kanalisation. Das Wasser lief offenbar von selbst ab, denn er fand sich immer wieder in Ginsters Büro zu stundenlangen Besuchen ein.“

    Kracauers literarisches Schaffen ging fließend in seine wissenschaftliche Arbeit über. So erschien 1930: ‚Die Angestellten – Aus dem neuesten Deutschland‘. Unmittelbar vor der Weltwirtschaftskrise betrachtet Kracauer kritisch die Heilsversprechen der kapitalistischen Wirtschaft, der beginnenden Rationalisierung in allen Bereichen. Das Buch gilt als Keimzelle der Sozialforschung. (Meine Ausgabe von 1959 ist bei Allensbach erschienen als Band 1 der ‚Klassiker der Umfrage-Forschung‘.) Das Buch ist weiß Gott nicht in einem trockenen Soziologenton geschrieben, sondern eher wie eine Reportage mit jeweils sich anschließenden analytischen Betrachtungen. Kapitelüberschriften wie ‚Kurze Lüftungspause‘, ‚Kleines Herbarium‘ oder ‚Zwanglos mit Niveau‘ sprechen für sich.

    Beobachtungen und Begegnungen bilden stets die Grundlage für seine weiterführenden Gedanken. Das klingt nicht selten sehr humorvoll. Ein Beispiel: „Eine junge Verkäuferin hat mir von ihrer Freundschaft mit einem tüchtigen Metallarbeiter erzählt, der auf Drängen ihres Vaters den Beruf gewechselt habe. Der Vater ist nichts geringeres als ein Justizwachtmeister und duldet daher keinen Arbeiter in der Familie. Nun muß sich der Erwählte mit dem subalternen Posten eines Kassenboten begnügen, ist aber dafür zum Bräutigam avanciert.“

    1933 wird Kracauer wie vielen anderen auch die Existenzgrundlage entzogen. Er flieht mit seiner Frau nach Paris, wo er als Journalist nach Publikationsmöglichkeiten sucht, insbesondere in deutschsprachigen Schweizer Zeitungen. Dort wird sein Schaffen von den Manns verfolgt. Klaus Mann, der in Zürich häufig mit Ernst Bloch zusammenkommt, notiert am 21.9.33 in sein Tagebuch: „Im »Odeon«: Bloch (z.B. über Kracauer, dem es elend gehen soll; Grenzen der Rachsucht.) “ Die Milde von Klaus Mann beeindruckt mich immer wieder, wahrscheinlich sein zentrales Problem in den rauen Zeitläuften, in denen er leben mußte.

    Kracauer unternimmt in Paris einen zweiten Versuch eines literarisch-soziologischen Romans. 1937 erscheint bei Lange in Amsterdam: ‚Pariser Leben – Jaques Offenbach und seine Zeit‘. ‚Eine Gesellschaftsbiographie‘ lautet ein weiterer Untertitel und beleuchtet damit die Zwitterhaftigkeit des Dargestellten, den ständigen Wechsel der Brennweiten, der Fokussierung auf die Figur Offenbachs auf der einen Seite, und auf der anderen die Weitung des Blicks auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung insbesondere in Frankreich. Man bedenke: Kracauer schrieb dieses Buch im Pariser Exil über einen anderen deutschen Juden, der 100 Jahre vor ihm in diese Stadt kam und die Welt der Musik revolutionierte. Mit keinem Wort erwähnt Kracauer seine eigene Gegenwart – und dennoch ist diese von der ersten bis zur letzten Seite präsent. Er feiert Offenbachs Weltläufigkeit, dessen Freiheit, Frivolität und Zugewandtheit an die Menschen, und damit eben das Gegenteil seiner deutschen Gegenwart. Wenn seine wenigen Leser 1937 vom Aufstieg Napoleons III. erfuhren: „Eine Nation, die voller Aktivität unpolitischen Zielen nachjagt, das war die Voraussetzung einer stabilen Diktatur.“ – dann wußten sie, was auch gemeint war – und wir sollten heute nicht überheblich darüber hinweglesen. Dies gilt für viele andere Sätze auch: „Die Operette konnte entstehen, weil die Gesellschaft, in der sie entstand, operettenhaft war. – Bedingt wurde der Operettencharakter dieser Gesellschaft aber dadurch, daß sie sich gegen die Wirklichkeit verstockte, statt sich nüchtern mit ihr auseinanderzusetzen.“ Offenbachs Antipode war natürlich Wag- ner: „Gelehrt und langweilig zu sein, ist nicht gleichbedeutend mit Kunst; mehr wiegt, pikant und melodienreich zu sein…“

    Nun habe ich einen Roman Kracauers übersprungen: ‚Georg‘. Er hatte ihn bereits Ende 1932 fertig gestellt, erschien aber erst posthum 1973. Wie ‚Ginster‘ ist er stark autobiografisch geprägt und quasi die Fortsetzung des ersteren. Er spielt Anfang der zwanziger Jahre vor dem Hintergrund der galoppierenden Inflation. Der Lokalreporter Georg faßt Fuß in einer Zeitungsredaktion, wird stadtbekannt durch seine Rezensionen aus dem Kulturleben, findet dadurch Zugang in die Gesellschaft des wohlhabenden Bildungsbürgertums, wenngleich sein Herz für die Linke schlägt. In Kreisen der radikalen Kommunisten wird er allerdings mit Argwohn beäugt, sein Denken in Bezug auf ein freies Künstlertum paßt nicht in die Schemen der marxistischen Dogmen. Dies ist ein Erzählstrang des Romans. Er dient auch als Hintergrund für ein Gesellschaftsbild dieser Zeit. Der Reporter Georg durchmißt alle Gesellschaftsschichten, mit seinen Augen entwickelt Kracauer so etwas wie eine erzählerische Soziologie, die wieder sehr humorvoll daherkommt. „(…) da Frau Heinisch bei jeder Gelegenheit stolz versicherte, daß sie Willi im Interesse des Weltfriedens nicht mit Bleisoldaten zu spielen erlaube, hatte er sich den Jungen immer als ein besonders inniges Musterbübchen vorgestellt. Statt dessen entpuppte sich Willi als ein rötlicher, fetter Brocken, der so wenig an die Verwirklichung des Weltfriedens dachte, daß er seine Fäuste drohend gegen die Mutter erhob.“ Und Kracauer getraut sich sprachlich einen kräftigen Pinselstrich: „Der Sprecher war ein schwarzhaariger junger Mann, dessen goldenes Pincenez vor Selbstzufriedenheit laut funkelte. Außerdem hatte er beständig ein öliges Lächeln auf den Lippen, mit dem er sicher seine Gescheitheit einfettete.“ Die in den zwanziger Jahren um sich greifende Sportbegeisterung beobachtet er mit skeptischen Blicken: „Wozu sie eigentlich die viele Gesundheit benutzen wollten, war nicht zu ermitteln.“

    Der andere Erzählstrang beschreibt seine Liebe zu dem um zehn Jahre jüngeren, hübschen und wohlhabenden Fred. Dieser gleichgeschlechtliche Liebesreigen wird mit großer Deutlichkeit und ebensolcher Zartheit geschildert. Zu meiner Überraschung fand ich im Netz, im ‚Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg‘, die Schilderung der Annäherung von Siegfried Kracauer an Thomas Mann. 1934 wandte er sich nach Küssnacht, um um Unterstützung bei der Suche nach einem Verlag für ‚Georg‘ zu bitten.

    Mann sei darob „etwas verdutzt“ gewesen, denn „in Friedenszeiten“ habe er für ihn „nie viel übrig gehabt, was sehr milde gesagt ist.“ Dennoch läßt er sich das Manuskript zukommen und lobt den Roman in höchsten Tönen:

    „Die hohen literarischen Eigenschaften Ihres großen Gesellschaftsbildes haben ihren Eindruck auf mich nicht verfehlt, und das Problem des Buches, ich meine sein Schicksal, beschäftigt mich angelegentlich. Ich habe in diesen Tagen der Lektüre seine geschmeidige Stilistik, seinen Geist, die schmerzliche Schärfe seiner Beobachtung zu sehr schätzen und ehren gelernt, als daß ich seine baldige Veröffentlichung nicht mit Ihnen wünschen müßte, (…).“

    In diesem respektvollen Ton beginnt ein Briefwechsel, von dem 16 Schreiben überliefert sind. In Amerika unterstützt Mann Kracauer noch bei der Bewerbung um ein Stipendium, was dessen Arbeit zur Geschichte des Stummfilms wesentlich befördert. Zum siebzigsten Geburtstag von Thomas Mann schreibt Kracauer:

    Ihre historische Größe scheint mir darin zu liegen, dass es Ihnen gelungen ist, jene unendlichen Hemmungen und Widerstände zu überwinden, die den Deutschen immer wieder daran verhinderten, der Realität ins Auge zu sehen, an die Gesellschaft zu denken, in der er lebt, und der Vernunft das zu geben, was ihr gehört, ohne darum an echter Tiefe zu verlieren. Viele Deutsche vor Ihnen, die groß heißen und wohl auch sind, folgten dem übermächtigen romantischen Zug und versanken in einer gleißnerischen Tiefe je älter sie wurden. Sie sind den umgekehrten Weg gegangen, den, der an die Oberfläche, ans nüchterne Tageslicht führt, und haben dabei unter schweren Mühen versucht, das von der Fracht zu retten, was wirklich kostbar ist und nicht nur Ballast. Diese Entwicklung von innen nach außen, von der schlechten Innerlichkeit zur guten Äußerlichkeit, scheint mir mehr und mehr der paradigmatische Zug in Ihrer historischen Erscheinung – ich meine jene Erscheinung, die aus den Werken entsteht, aber nicht aus ihnen allein besteht, sondern über sie hinauswächst, sich verselbständigt und in der Geschichte weiter wirkt. Sich nach Ihnen zu bilden, wird eine der wenigen Hoffnungen sein, die den Deutschen geblieben sind.“

    Dies wäre schon ein wunderbares Schlußwort zum Rundbrief, wenn ich Ihnen dieses Bild nicht noch zeigen möchte. Es zeigt das Mausoleum von Dr. Hermann Weil, der gemeinsam mit seinem Sohn Felix den finanziellen und auch ideellen Grundstein für das Institut für Sozialforschung in Frankfurt legte. Er ließ es errichten neben dem jüdischen Friedhof von Waibstadt, nahe Sinsheim, weihte es 1928 noch ein kurz bevor er starb.

