Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,
ich werde heute in erster Linie von unserem literarischen Salon im Kelterhaus berichten. Nachdem die ‚südlicheren Tage‘ von östlichen Winden vertrieben worden waren, haben uns ins Haus zurückgezogen, wo wir mit hinreichend Abstand voneinander das Ge- spräch beginnen konnten. Frau Dr. Bensch führte in unser Thema ein, schilderte die private und politische Lage in den USA zum Anfang der fünfziger Jahre, bevor ich die angehängten Notate1 aus den entsprechenden Tagebüchern in leicht gekürzter Form vortrug. Kaum elf Seiten füllen die Zitate, die sich der schwierigen Entscheidung befas- sen, nach Europa zurückzukehren oder nicht, also bestenfalls zwei Prozent der Gedan- ken zu privaten und politischen Themen, die Thomas Mann seinen Tagebüchern anver- traute, und dennoch wird dieses Extrakt zu einem intensiven Leseerlebnis, zu einem besonders scharf konturierten Abbild seiner Persönlichkeit. Bevor wir die Gesprächs- runde eröffneten verlas Frau Dr. Bensch noch einige Briefstellen an Hermann Hesse, worin der Zwiespalt, in dem Thomas Mann und seine Familie befanden. Frauke May und Ulrich Schöning konnten mit ihren amerikanischen Erfahrungen das anschließende Gespräch sehr bereichern.
Zwei Dinge müssen aus meiner Sicht besonders hervorgehoben werden: Zum einen der Brief an die Redaktion der ‚Echo der Woche‘ vom 16.5.1652, in dem er sein Leben in den USA in den rosigsten Farben malt, kurz nachdem er notiert hatte, „ich selbst bin des Landes unaussprechlich müde“ und kurz bevor er das Land für immer verließ.
„Einen hübschen kleine Aufsatz“ nennt er diesen Brief, was man nur als eine feine Thomas Mann’sche Ironie auffassen kann. Er wollte nicht, daß sich insbesondere in den USA die Gerüchte über seine Auswanderungsgedanken verbreiten, hatte er doch mehrfach seine Sorge niedergeschrieben, man könne ihm den Paß entziehen und Amerika somit zur Falle für ihn werden.
Auf der anderen Seite sprach er von Pacific Palisades immer wieder von seinem ‚Zu- hause‘, von den wunderbaren Arbeitsbedingungen, die er dort hat, von dem angeneh- men Klima, von den Spaziergängen am Meer, von all den Dingen, die nichts zu tun hatten mit der politisch so bedrängenden Situation in der McCarthy-Ära, mit der Un- möglichkeit für seine Tochter Erika ihr weiteres Leben in diesem Umfeld zu verbringen. Frau Dr. Bensch erinnerte sich eines Zitats von Frido Mann, nach dem Erika den Aus- schlag gab, die Zitronenhaine und die Spaziergänge am Meer zugunsten der seinem „Herzen nahen Wald- und Wiesenlandschaft“ aufzugeben. Er hatte zwei Brüder und den ältesten Sohn in kurzer Frist nacheinander verloren, er wußte, daß auch seine Tage gezählt waren, daß er weniger „leben als ruhen“ in der Schweiz wollte. Seine Spazier- gänge am Meer mußte er sich nun herbeiträumen, wie sein Hans Castorp auf dem Zauberberg.
Zurück zum Organisatorischen: Leider war unser Salon im Weingut Sülz nur von neun Personen besucht, Frau Dr. Bensch und mich eingeschlossen. Sechs Mitglieder entschul- digten sich und bedauerten, nicht kommen zu können. Dennoch war ich über die Reso- nanz etwas enttäuscht. Wir bekommen der Raum im Weingut ohne Entgelt, könnten in kühleren Tagen auch einen gemütlichen Holzofen befeuern, und da gibt es auf Seiten der Wirtsleute auch die Hoffnung, ein bisschen Umsatz mit uns zu machen, einen sehr schmackhaften obendrein. Wenn wir einen weiteren Salon an dieser Örtlichkeit ins Auge fassen (oder auch in der Goldschmiede Weingarz), werde ich vorab die Interessenlage erkunden, bevor ich den Raum buche. Ein Personenkreis wie dieser Woche im Kelter- haus könnte sich auch in einem privaten Wohnzimmer bedenkenlos treffen. Wünsche, Anregungen, Einladungen zu weiteren literarischen Salons können Sie mir jederzeit zukommen lassen. Es sollen nicht nur Dinge nach dem Gusto des Vorstandes gesche- hen. Alles, was bei mir eintrifft, werde ich in die Runde geben und die Kommunikation herstellen. Selbstverständlich werde ich für jedes Treffen eine Teilnehmerliste führen und auch bei mir hinterlegt lassen, sodaß ich unmittelbar alle Teilnehmer verständigen kann, sollte mir im Nachgang eine Infektion gemeldet werden.
Wie im letzten Rundbrief berichtet, hat Herr Büning-Pfaue für den Saal der Schlaraffia in der Schedestraße ein Hygiene-Konzept erarbeitet. Dort wird voraussichtlich im November Herr Prof. Norbert Oellers seinen im Frühling ausgefallenen Vortrag „Bert Brecht und Thomas Mann“ nachholen. Interessenten dürfen sich jetzt schon melden, den genauen Termin stimme ich noch ab. Ich will versuchen, den Vortrag auch auf- zeichnen zu lassen, daß er Schulen zur Verfügung gestellt werden kann.
Im November werde ich auch nach Lübeck fahren und neben der Vorstandssitzung der Verleihung des Thomas-Mann-Preises an Nora Bossong beiwohnen. Ich kannte sie bis- lang nur durch die Beschreibung eines barocken Landschaftsbildes, die zum Ausstel- lungskatalog der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe beigesteuert hatte (‚Vor dem Gewitter‘ im Katalog ‚Unter freiem Himmel‘; Kerber Verlag 2017) Schon damals hat mich das Poetische in Ihrer Prosa begeistert. Erst diese Woche las ich ihren 2012 erschienen Ro- man ‚Gesellschaft mit beschränkter Haftung‘. Er schildert den Untergang eines Familien- unternehmens und die entsprechenden Generationenkonflikte am Beginn des 21. Jahr- hunderts. Trotz der Ähnlichkeit des Sujets wäre es verfehlt, diesen Roman als moder- nen ‚Buddenbrooks‘ zu bezeichnen. Beiden Werken wird man damit nicht gerecht. Nora Bossongs Prosa ist von großer Intensität, knappe Sätze beleuchten die Dinge in klarem Licht, die Inhumanität der Arbeitsbedingungen unserer Tage in China wird genauso ge- schildert wie die Zustände in der New Yorker U-Bahn. Eine junge Frau tritt in die Ge- schäftswelt ein. Bossong erzählt dies ohne jede feministische Verklärtheit, allein der unternehmerische Erfolg zählt; die Erzählperspektive wechselt mehrfach, die Chrono- logie ist zugunsten einer Kreisbewegung aufgehoben. Immer wieder leuchten dazwi- schen Sätze auf, in denen sich die Lyrikerin Bossong offenbart. Die ganze spannende Geschichte fokussiert sich auf ein überraschendes Ende. Ein sehr empfehlenswertes Leseerlebnis. Ich freue mich, Frau Bossong kennen zu lernen.
Es ist wieder ein verdammt langer Rundbrief geworden. Bitte dies zu entschuldigen, herzlich
Ihr Peter Baumgärtner