    1938 wurde es verwüstet, seine Urne entwendet. Vor beinahe 50 Jahren sah ich es zum ersten Mal. Mein Großvater zeigte es mir eher beiläufig bei einem Sonntagsspaziergang. Die Kuppel war geborsten, Bäume sprossen aus den Mauerritzen. Mir, dem Schulbub von damals, war noch nicht bewußt, welch begeisterter Nazi mein Großvater gewesen war. Das Bauwerk wurde mittlerweile bereits zweimal saniert. So weit der Blick in meine Unterwelt, die mich zum Schaffen drängt.

    Bleibt mir zum Abschluß nur, Ihnen alles Gute und vor allem Gesundheit zu wünschen. Herzlich Ihr Peter Baumgärtner

  • Rundbrief Nr. 24 + Anlage Brief Pfeifer 



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    mit einer etwas traurigen Nachricht muß ich diesen Rundbrief beginnen: Unser Architekturbüro verläßt die Thomas-Mann-Straße, womit auch unser Ortsverein diese höchst passende Anschrift verliert. Wir ziehen in die Wurzer Straße 106. Diesem Herrn Wurzer hat Godesberg die Erkenntnis zu verdanken, daß aus der Quelle im Stadtpark Heilwasser sprudelt. Eine verdienstvolle Sache, wie ich finde, daher meine Bitte, sich ab 1. Mai 2021 an diese Adresse zu gewöhnen.

    In Sachen Corona befinden wir uns noch auf allzu stürmischer See, als daß ich schon den Mut fände, Sie zu einer Präsenzveranstaltung zu laden. Zu den stürmischen Debatten über eine korrekte Impfreihenfolge will ich mich hier nicht äußern. Die leidenschaftlichen Debatten um das generische Maskulinum sollten eher unser Thema sein. In der Kulturwelt scheint sich die Meinung durchzusetzen, daß wir uns einer sprachlichen Umerziehung zu unterwerfen hätten, wogegen sich mein Sprachgefühl mit aller Macht auflehnt. Dieser ‚Hicks‘ vor dem ‚Innen‘ will mir nicht über die Lippen. Ich werde dennoch versuchen, mich mit herkömmlichen Mitteln einer geschlechtergerechten Sprache zu bedienen. Man möge mich tadeln, wenn ich einmal daneben greife.

    Noch viel ratloser bin ich in der Frage, wie ich sprachlich mit all den anderen gespiegelten und verdrehten sexuellen Identitäten umgehen soll. Damit mich niemand mißversteht: Ich nehme all diese Dinge mit Staunen und Respekt zur Kenntnis und will niemanden belehren oder von seinem Weg abbringen. Aber ich kann auch nicht umhin, an Thomas Mann zu denken: er hat die ihm innewohnende Neigung künstlerisch, humorvoll und dennoch zurückhaltend nach außen getragen. Der Begriff des ‚Lebensdienstes‘ spielte bei ihm eine große Rolle. Er stellte die Frage, wie der Einzelne seine Talente in die Gesellschaft einbringen kann und erhob nicht die Forderung, daß die Gesellschaft für jegliche Befindlichkeit eigene Nischen zu schaffen hat.

    Dieses Thema berührt ein weiteres, bei dem ich glaube, so langsam aus der Zeit zu fallen. Dem letzten Rundbrief habe ich das wunderschöne Gedicht „The Hill we climb“ von Amanda Gorman beigefügt. Nun ist eine weitere abstruse Debatte darüber entbrannt, wer denn in der Lage sein darf, diese Verse in andere Sprachen zu übertragen. Ich kneife die Augen zusammen und denke darüber nach, ob denn wirklich alle Übersetzer Thomas Manns weiße, hanseatische Kaufmannsöhne waren mit einer intellektuell im Zaum gehaltenen Homosexualität? Natürlich waren sie das nicht! Und das ist auch gut so! Zur Übersetzung bedarf es eines Zuhauseseins in zwei Sprachen, der Kenntnis über deren Untiefen und Doppeldeutigkeiten, zudem eines allgemeinen Sprachgefühls für Rhythmik und Melodie – und erst wirklich ganz zuletzt bedarf es einer gleichen Hautfarbe, Religion oder eines gleichen Geschlechts.

    Nun aber endlich zur Literatur, zu aktuellen Hinweisen und Berichten zu Lese-Abenteuern rund um Thomas Mann. Im Anhang ein Brief von unserem Mitglied Marcus Pfeiffer zu aktuellen Ausstellungen und Anregungen zu künftigen Veranstaltungen. Gleichfalls angehängt ist ein Brief von Patricia Fehrle mit ihren Gedanken zur Biographie von ‚Katias Mutter‘ Hedwig Dohm.

    Ich darf Sie an dieser Stelle auf eine sehr interessante Neuerscheinung aufmerksam machen: Im Prager Verlag für deutschsprachige Literatur ‚Vitalis‘ erschien ‚Prag em- pfing uns als Verwandte – Die Familie Mann und die Tschechen‘. Autor ist der ARD-Korrespondent Peter Lange, dessen Dienstwohnung in Prag sich in der Nachbarschaft von Heinrich Manns Enkel Jindřich befindet, welcher auch ein Vorwort zu dem Buch verfaßte. So ist auch das erste Kapitel Heinrich Mann, dessen erster Frau und seiner Tochter gewidmet. Wenn man dies liest, beginnt man schnell, sein eigenes Jammern über die Schwierigkeiten unserer Gegenwart zu relativieren. Die Zumutungen und Verluste, denen die Familie Mann – und nicht nur diese – auf ihrem Weg ins Exil ausgesetzt waren, sind für uns heute nicht vorstellbar.

    Ganz nebenbei wird das konfliktbehaftete Miteinander der tschechischen und deutschen Bevölkerung in diesem noch ganz jungen Nachfolgestaat von Böhmen und Mähren geschildert. Eine untergegangene Welt, in die der Vitalis-Verlag sehr interessante Einblicke verschafft. Eine zentrale Persönlichkeit in diesem Zusammenhang war Max Brod, der uns als Nachlaßverwalter von Franz Kafka bekannt ist. Auch von Thomas Mann, dem „Meister der Wort- und Satzmelodie“ war er angetan. In Langes Buch findet sich das Zitat: „Thomas Manns Ausgeglichenheit war mir ein sittliches Vorbild… Haltung, selbst wenn es in der Seele blitzt, donnert und einschlägt.“

    Bevor die einzelnen Familienmitglieder die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erlangen konnten, mußten sie das Bürgerrecht in einer Kommune erwerben, worüber ein Stadtrat befand. In der Gemeinde Proseč hat sich ein Taschentuchfabrikant namens Fleischmann leidenschaftlich für die Manns eingesetzt. 1937 besuchten Thomas und Katia diesen Ort, hinterließen ein Scheck für Bedürftige, wofür eine Streuobstwiese auf dem Dorfanger angelegt wurde. Schöne Geschichten, die man mit Rührung liest.

    Beim Lesen des Golo-Kapitels fiel mir auf, daß Herr Lange mit Golos Chauffeur bei den Wallenstein-Recherche-Reisen Ende der 1960er Jahre nicht gesprochen hatte. Ich stellte sogleich den Kontakt zu jenem Jens-Peter Otto her, der schon häufig Gast bei unseren Veranstaltungen war. Dieser verfertigte Herrn Lange eine lange Liste von Er- innerungen, die bei einer hoffentlich notwendigen zweiten Auflage des Buchs Eingang finden werden. Aber warten Sie nicht mit dem Kauf, bis es soweit ist. Herrn Lange habe ich jedenfalls für bessere Zeiten nach Bonn eingeladen und er hat auch zugesagt mit allen Vorbehalten, die man heute so machen muß.

    Im Zusammenhang mit Prag möchte ich auf einen leider fast vergessenen Autor aufmerksam machen, auf Hermann Grab. Für dessen 1935 erschienenen Roman ‚Der Stadtpark‘ schrieb Klaus Mann im 7. Heft des zweiten Jahrgangs seiner Zeitschrift ‚Die Sammlung‘ eine lobende Besprechung. Der Roman schildert eben jene untergegangene Welt, die großbürgerliche, deutschsprachige zu großen Teilen jüdische Gesellschaft in Prag. Daß in dieser Stadt auch Tschechen lebten, erfährt man nicht. Ein Roman von und für die Deutsche Oberschicht. Der 1903 geborene Grab schildert seine wohlbehütete Kindheit in Zeiten des Krieges. Immer schlimmere Berichte von der Front dringen ab und an durch, werden aber beharrlich ignoriert. Niemand ist bereit, seinen Lebensstil zu ändern. Ein erstaunlich duftig-impressionistisches Bild einer untergegangenen Zeit, veröffentlich zu einem Zeitpunkt, an dem der noch viel schlimmere Untergang sich ankündigte. Diese Flucht aus der Welt hat auch Thomas Mann begeistert. Er verfaßte ein Empfehlungsschreiben: „Schon die reine Form, in der diese Knabenerlebnisse gegeben sind, hat mich rasch für die Lektüre eingenommen, und die kindlich eindringliche, virtuose Beobachtungsschärfe, die überall begegnet, mich mehr und mehr entzückt.“ 1938 war Hermann Grab dann bei Thomas Mann in Küsnacht zu Gast. Der Roman wurde mehrfach neu aufgelegt und ist antiquarisch gut zu bekommen.

    Es ist mir ein Anliegen, noch auf einen weiteren Autor hinzuweisen, der mit Thomas Mann in jahrzehntelangem Kontakt war und der ob seiner Lederhosenverkleidung allzu oft unterschätzt wird, auf Oskar Maria Graf. (In seinen jungen, Münchner Jahren war er gut bekannt mit Rilke, der es Oskar Graf verzieh, daß sich dieser den Zweitnamen ‚Maria‘ als Künstlerattribut ‚entlieh‘.) Besonders hinweisen möchte ich auf den 1959 erschienenen Roman ‚Die Flucht ins Mittelmäßige‘. Ein wunderbares Zeitdokument voll grimmigem Humor und tiefem Ernst. Mit stark autobiographischen Zügen schildert er das Leben der deutschen Exilgemeinde in New York. Linke, Liberale und Erzkonservative, Juden, Christen und Atheisten treffen aufeinander und bleiben weitgehend unter sich. Kaum einem gelingt es, sich in die amerikanische Gesellschaft einzugliedern. Der Erzählerfigur ist aller Rassismus fremd, er bewundert Martin Luther King, beobachtet mit Spannung den Wettlauf in den Weltraum, bei dem die Sowjets im Vorsprung sind.

    Aber zuallererst schildert der Roman die schmerzhaften Erfahrungen gebrochener Biographien, das Leiden am Verlust der Heimat, der Erinnerungen an Dachau, die daraus erwachsenden Exzesse, den Alkoholismus und mehr und mehr wird das Leben eines Schriftstellers in den Blick genommen, der zunächst mit seinem plötzlichen Erfolg nicht umgehen kann und dann unter einer Schreibblockade leidet. Graf war Initiator des Stammtischs für deutschsprachige Emigranten, (mit am Tisch Leute wie Bert Brecht und Uwe Johnson). Daraus ging auch der ‚Schutzverband Deutsch-Amerikanischer Schriftsteller‘ hervor, dem Graf vorstand; Thomas Mann konnte er als Ehrenpräsident gewinnen. Erstaunlich ist, daß er Zeit Lebens den so völlig anders gearteten Stilisten Thomas Mann bewunderte. Der 1927 erschienene Roman ‚Wir sind Gefangene‘ wird von Thomas Mann in der Frankfurter Zeitung mit einer wundervollen Eloge gefeiert:

    „Ich kann nicht sagen, wie die Originalität des Buches mich gereizt und belustigt hat, die eins ist mit der Natur des erlebnistragenden ‚Helden‘, ungeschlacht und sensibel, grundsonderbar, leicht idiotisch, tief humoristisch, unmöglich und gewinnend. Sein Blick liegt auf Menschen und Dingen, volkhaft stumpf, wie es scheint, scharfsichtig in Wahrheit, verschmitzt, in verstellter Blödheit und läßt sich nichts vormachen, von keiner Seite…“ Und Heinrich Mann schrieb: „Das kann nur einer wagen, der seiner Sache sicher ist und der weiß: was ich schreibe, ist das Eigentliche.“

    Grafs Weg ins Exil führt auch über die Tschechei in die USA. Es beginnt ein intensiver Briefwechsel mit Thomas Mann voll wechselseitiger Anerkennung und Lob. So schrieb dieser am 27.1.1951 in sein Tagebuch über Graf: „Ein guter, warm empfindender Mann, soviel besser als die dumm-klugen Analytiker.“

    Aber auch in der Gesellschaft der „Mittelmäßigen“ in New York kommt Thomas Mann zur Sprache. Martin Ling, der zentrale Protagonist des Romans, versucht sich an einer Parodie Thomas Manns. Eine Erzählung sollte mit folgendem (Halb-) Satz beginnen:

    „Ein in der für amerikanische Begriffe wunderlicherweise noch behäbig ländlich gebliebenen Umgebung von Pompton Lakes in New Jersey hinlänglich als schrullenhaft bekannter, doch schon in den Sechziger stehender, aber noch keinesfalls an sein baldiges Ableben denkender, im Verhältnis zu seinem Alter sogar noch ausnehmend rüstiger Mann, der auf den seltsamen, nicht allzu schmeichelhaften, um nicht zu sagen leicht anrüchigen Namen Hermann Lüderian hörte, Junggeselle übrigens, äußerst trinkfest und durchaus kein Kostverächter lockender Weiblichkeit…“

    Ich denke, Thomas Mann hätte seine Freunde gehabt an diesem Imitationsversuch. Weniger Freude hätte er an der Diskussion im Literatenkreis der „Mittelmäßigen“ über seinen Dr. Faustus. Man echauffiert sich über die Teufelsszene: „…Ich weiß ja, gegen Thomas Mann darf ich bei euch nichts sagen. Ich hab‘ ihn, weiß Gott, genauso gern, aber trotzdem, im ›Faustus‹ hat er sich verrannt…“ Es würde sich lohnen, dem Verhältnis der beiden Autoren zueinander eine ausgiebige Arbeit zu widmen.

    Nun habe ich mich in einen allzu langen Rundbrief verrannt. Ich hoffe, Sie haben dennoch etwas Freude daran, ihn zu lesen.

    Es verbleibt mit herzlichen Grüßen Ihr Peter Baumgärtner

    Anlage Brief Pfeifer   

    Sehr geehrter Herr Baumgärtner!

    Im Anhang ein Link zu einer brandaktuellen Veranstaltung des Thomas-Mann-Hauses in Pacific Palisades, wie sie die FAZ vor ein paar Tagen vorstellte und auf die ich gerade von einem in Paris wohnhaften Bekannten, einem meiner ehemaligen Mitschüler am Cato Bontjes van Beek-Gymnasium Achim, aufmerksam gemacht worden bin. Sie findet übrigens statt unter Beteiligung übrigens von Dr. Kai Sina, den ich im März 2017 live in der renommierten Buchhandlung Mönter in Meerbusch erlebt habe bei seinem Vortrag über das Verhältnis von Susan Sontag und Thomas Mann im Rahmen einer Veranstaltung der Thomas Mann-Gesellschaft Düsseldorf.

    http://www.thomasmann-duesseldorf.de/programm/veranstaltung/article/91-dr-kai-sina-susan-sontag-und-thomas-mann/

    Bei der aktuellen, heute beginnenden Veranstaltung des Thomas Mann-Hauses unter Beteiligung von Kai Sina geht es wohl um die Bedeutung der Rede bzw. des Essays „Deutschland und die Deutschen“ von kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, seine Sicht auf das Deutschtum jener problematischen Zeit. Es ist schon lange her, dass ich jenen Essay in Studienzeiten las, man sollte auch ihn in der Tat vielleicht gerade heute wieder lesen bzw. an der Online-Veranstaltung teilnehmen.

    Die Ausgabe der Neuen Deutschen Rundschau, in der die Rede „Deutschland und die Deutschen“ im Oktober 1945 erstmals in Deutschland erschien, besitze ich übrigens zweimal – allerdings in erster Linie deswegen, weil darin auch ein Aufsatz von Lise Meitner abgedruckt wurde, was mich als ein Lehrer besonders interessierte, der an einem Lise Meitner-Gymnasium tätig ist.

    Vielleicht wollen Sie diese Veranstaltung den Mitgliedern der Thomas-Mann Gesellschaft weiterempfehlen, falls dies nicht zuvor von anderer Stelle unternommen wurde.

    Mit freundlichen Grüßen aus dem Norden herzlichst Ihr Marcus Pfeifer

  • Rundbrief Nr. 23a



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft,

    im Nachgang zum Rundbrief von letzter Woche übersende ich Ihnen das unterschriebene Protokoll unserer virtuellen Jahresmitgliederversammlung und bedanke mich noch einmal für Ihre rege Teilnahme.

    Gleichzeitig kann ich ein Versäumnis nachholen: Ich vergaß zu verkünden, daß wir ein neues Mitglied in unseren Reihen begrüßen dürfen: Herrn Thomas Schmalzgrüber aus Köln. Wie alle Neumitglieder durfte er sich ein Heft unserer Schriftenreihe wünschen, hatte meine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, ihn bald persönlich kennenlernen zu dürfen und ihn gebeten, einige Sätze zu sich zu sagen, die ich nun meinen Zeilen unmittelbar anhänge:

    Sehr geehrter Herr Baumgärtner,

    vielen Dank für Ihre Willkommensmail. Gern dürfen Sie mich in Ihrem Rundbrief namentlich erwähnen und mich vorstellen. Dazu zunächst ein paar Worte zu mir: Ich arbeite als Lehrer für Deutsch, Englisch und Spanisch an einer Gesamtschule in Köln und bin im Grunde seit meiner ersten Begegnung mit Thomas Mann in meiner eigenen Schulzeit – ich glaube, es begann mit Der kleine Herr Friedemann – ein begeisterter Leser seiner Werke. Dass ich auf Sie aufmerksam geworden bin, hängt u.a. damit zusammen, dass ich mich aktuell nach langer Zeit wieder mit den Joseph-Romanen beschäftige und parallel dazu viel recherchiere und lese. Dabei bin ich letztlich im Netz auf die Herbsttagung 2021 gestoßen, wo gleich mehrere Vorträge zu der Roman- Tetralogie angeboten werden. Nach näherem Stöbern war für mich klar, dass nicht nur diese Herbsttagung mit ihrem spannenden Thema der Exilerfahrungen Thomas Manns, sondern generell eine Mitgliedschaft für mich interessant sein würde, zumal mit dem Ortsverein Bonn-Köln eine Zweigstelle praktisch vor meiner Haustür liegt. Ich erhoffe mir durch eine Mitgliedschaft regen Austausch mit Gleichgesinnten und spannende Veranstaltungen, wenn die Umstände es wieder zulassen.

    Die Einwilligung zur Datennutzung schicke ich Ihnen bald zu. Vielen Dank auch für Ihr Willkommenspräsent. Auf Grund meiner aktuellen Lektüre würde ich mich sehr über Band 7 (Jan Assmann: Die Gott-Mythologien der Josephsromane.) freuen.

    Ich hoffe, man lernt sich irgendwann auch einmal persönlich kennen. Für eine ganze Weile gilt es aber sicher noch, die Kontakte möglichst zu beschränken.

    Herzliche Grüße und bleiben Sie gesund Thomas Schmalzgrüber

  • Rundbrief Nr. 23 + Anlage Brief Klose



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft,

    bevor ich mich auch an die Interessierten an unserer Arbeit wende, möchte ich mich bei unseren Mitgliedern für die rege Teilnahme an der improvisierten Online-Jahresmitgliederversammlung bedanken: Ich erhielt 25 ausgefüllte Abstimmungsbögen zurück und somit mehr Stimmen als bei den Versammlungen der vergangenen Jahre. Die Rückläufer habe ich unmittelbar in PDF-Dateien verwandelt und Herrn Büning-Pfaue weiter geleitet, der sich bereit erklärt hatte, auf dieser Basis ein Protokoll dieser virtuellen Veranstaltung zu machen.

    Die Pandemie läßt uns vorher ungeahnte Wege gehen und über scheinbar unumstößliche Gebräuche neu nachdenken. Ich will damit nicht diese Online-Praxis für die nächsten Jahre festschreiben, aber ich denke, man kann die wichtigen Unterlagen im Vorfeld in die Runde geben, die notwendigen Abstimmungen dann kompakt durchführen und zudem noch Zeit finden, für eine kleine Lesung, einen Vortrag oder ähnliches, um damit den allzu formalen Charakter einer Jahresmitgliederversammlung zu brechen.

    Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Zu der Frage, wie lange dieser noch unter Coronabedingungen gegangen werden muß, wage ich keine Einschätzung mehr abzugeben. Da hilft kein Lamentieren und auch nicht die Suche nach immer neuen Schuldigen, wovon die aktuelle Debatte bestimmt ist. Die Pandemie überfordert alle Verantwortlichen, und wenn wir nicht bereit sind, vieles zu verzeihen, wird diese Pandemie auf der politischen Ebene schlimmere Folgen zeitigen, als auf der gesundheitlichen.

    Wir haben unsere Literatur, und ich kann aus den vielen Texten Thomas Manns und seines Umfelds, die in Zeiten radikaler Umbrüche und Bedrohungen geschrieben wurden, viel Kraft für meinen Alltag schöpfen – womit ich spätestens auch alle Interessierten an unserer Arbeit herzlich begrüße.

    Im Nachgang zu meiner Beschäftigung mit Klaus Manns Freund und Thomas Manns Biograph Peter de Mendelssohns las ich die beiden Erinnerungsbücher seiner Frau Hilde Spiel: ‚Die hellen und die finsteren Zeiten‘ (München 1989) und ‚Welche Welt ist meine Welt?‘ (München, Leipzig 1990). Dies sind Bücher von seltener Intensität: Dieses Zusammentreffen von einem klar beobachtenden Geist mit einer ausgelassenen Lust am Leben. Die jungen Jahre unter dem heraufziehenden Faschismus in Österreich, das Exil in England, die wechselnden Partner in Wien, die Ehe mit dem unsteten und stets auf Kante lebenden de Mendelssohn in London. Das Kennenlernen der beiden nicht im ausgelassenen Nachtleben, sondern mittels der Literatur: Sie schreibt nach der Lektüre von

    ‚Nacht und Tag‘ (siehe Rundbrief Nr. 21) dem unbekannten Dichter, welcher zunächst nicht reagiert, sondern ihren ersten Roman ‚Kati auf der Brücke‘ liest und sich sogleich sicher ist, die Frau fürs Leben gefunden zu haben. Eine Liebesgeschichte für Literaturromantiker, die weniger romantisch zu Ende ging – aber das gehört nicht hierher.

    Am 28. Januar 1935 ist die 24 Jahre junge Hilde Spiel bei einer Lesung Thomas Manns in Wien. Er las aus ‚Joseph in Ägypten‘. In seinem Tagebuch findet sich nur ein kurzer Hinweis auf diesen Abend. Umso wichtiger die naiv-eindrücklichen Sätze aus dem Tagebuch von Hilde Spiel: „ Ein gepflegter Herr mit einem weißen Rändchen an der Weste: ganz hanseatischer Bürger. Die untere Hälfte aber zu dünn und ein wenig zu kurze Hosenbeine. Eine unbeschreibliche Tenue! Charme, Musik und Geste des Vortrags!

    Steht über allem. Die Aussprache ist gottseidank süddeutsch, mit einem ganz leichten reichsdeutschen Straffakzent. Alles ist so mühelos, warm, lieb und gut, wie vielleicht am wunderbarsten bei Schlick. Ein Vatergefühl, wenn er amüsiert und wohlgefällig seinen Hund beobachtet. Am Ende – er liest sehr lange, von halb acht mit einer Pause bis dreiviertel zehn, am Ende klappt er mitten in einer sanft hinfließenden Stelle das Buch zu und sagt: ‚Jetzt ist’s aber genug‘, und geht. Man ruft ihn fünfmal heraus. Zuletzt hebt er die Hände: ‚Jetzt laßt mich, Kinderchen, und geht nach Hause, so wie ich es vernünftigerweise tun will.‘

    Im zweiten Band ihrer Erinnerungen schildert Hilde Spiel ihre kurvenreiche Lebensbahn von den unmittelbaren Nachkriegsjahren in britischen Diensten in Berlin an der Seite Peter de Mendelssohns, über die recht friedlichen Jahre in London bis zu der schwierigen Rückkehr in die alte Heimat Österreich, mit der sie eine Haßliebe verband und die ihr die Freundschaft von Thomas Bernhard einbrachte – sicher eine der wenigen, die Bernhard pflegte. Die ihnen gemeinsame Abscheu der reaktionären Tendenzen in ihrer idyllischen Heimat brachte sie einander näher. Mit diesem Vergessen- und Verdrängen- Wollen war sie schon in Berlin konfrontiert. Die Euphorie, mit der man Furtwängler wieder am Pult bejubelte, befremdete sie tief.

    Viele Seiten von allzu Privatem kann man überschlagen, ich will hier von ihren Begegnungen mit Thomas Mann berichten: Zuerst trifft sie ihn mit ihrem Peter im Juni 1947 in Zürich, wo sie gemeinsam mit dem ‚melancholischen, unendlich liebenswürdigen‘ Klaus Mann und Paul Geheeb zu Mittag essen. Dann sind die Eheleute gemeinsam im Sommer 1952, kurz vor der Rückkehr der Familie Mann nach Europa, im Pacific Palisades zu Gast. Sie staunt über den ‚so vornehm wie bescheiden, ohne jede olympische Eitelkeit seinen Gästen gegenübertretenden Thomas Mann‘ und dessen ‚Herzenshöflichkeit‘ – welch schönes Wort. Dann noch Hildes Spiels Teilnahme an den Feierlichkeiten zu Thomas Manns achtzigsten Geburtstag in Zürich. Man liest Zeilen, bei denen die Erinnerungen schon von der bald darauf folgenden Todesnachricht überlagert sind. Doch der Dualismus von eben herrscht immer noch vor: ‚erhaben und dennoch nicht ohne Selbstironie‘ beschriebt sie ihn, ‚nicht hochmütig, aber hochgemut, …‘ In solchen Passagen leuchtet das Sprachgefühl von Hilde Spiel ganz besonders auf.

    Volker Hage: Eine Liebe fürs Leben – Thomas Mann und Travemünde – Einer Empfehlung der Kollegen aus Hamburg folgend habe ich das kleine Bändchen angeschafft. Bei Fischer erschienen ist es hübsch aufgemacht, enthält viele, mir bislang unbekannte Bilder und ist von Volker Hage journalistisch sauber und routiniert geschrieben. Die ersten Kapitel haben ihren Schwerpunkt bei den Buddenbrooks und den Travemünde-Kapiteln mit Hanno und Tony. Hage zeigt auf, wo TM von Rom aus richtig und nicht ganz so richtig recherchiert hatte – als ob das eine Rolle spielte -, dann wird das ganze zu einer Kurzbiographie, zu einer Darstellung von Thomas Manns Umgang mit dem geteilten Deutschland. Sehr interessant, gehört aber nicht hierher. Er versäumt es, am Thema zu bleiben, an der psychischen Verbundenheit des Autors mit dem Meer. Dennoch verdanke ich diesem Buch den Hinweis auf Thomas Manns Text: Anna Karenina – Einleitung zu einer amerikanischen Ausgabe von Leo Tolstoi. Er schrieb diesen auf seiner letzten Europa-Reise vor dem Kriege, 1939 in Noordwijk aan Zee. Im Angesicht der See ver- gleicht er die Epik Tolstois mit ihrer „rollenden Weite“ ihrem „Hauch von Anhänglichkeit und Lebenswürze“ mit dem Meer. Und so beginnt auch der Text mit einer Eloge auf diesen rauschhaft-rauschenden unendlichen Raum. Ein sprachliches Meisterstück erster Güte. Seine literaturwissenschaftlichen Auslassungen in der Folge kann man lesen oder nicht, die Einleitung der Einleitung ist an Bildhaftigkeit nicht zu überbieten.

    Das Ende des Rundbriefs sei wie immer gewürzt mit Zuversicht. Und was hätte uns in den letzten Wochen zuversichtlicher stimmen können, als die Poesie zur Amtseinführung von Joe Biden, als dieses sprachlich-musikalische Bravourstück von Amanda Gorman. Die FAZ hat ihren Text samt Übersetzung veröffentlicht, ich habe mir erlaubt beides diesem Rundbrief anzuhängen. Der Text ist nur ein halbes Vergnügen ohne die Sprachmelodie und Gestik der jungen Dichterin, die Übersetzung ist holprig, wie alle Übersetzungen von Poesie, aber als Spickzettel für im Englischen nur mäßig Kundigen wie mich sehr hilfreich. Man liest überall von ihren Wurzeln im Rap und in bei den Slam- Poeten. Mich erinnerte ihr Vortrag ungeheuer an Walt Whitman, an den von Thomas Mann so hoch geschätzten, der das Musikalische am amerikanischen Englisch erstmals in die Literaturgeschichte einführte.

    Mögen Sie viel Hoffnung und Trost bei diesen Zeilen finden, herzlich ihr Peter Baumgärtner

    PS: Angehängt ist gleichfalls der nette Brief unseres Mitglieds Frau Ellen Klose

    Anlage Brief Klose

    Sehr geehrter Herr Baumgärtner,

    vielen Dank für Ihre Rundbriefe 19, 20, 21 und nun auch 22 aus Dezember. Ich bitte um Nachsicht, dass Ich erst jetzt antworte, aber ich habe auf den mir bereits für Anfang Dezember anvisierten PC gewartet. Nun Ist er endlfch da – samt Email-Adresse!! Das Formular zur Datenschutzerklärung habe ich um meine Email-Adresse ergänzt und Ihnen bereits zugesandt. Nun kann auch in Ihrer umfangreichen Liste diese Rubrik bei mir ausgefüllt werden.

    Es ist  schön, dass wir  diese modernen Kommunikationsmittel haben, doch geht es mir  so wie Ihnen, daß ich mich in all die technischen Möglichkeiten erst einarbeiten muß und um jegliche Hilfestellung dankbar bin – aber mein Dank und meine Anerkennung an all die emsigen Damen und Herren, die auf diese Weise unser literaturgesellschaftliches Leben aufrecht halten mit immer neuen Lektüreanregungen und Wegen der Kommunikation unter uns.

    Unterdessen bin ich nicht müßig gewesen und habe Ihre Kommentare und Leseempfehlungen aufgenommen.

    Leider habe ich noch nicht alle Tagebücher und Essay-Ausgaben. Teils sind sie nicht mehr oder -wie beider Kommentierten Frankfurter Ausgabe- noch nicht lieferbar. Und es fehlt natürlich immer gerade das, was man gern nachlesen würde – so auch die mit den von Ihnen vorgetragenen Notaten aus den Tagebüchern 1949-1952.  In meiner  Ausgabe  1933-1934 wird vom Herausgeber Peter de Mendelssohn im Klappentext auf diese für TM in verschiedener  Hinsicht so schwierige Zeit des Exils eingegangen.  Wenn auch keine finanzielle Not herrschte und er in den USA Freunde und Unterstützung hatte, durch seine Dozententätigkeit und Vortragsreisen gut  beschäftigt  war  – von Buchprojekten, vom Schreiben von Reden, Essays, Rundfunkansprachen etc. abgesehen -, so ist doch wohl das

    Auch dfe Ashenden Erzählungen von Somerset Maugham sind mit Blick auf sein Leben zu sehen. Er hatte ja während des Krieges für den Nachrichtendienst gearbeitet, verfügte also über entsprechende Insiderkenntnisse und so ist Ashenden – wie Maugham selbst sagt – auch sein alter ego.

    Geschätzt wurde er, wie ich aus Kommentaren zu Neuveröffentlichungen entnommen habe,

    z. B. von Eric Ambler, Ellery Queen, Raymond Chandler.

    Aber auch seine anderen Geschichten habe Ich sehr gern gelesen. Als weitere  Lektüre dazu kann ich seine autobiographischen Schriften 11A Wrlter’s Notebook“ aus dem Jahre 1951empfehlen, in Übersetzung erschienen im Diogenes Verlag 2004. Kein Tagebuch, wie es Thomas Mann geführt hat, sondern „lediglich“ Anmerkungen und Anregungen für eventuelle Geschichten, teils schon in Form von Kurzessays oder Anekdoten. Das ist nach Jahren fortgeschrieben, auch nicht für jedes Jahr und auch unterschiedlich lang – z. B. für 1914 sechs Seiten, für 1915 nur 6 Zeilen. Besonders Interessant finde ich sein „Nachwort“ „By way of postscrlpt“ aus dem Jahre 1944, in dem er sein Leben jeweils beim Übergang in ein neues Lebensjahrzehnt betrachtet – im Rückblick sehr weise und teils ironisch. Sehr lesenswert. Den Powell werde ich bestellen, darauf haben Sie mich neugierig gemacht. Auf daß uns die Zeit im Horne Office nicht lang werde1

  • Rundbrief Nr. 22 + Anlage Brief Quasner



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    nun haben wir heute erfahren, was wir schon lange erwartet haben: Wir sollen die Feiertage in der Gesellschaft unserer Lieben verbringen – unserer lieben Bücher versteht sich. Ich schreibe Ihnen schon heute, um Ihnen zum einen ein kleines Lichtlein am Ende des Tunnels zu zeigen und Ihnen zum anderen noch den ein oder anderen Buchtipp zu geben, den Ihnen der Buchhändler Ihres Vertrauens sicher auch aus der verschlossenen Buchhandlung heraus zuschickt.

    Zum Lichtlein: Am 30.Juni 2021 werden im Woelfl-Haus der japanische Pianist Kotaro Fukuma und Dr. Michael Fürtjes auftreten. Die beiden sind schon vor der Pandemie mit folgendem, stets sehr gut besprochenen Programm mehrfach aufgetreten:

    • Adorno: Drei Klavierstücke (1927, 1945)
      • Adagietto – Hommage à Bizet
      • Die böhmischen Terzen
      • Valsette
    • Berg: Klaviersonate op. 1
    • Mann: Doktor Faustus, Beginn des Kapitels VIII (Kretschmar Vortrag)
    • Pause –
      • Beethoven, Klaviersonate Nr. 32 c-Moll op. 111

    Während Herr Fukuma das Opus 111 spielt, wird Herr Fürtjes parallel den Wendell Kretzschmar geben – ich bin sehr gespannt. Dieses Konzert wird unabhängig von der Pandemie-Entwicklung stattfinden. Hoffentlich werden wir als ‚lebendiges‘ Publikum vor Ort sein dürfen, in jedem Falle aber wird es ins weltweite Netz geströmt. Dieser Tagehielt ich mit Frau Haider-Dechant, ihrem Gatten und Herr Fürtjes ein Kaffeestündchen an unseren jeweiligen Rechnern und haben diese Vereinbarung getroffen. Frau Haider- Dechant berichtete von der stetig wachsenden Zuhörer- und Zuseherschaft ihrer Konzerte im Woelfl-Haus; sie reicht weit über ihr übliches Bonner Publikum hinaus. Sie erhielt freudige Zuschriften aus Japan und den USA. Auch wir können nicht umhin, uns dieser modernen Medien zu bedienen und ich möchte hier nochmals die Arbeit der Dechants herausstellen und loben: Für die Nutzung solcher Online-Dienste gibt es keine Altersgrenze. Mit einem Klick und einem Passwort, das man zuvor bekommen hat, ist alles getan.

    Nun zur Literatur und zu Thomas Mann: Bei meiner Beschäftigung mit den jungen Wil- den der späten 20ger Jahre des letzten Jahrhunderts stieß ich auf den Hinweis, daß Thomas Mann 1926 eine Einleitung zu Joseph Conrads Roman ‚Der Geheimagent‘ geschrieben hatte. Da diese in späteren Ausgaben sich nicht mehr findet, besorgte ich mir antiquarisch die Originalausgabe und stellte fest, daß dies der erste Band einer geplanten Gesamtausgabe von S. Fischer gewesen war. Da Thomas Mann ein begeisterter Leser von Conrads Romanen war, bat man offenbar ihn, das zugkräftigste Pferd im Fischer-Stall, für das deutsche Publikum einen werbenden Artikel zu verfassen.

    Forte dei Marmi – Thomas Mann wußte, wo es schön ist.  
               Forte dei Marmi – Thomas Mann wußte, wo es schön ist.  

    Dieser nahm den Roman mit in die Ferien in den hübschen Küstenort Forte dei Marmi (etwas südlich von Carrara) und verfaßte dort einen Text, der sicher nicht so ganz den Wünschen der Marketing-Abteilung entsprach. Thomas Mann unterlag seiner Neigung, bei Gegenständen, denen er eine eher ambivalente Haltung entgegenbrachte, sich besonders verschachtelt auszudrücken, was dem sprachlichen Duktus eines Joseph Conrad so gar nicht entspricht, weshalb mach einer das Buch schon bei der Einleitung beiseite legte – ich tat dies erst viel später, auch wenn Thomas Mann der Ansicht war, daß der Seefahrer Conrad „seine Verve, Kraft und ernste Lustigkeit… auch auf dem Trockenen“ unter Beweis stellen würde. Und dennoch ist sein Text gespickt mit feinen Vorbehalten, die er sich nicht verkneifen konnte. Ihm mißfällt der antirussische Ton des Romans – er spielt vor der Revolution – und entschuldigt dies sogleich im Wissen, daß ein gebürtiger Pole wie Conrad kein Freund der Russen sein kann. Doch auch diese Schlichtung wird gleich wieder konterkariert, indem er mehrfach betont, um wieviel größer ein Dostojewski gegenüber einem Conrad gewesen sei. Das mag so sein – aber hat diese Feststellung in einem Werbetext für Conrad etwas verloren? Thomas Mann stand da über den Dingen, wie er auch vor Abschweifungen in dem beinahe zwanzigseitigen Text nicht zurückschreckt. Zum Beispiel in diesem Satz: „In Wagner, Dostojewski, selbst in Bismarck vereinigt das neunzehnte Jahrhundert Riesenwuchs mit der äußersten Verfeinerung, einem letzten Raffinement der Mittel, dem freilich in allen Fällen etwas zugleich Krankhaftes und Barbarisches anhaftet.“ Auch wenn man ihm dem Grunde nach nicht widersprechen möchte: diese drei in einen Topf zu werfen, das ist schon starker Tobak.

    Jedenfalls gelang es mir nicht, den ersten Agentenroman meines Lebens zu Ende zu lesen. Ich hielt mich daher an Klaus Mann, der in seinen Tagebüchern Somerset Maughams Kurzgeschichtenreihe ‚Ashenden – der britische Agent‘ wärmstens empfiehlt.

    Dann erhielt ich einen Brief von unserem Kollegen Dirk Heißerer aus München. Er hat sich mal wieder als Schatzgräber bewährt und sein Thomas-Mann-Firmament um einen weiteren Stern bereichert. Er hatte sich auf die Suche gemacht nach den im ‚Tod in Venedig‘ beschriebenen Sphingen am Portikus an der Westfassade der Aussegnungs- halle des Münchener Nordfriedhofs – und mußte erfahren, daß diese Anfang der 60er Jahre auf Anweisung eines Baurates entfernt worden waren. Die ‚Scheißviecher‘ sollten weg! Dieser hatte allerdings seine Rechnung ohne Herrn Heißerer gemacht: Nun sind diese Mischwesen zwischen Löwen und Gockelhahn wieder da. Herr Heißerer legt in seiner Untersuchung die Baugeschichte dieser Friedhofsanlage und die mythologische Geschichte der Sphingen bis ins alte Ägypten dar und verfolgt vor allen Dingen die mythologischen Bezüge in Thomas Manns Erzählung bis in die feinsten Verästelungen. Er erstellt ein hoch interessantes und lesenswertes germanistisches Röntgenbild vom ‚Tod in Venedig‘. Den Zauber von Thomas Manns Sprache, von dieser Oberfläche des Textes, von der Millionen von Lesern ohne jegliche Hintergrundkenntnisse gefesselt wurden, kann er damit nicht ergründen und schließt sich am Ende Fritz Martini an, der in der Novelle „ein vollkommenes sinnliches und geistiges Ineinanderpassen von Umwelt und Geschehen“ erkannte.

    Doch die Überraschung folgt im vorletzten Kapitel: Die Erstveröffentlichung der (nicht gehaltenen) Grabrede Thomas Mann für seine Schwester Julia (1927), der zweiten, die freiwillig aus dem Leben geschieden war und die als Ines Rodde literarisch im Doktor Faustus wieder Gestalt annahm. So unmittelbar von diesem Tod betroffen, liest man hier einen Text aus einem privaten Umfeld, durch den wir Thomas Mann tief in die Seele schauen. Der Tod seiner Spielgefährtin aus Kindertagen traf ihn tief, er empfand ihn wie einen „Blitz, der dicht neben ihm niedergegangen war“. So zitiert Heißerer Golo Mann (Erinnerungen 1986). Für das Verständnis vom Menschen und vom Schriftsteller Thomas Mann geben mir diese Ausführungen mehr, als die Erläuterungen zum ‚Tod in Venedig‘.

    Nicht unerwähnt lassen will ich auch das letzte Kapitel dieses Bändchens, die Auflistung der literarischen Prominentengräber auf dem besagten Nordfriedhof, wo eben auch Walter Geffcken ruht, jener Maler, der um 1900 das erste noch erhaltene Ölbild Thomas Manns schuf und dem ich mich in unserer Schriftenreihe gewidmet habe. Heißerer be- dauert in seinem Text sicher zu Recht, daß das ausgeführte Porträt leider nicht mehr auffindbar ist. Dennoch bin ich der Ansicht, daß Geffcken gerade in diesem hinge- huschten Entwurf ein Bildnis gelungen ist, das die fragile Seite Thomas Manns zeigt, jenen Thomas Mann, der dann allzu früh an den Gräbern seiner Schwestern stehen mußte.

    So traurig will ich diesen letzten Rundbrief von 2020 nicht enden lassen, und mich zunächst bedanken, für die vielen netten Reaktionen, die ich auf meinen letzten bekam. Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Tizi und Jürgen Quasner, die mir erlaubten, ihre kleine, beigefügte Glosse in diesem Rahmen zu veröffentlichen: „Lieber Herr Baumgärtner, mögen Sie Rundbriefe? Ich nicht…“ Lesen Sie weiter im Anhang.

    Wenn Sie diese Geschichte gelesen haben, denke ich an Ihre lachenden Gesichter und an den Satz, mit dem ich zu früheren, analogen Zeiten meine Neujahrskärtchen überschrieb: „Viel Sonnenschein aus lachende Augen wünscht …“ In Zeiten, in den wir unser übriges Minenspiel voneinander verstecken müssen, hat dieser Wunsch ein besonderes Gewicht.

    Deshalb wiederhole ich ihn ganz besonders herzlich Ihr Peter Baumgärtner

    Anlage Brief Quasner

    Lieber Herr Baumgärtner,

    mögen Sie Rundbriefe? Ich nicht. Bekommen Sie welche? Wir nicht mehr. Eine Bekannte aus einer altkeltischen Fabrikantenfamilie notierte jedes Jahr für alle lesefähigen Bekannten einfach ALLES aus Metzingen, die Maße ihres Weihnachtsbaums, die vielen Stufen bis hoch in ihre Dachwohnung, die Anzahl der Anrufe im Jahr zu allen gedächtnisträchtigen Daten. Sie lebt nicht mehr, die Post hat‘s leichter.

    Über unseren Schwager waren wir mit einer Pfarrersdynastie verbandelt, in und aus der heraus man Rundbriefe zum Jahresende schrieb. Der senil gewordene alte Pfarrherr war wegen guter Zugverbindungen mit Gattin nach Rosenheim verzogen und zählte alle Züge auf, die er übers Jahr bestiegen hatte. Nach seinem Ende zählte die DB noch einmal die Zustiege in Rosenheim; seither hält der ICE dort nicht mehr. Ein Sohn war auch Pfarrer geworden und ließ uns Briefleser an seinem sternenhaften Aufstieg bis zum Dekan teilnehmen, vorher aber schon an seiner unterrichtlichen Tätigkeit im Gk Religion, wo er es auch mit der mdl.

    Abiturprüfung zu tun bekam. Wir fragten zurück nach der Anzahl der Prüflinge. EINEN Kandidaten hatte er! Oh, liebs Herrgoettle von Biberach, hätte man schreien können, aber er war ja ein Bayer aus der Diaspora, da war auch EIN Prüfling nicht zu verachten.

    Wir bedanken uns sehr für den newsletter; mehr kann man sich in den schwierigen Zeiten zu Th. Mann nicht wünschen.

    Herzliche Grüße Jürgen und Tizi Quasner

  • Rundbrief Nr. 21



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    wenn ich diesen Rundbrief damit beginne, von der Online-Vorstandssitzung der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft zu berichten, dann ist zum Thema Pandemie schon alles gesagt: Einstweilen müssen wir die Kontaktbeschränkungen akzeptieren und versuchen, damit leben zu lernen. Dieser Versuch ist Gegenstand des Rundbriefs.

    Die Teilnehmer dieser Vorstandssitzung waren offenbar alle sehr routinierte Zoom-Teilnehmer, nur bei mir dauerte es etwas, mich ins Bild zu rücken und den Ton zu aktivieren. Auch wenn derzeit schon für einen noch nicht zugänglichen Impfstoff mächtig getrommelt wird, werden wir nicht umhin kommen, uns damit zu befassen. Unser Mitglied, Frau Haider-Dechant vom Woelfl-Haus, versucht in ihrem Besucherkreis die Berührungsängste mit der neuen Technik durch ‚Plaudermeetings‘ zu brechen. Auch für unseren Ortsverein könnte ich mir ein elektronisch vernetztes Weihnachts-Kaffeeplauderstündchen vorstellen, möchte aber um Unterstützung bitten von jemandem, der technisch versierter ist und den potenziellen Teilnehmern bei Startschwierigkeiten auf die Sprünge helfen kann.

    Unser Partner-Ortsverein aus Hamburg ist an dieser Stelle schon weiter, es haben bereits erste ‚Onlineworkshops‘ stattgefunden und für die Einladung, sich wechselseitig Lesetipps zukommen zu lassen, hat der Vorsitzende Oliver Fischer eine besonders witzige Form gefunden. Er nennt die entsprechende Rubrik in seinem Newsletter ‚Post aus Zimmer 34‘. Ich darf ihn hier zitieren:

    „Liebe Thomas Mann-Freundinnen und -Freunde,

    eine aufmerksame Leserin der ‚Post aus Zimmer 34‘ schrieb uns, die Aktivitäten des jungen Hamburgers in Zimmer 34 des Berghofs seien nicht ohne Sorge zu betrachten mit Blick auf das bunte Treiben der Kranken dort. Sie empfahl seine Übersiedlung auf den Hof Schweigestill in Pfeiffering.

    Wir vom Vorstand teilen diese Sorge. Allerdings wurde uns aus sicherer Quelle zugetragen, dass es auf dem Hof Schweigestill jüngst einen tödlich verlaufenen Fall von Hirnhautentzündung gegeben haben soll. Auch soll dort ein syphilitischer Künstler leben. Wir haben daher – nach Rücksprache mit Oberin von Mylendonk – beschlossen, den jungen Hamburger einstweilen auf Zimmer 34 zu belassen. Er hat strengste Anweisung, den Raum nicht zu verlassen. Besonders die Rückgabe ausgeliehener Bleistifte ist ihm untersagt.

    Für Ihre Liegekuren an diesem Wochenende empfehlen wir diese Lektüre.“

    Wenn Herr Fischer Sie damit neugierig gemacht hat, dürfen Sie sich seinen Newsletter gerne auch zukommen lassen. Bitte E-Mail an: info@thomasmann-hamburg.de.

    Auch unsere Muttergesellschaft bietet allerhand auf elektronischem Wege an. Auf der Website https://www.thomas-mann-gesellschaft.de/index.html finden Sie die entsprechenden Anregungen. Unseren ‚analogen‘ Mitgliedern gegenüber kann ich nur mein Bedauern zum Ausdruck bringen, Ihnen im Moment keine leibhaftigen Veranstaltungen anbieten zu können. Kaum auszudenken, wie unser Wirtschafts- und Gesellschaftsleben vor 30 Jahren von einer solchen Pandemie betroffen gewesen wäre. Man muß anerkennen, daß die moderne Technik die Folgen lindert.

    Nun kommen wir zur Post aus meiner Bücherstube. Ich hatte im letzten Rundbrief vom ersten Roman Peter de Mendelssohns gesprochen und habe nun auch seine folgenden gelesen: ‚Paris über mir‘ (Reclam 1931) zeichnet sich aus durch eine kaleidoskopische Erzähltechnik. Junge Menschen begegnen sich im Dschungel von Paris, die Perspektive wechselt von Kapitel zu Kapitel. Gemein haben all die jungen Leute aus Deutschland und Frankreich, die Feindschaft ihrer Väter überwinden zu wollen, sich gegenseitig Wert zu schätzen, den Graben der wechselseitigen Verletzungen zu überwinden. Immer wieder wird angedeutet, daß sehr ungute Entwicklungen in Deutschland im Gange seien, das kommende Unheil ist zwischen den Zeilen spürbar. Frisch, knapp und spannend geschrieben. Ein sehr lesenswertes Buch – ganz im Gegensatz zu de Mendelssohns drittem Roman: ‚Schmerzliches Arkadien‘, in dem sein Schreiben einen kaum erträglichen elegischen Ton angenommen hat.

    Bei meiner Beschäftigung mit Peter de Mendelssohn stieß ich auf dessen allzu früh verstorbenen Onkel Erich de Mendelsohn (mit nur einem ‚s‘ – weshalb auch immer). Zu dessen unvollendeter Jugend-Biographie ‚Nacht und Tag‘ hatte Thomas Mann 1913 ein Vorwort geschrieben, das gleichzeitig ein Nachruf auf den gerade verstorbenen Autor war. Da Thomas Mann dabei – wie immer – auch über sich selbst schreibt, (Zitat: „… denn nur wo das Ich eine Aufgabe ist, hat es einen Sinn zu schreiben.“) ist dieser mir bislang unbekannte Text durchaus spannend: Entwarf er doch zu jener Zeit die ersten Kapitel des ‚Zauberberg‘ – und schon erinnert das Bild, das er von dem 25-jährigen Erich von Mendelsohn zeichnet, sehr an Hans Castorp. Die etwas anders geratenen jungen Leute in der Umgebung Erich de Mendelsohns würden „Gesundheits- und Durchsonnungstendenzen“ unterliegen. (Welch wunderbare Wortschöpfung!). Der Roman ‚Nacht und Tag‘ selbst ist eine Internatsgeschichte und sprachlich bieder. Was hat Thomas Mann zu seiner Gefälligkeit bewogen? Hat es etwas mit Paul Geheeb zu tun, dem der Roman zugeeignet ist? Ich gehe davon aus, daß Mendelsohn in Haubinda von ihm unterrichtet wurde, wie später in der Odenwaldschule Klaus Mann, Wolfgang Hildesheimer, Beate Uhse…

    Interessante Themen im Umfeld von Thomas Mann. Lassen Sie mir eigene Lektüreerfahrungen gerne zukommen. Ich werde sie im nächsten Rundbrief aufnehmen, dann auch im Sinne von Geschenktipps. Denn was liegt näher in diesen Zeiten, als Bücher zu verschenken? In diesem Zusammenhang erinnere ich an unsere Schriftenreihe – sie ist auf unserer Homepage aufgelistet. Jedes Heft ist für 10 Euro wohlfeil über mich zu beziehen. Auch Mitgliedschaften in unserer Gesellschaft kann man verschenken. Frau Martin aus Lübeck überließ mir freundlicherweise einen Link, über den Sie ganz rasch ein solches Präsent veranlassen können.

    https://www.thomas-mann-gesellschaft.de/die-gesellschaft/mitglied-werden/geschenkmitgliedschaft.html

    Auf diese Art und Weise habe ich das Generalthema unserer Vorstandssitzung vermittelt: Wie kann ein Vereinsleben in Zeiten von Kontaktbeschränkungen aufrecht erhalten bleiben? Ich hoffe, einige Anregungen gegeben zu haben und grüße herzlich mit der üblichen Zuversicht, bevor ich quasi in eigener Sache ein längeres Postskriptum an- schließen möchte:

    Im Elfenbein-Verlag ist gerade der erste Roman von Anthony Powell erstmals auf Deutsch erschienen: ‚Afternoon men‘ heißt er im Original, ‚Die Ziellosen‘in der Übersetzung von Heinz Feldmann. Als begeisterter Leser der zwölfbändigen Romanreihe ‚Tanz zur Musik der Zeit‘ habe ich diese Übersetzung aus privaten Mitteln unterstützt und wünsche diesem frühen Roman von Powell eine zahlreiche Leserschaft. 1931 erschienen, adaptierte der junge Powell die Erzähltechniken von Hemingway und fraglos gibt es keine Erzählkunst, die weiter von jener Thomas Manns entfernt sein könnte.

    Doch erst wenn man beide im Wechselbad genießt, wird man beide zu schätzen wissen. Es ist ein sehr ambitioniertes Erstlingswerk, das sicher eine Liga höher spielt, als die ersten Gehversuche von de Mendelssohn oder Klaus Mann. Alles, was diese beiden jungen Herren an Leidenschaft in ihre Geschichten legen, erzielt Powell mit einer auf die Spitze getriebenen Lakonie, mit einem traurig-zynischen Humor, wie ich ihn noch nie gelesen habe.

    Auch zu dieser Leseempfehlung wünsche ich Ihnen viel Vergnügen, herzlich Ihr Peter Baumgärtner

  • Rundbrief Nr. 20



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    bei den Neuigkeiten, die keine mehr sind, kann ich kurz fassen: Aufgrund der Pande- mie-Situation sind alle Veranstaltungen bis auf weiteres abgesagt. Das trifft zunächst zu meinem größten Bedauern den geplanten Vortrag von Herrn Prof. Norbert Oellers „Bert Brecht und Thomas Mann“ im Saal der Schlaraffia. Herr Oellers trägt dies mit Fassung, ich bleibe mit ihm in Kontakt, wir hoffen auf den nächsten Frühling.

    Auch die Thomas-Mann-Preisverleihung an Nora Bossong in Lübeck muß leider ausfallen, die Vorstandssitzung wird ‚online‘ stattfinden. Ich werde berichten. Es bleibt uns nur zu hoffen, daß diese Untersagung sämtlicher Freizeitaktivitäten zielführend ist und den gewünschten Effekt zeitigt. Daß man das Offenhalten von Baumärkten und Möbelhäusern einen größeren Wert beimisst als dem Weiterbetrieb von Theatern und Opernhäusern, wird zum Glück nun in der Presse genauso kontrovers diskutiert wie die zweifelhafte Gleichsetzung von Dichterlesungen mit Stripteasevorführungen. Daher will ich dies auch nicht weiter vertiefen, sondern wieder einmal auf den Umstand abheben, daß wir uns mit dem Gegenstand unseres Vereins auch weiterhin beschäftigen und zumindest elektronisch oder brieflich austauschen können.

    Im nächsten Jahr nachgeholt werden kann hoffentlich auch die Veranstaltung zu Thomas Manns ‚Deutsche Ansprache – Ein Appell an die Vernunft‘ mit Prof. di Fabio und Bernt Hahn. An diese Ansprache wurde vorvergangene Woche auch in der FAZ erinnert, genau 90 Jahre nachdem sich Thomas Mann in Berlin einem schwierigen Publikum gestellt hatte. Dabei wurde auch auf das Archiv der Frankfurter Zeitung mit einem Link verwiesen. „Politische Ansprache“ ist dieses ‚Privattelegramm‘ im Feuilleton des 19.

    Oktober 1930 überschrieben und es ist sehr interessant zu lesen: die Verwunderung darüber, daß dieser zutiefst bürgerliche Dichter lobende Worte für die Sozialdemokraten findet, ist eingerahmt vom Lob für dessen Infragestellung des Versailler Vertrages. Eswäre interessant zu erfahren, wie andere Presseorgane diesen Vortrag Thomas Manns besprachen, eine Recherche-Arbeit, für die vielleicht auch Sie, liebe Mitglieder unseres Ortsvereins, in ihrem Stubenarrest Zeit finden. Hier der Link ins Archiv der FAZ:

    https://dynamic.faz.net/red/2019/epaper/1930-10-19.pdf

    Eine weitere Frage stellt sich mir im Zusammenhang mit diesem Vortrag: War Peter de Mendelssohn (damals noch ohne ‚de‘) Augenzeuge dieses Vortrags? Klaus Harpprecht weckt in seiner sehr plastischen Darstellung des Abends diesen Eindruck. Mendelssohn veröffentlichte in diesem Jahr jedenfalls seinen ersten Roman mit dem Titel „Fertig mit Berlin“, den ich in den vergangenen Tagen mit großem Genuß verschlungen habe. Ich war sehr erstaunt, mit welcher Stilsicherheit dieser 22-jährige damals schon schrieb, über welche Menschenkenntnis er verfügte, über welche Fähigkeit, die Abgründe des menschlichen Denken und Fühlen zu beschreiben. Da war er seinem Freund Klaus weit voraus. Vater Thomas hätte sicher auch hier „Raschheiten“ zu bemängeln gehabt, aber um die Anerkenntnis der „Barbezahlung und Blutzeugenschaft“ (Brief von TM an KM vom 22.7.1939 zum ‚Vulkan‘ von KM) wäre er nicht umhin gekommen. Ich spreche im Konjunktiv, denn ich konnte noch nicht ermitteln, ob er diesen Roman Mendelssohns zur Kenntnis genommen hatte. „Fertig mit Berlin“ wurde vom Elfenbeinverlag 1992 neu aufgelegt und ist nach wie vor im Buchhandel zu bekommen. Vom nächsten Roman de Mendelssohns „Paris über mir“ war Klaus Mann jedenfalls ziemlich gefesselt (Tagebuch vom 13.12.1931) und schrieb darüber 1932 auch eine Besprechung, nachzulesen in: Klaus Mann ‚Die neuen Eltern‘ – Aufsätze, Reden, Kritiken 1924-1933, Rowohlt Taschenbuch 1992. Den dritten Roman ‚Schmerzliches Arkadien‘ von 1932 erhielt Klaus Mann mit „Widmung von Mendelssohn‘ (Tagebuch 29.9.) Diese beiden Romane sind bislang leider nicht neu aufgelegt worden.

    Sie sehen, meine Damen und Herren, der Forschungsgestände gibt es reichlich, mit denen man sich in diesen Zeiten des Rückzugs befassen kann. Man kann aber auch

    ‚live‘ Musik genießen, und zwar die von unserem Mitglied Margit Haider-Dechant im Woelfl-Haus mit Herzblut veranstalteten ‚Streaming‘- Konzerte: Privat-Fernsehen im besten Sinne, bei dem sogar ein Geplauder, heutzutage ‚chat‘ genannt, während des Vortrags zulässig ist. Ein Bild meines Bildschirms (‚screenshot‘) habe ich zur Veran- schaulichung beigefügt. Es gibt keinen Grund, vor solcherlei Angst zu haben. Daher meine Bitte: Melden Sie sich bei Gelegenheit auch an. Das Woelfl-Haus unterstützt damit junge Künstlerinnen und Künstler, die in diesen Zeiten jede Mark gebrauchen können – und wer weiß: Vielleicht muß ich bei Margit bald in die Lehre gehen, auf daß auch wir Veranstaltungen auf diesem Wege präsentieren.

    In diesem Sinne grüßt herzlich und mit Zuversicht Ihr Peter Baumgärtner

  • Rundbrief Nr. 19



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    auf meinen letzten Rundbrief erhielt ich eine ganze Reihe sehr netter und aufbauender Zuschriften, wofür ich mich ausdrücklich bedanken möchte. Der mehr als zweiseitige Brief von Frau Ellen Klose aus Duisburg ist dieser Mail als Scan beigefügt. Die darin erwähnten Besprechungen der Münchener Ausstellung ‚democracy will win‘ sind in den entsprechenden Online-Archiven von SZ und FAZ abrufbar.

    Nun zum geplanten Vortrag von Herrn Prof. Norbert Oellers „Bert Brecht und Thomas Mann“ im Saal der Schlaraffia in der Schedestraße. Ich habe mich mit ihm auf einen Termin verständigt und zwar auf den 20.November 2020 um 18.30 Uhr. Dort wird es nach Feierabend der ganzen umliegenden Büros auch hinreichend Parkplätze geben, die S-Bahn-Haltestelle Museum Koenig ist nicht weit. Ich werde dann zeitnah nochmals daran erinnern. Bei den oben erwähnten Zuschriften sind schon erste Anmeldungen für diese Veranstaltung bei mir eingegangen. Herzlichen Dank dafür.

    Natürlich stehen sämtliche Veranstaltungstermine unter dem Vorbehalt der nicht kalku- lierbaren Entwicklung der Covid-19-Pandemie. In diesem Zusammenhang möchte ich berichten von einem Gesprächskreis zum Thema ‚Angst‘, zu dem ich kürzlich als Mitglied der Freunde des Schauspiels (früher: der Kammerspiele) mit dem Regisseur Volker Lösch in das Foyer der Oper eingeladen war. Für Anfang 2021 plant er ein Schauspiel zu eben jenem Thema ‚Angst‘ und machte sich an verschiedenen Abenden auf Materialsammlung. Für mich drehte sich alles viel zu sehr um Corona. Als Gegengewicht verlas ich einige Notate aus den Tagebüchern Thomas Manns 1949-1952. Man muß sich immer wieder vergegenwärtigen, welch schwierige Zeiten viele Menschen zu unserer Zeit durchlaufen müssen und welch schwierige Zeitläufte Thomas Mann zu bestehen hatte. Ich erinnerte mich an den Wunsch, den er anläßlich seines fünfzigsten Geburtstags äußerte: Man möge von ihm sagen, daß es [sein Werk] lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß. Er hatte damals gerade den Zauberberg veröffentlicht – in diesem Zusammenhang muß man das Zitat wohl sehen – war ein erfolgreicher Autor, hatte sechs gesunde Kinder, wohnte in einem großzügigen Anwesen im Münchner Villenviertel und war mit einer Frau aus einem wohlhabenden Haus verheiratet. Kann ein Mann glücklicher sein? Und zu dieser Zeit schickte er sich an, das größte Romanprojekt seines Lebens anzugehen: die Nacherzählung wesentlicher Teile des Ersten Buch Mose, dieser grundlegenden Schrift der jüdisch-christlich-muslimischen Welt. Die Josephsromane waren auch ein Friedensprojekt, die Darstellung des Menschen mit all seinen Talenten und Fehlern auch ein Manifest des Humanismus. Nie hätte sich Thomas Mann zu Beginn der Arbeit träumen lassen, in welch fernen Weltgegenden er dieses Werk als Flüchtling abschließen würde. Keine Frage: Er litt unter diesem Vertriebensein, aber er verzagte nicht. Daran sollten wir denken bei unserem halben und dennoch sehr komfortablen Stubenarrest.

    Ich habe dieser Tage endlich Gisela Benschs ‚Träumerische Ungenauigkeiten‘ gelesen, ihre Untersuchung zu Traum und Traumbewußtsein im Romanwerk Thomas Manns.1 Eine Sekundärliteratur, die sich von vielen anderen abhebt: Sie ist auch einem Nichtgermanisten verständlich und sie kümmert sich um Wesentliches, um wesentliche Kerne der Romane Thomas Manns, des Zauberbergs und der Josephsromane insbesondere. In den Träumen Hans Castorps und Josephs wird die humanistische Idee Thomas Manns offenbar, seine Gesamtschau auf den Menschen, diesen hinnehmend als Wesen von Verstand und Gefühl. Dies ist von mir nun ganz weit heruntergebrochen, aber ich bin auch froh, einen Grundkurs in Freuds Traumdeutung und in Schopenhauers Philosophie bekommen zu haben, und zu dem auch die Lust, die Romane mit neuen Augen neuer- lich zu lesen. Wäre die Frage zu stellen, weshalb im Faustus nicht mehr geträumt wird? Hatte Thomas Mann seine Träume verloren?

    So schweifen die Gedanken ab beim Stichwort Corona. Was uns aktuell als monströse Gefahr erscheinen mag, kann uns im Lichte des eben gesagten vielleicht etwas kleiner erscheinen. Mögen auch Ihnen die Romane Thomas Manns – und vieler anderer Auto ren – als Lebenshilfe dienen – nicht nur in diesen etwas aufgeregten Tagen, herzlich

    Ihr Peter Baumgärtner