Rundbrief Nr. 20



Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

bei den Neuigkeiten, die keine mehr sind, kann ich kurz fassen: Aufgrund der Pande- mie-Situation sind alle Veranstaltungen bis auf weiteres abgesagt. Das trifft zunächst zu meinem größten Bedauern den geplanten Vortrag von Herrn Prof. Norbert Oellers „Bert Brecht und Thomas Mann“ im Saal der Schlaraffia. Herr Oellers trägt dies mit Fassung, ich bleibe mit ihm in Kontakt, wir hoffen auf den nächsten Frühling.

Auch die Thomas-Mann-Preisverleihung an Nora Bossong in Lübeck muß leider ausfallen, die Vorstandssitzung wird ‚online‘ stattfinden. Ich werde berichten. Es bleibt uns nur zu hoffen, daß diese Untersagung sämtlicher Freizeitaktivitäten zielführend ist und den gewünschten Effekt zeitigt. Daß man das Offenhalten von Baumärkten und Möbelhäusern einen größeren Wert beimisst als dem Weiterbetrieb von Theatern und Opernhäusern, wird zum Glück nun in der Presse genauso kontrovers diskutiert wie die zweifelhafte Gleichsetzung von Dichterlesungen mit Stripteasevorführungen. Daher will ich dies auch nicht weiter vertiefen, sondern wieder einmal auf den Umstand abheben, daß wir uns mit dem Gegenstand unseres Vereins auch weiterhin beschäftigen und zumindest elektronisch oder brieflich austauschen können.

Im nächsten Jahr nachgeholt werden kann hoffentlich auch die Veranstaltung zu Thomas Manns ‚Deutsche Ansprache – Ein Appell an die Vernunft‘ mit Prof. di Fabio und Bernt Hahn. An diese Ansprache wurde vorvergangene Woche auch in der FAZ erinnert, genau 90 Jahre nachdem sich Thomas Mann in Berlin einem schwierigen Publikum gestellt hatte. Dabei wurde auch auf das Archiv der Frankfurter Zeitung mit einem Link verwiesen. „Politische Ansprache“ ist dieses ‚Privattelegramm‘ im Feuilleton des 19.

Oktober 1930 überschrieben und es ist sehr interessant zu lesen: die Verwunderung darüber, daß dieser zutiefst bürgerliche Dichter lobende Worte für die Sozialdemokraten findet, ist eingerahmt vom Lob für dessen Infragestellung des Versailler Vertrages. Eswäre interessant zu erfahren, wie andere Presseorgane diesen Vortrag Thomas Manns besprachen, eine Recherche-Arbeit, für die vielleicht auch Sie, liebe Mitglieder unseres Ortsvereins, in ihrem Stubenarrest Zeit finden. Hier der Link ins Archiv der FAZ:

https://dynamic.faz.net/red/2019/epaper/1930-10-19.pdf

Eine weitere Frage stellt sich mir im Zusammenhang mit diesem Vortrag: War Peter de Mendelssohn (damals noch ohne ‚de‘) Augenzeuge dieses Vortrags? Klaus Harpprecht weckt in seiner sehr plastischen Darstellung des Abends diesen Eindruck. Mendelssohn veröffentlichte in diesem Jahr jedenfalls seinen ersten Roman mit dem Titel „Fertig mit Berlin“, den ich in den vergangenen Tagen mit großem Genuß verschlungen habe. Ich war sehr erstaunt, mit welcher Stilsicherheit dieser 22-jährige damals schon schrieb, über welche Menschenkenntnis er verfügte, über welche Fähigkeit, die Abgründe des menschlichen Denken und Fühlen zu beschreiben. Da war er seinem Freund Klaus weit voraus. Vater Thomas hätte sicher auch hier „Raschheiten“ zu bemängeln gehabt, aber um die Anerkenntnis der „Barbezahlung und Blutzeugenschaft“ (Brief von TM an KM vom 22.7.1939 zum ‚Vulkan‘ von KM) wäre er nicht umhin gekommen. Ich spreche im Konjunktiv, denn ich konnte noch nicht ermitteln, ob er diesen Roman Mendelssohns zur Kenntnis genommen hatte. „Fertig mit Berlin“ wurde vom Elfenbeinverlag 1992 neu aufgelegt und ist nach wie vor im Buchhandel zu bekommen. Vom nächsten Roman de Mendelssohns „Paris über mir“ war Klaus Mann jedenfalls ziemlich gefesselt (Tagebuch vom 13.12.1931) und schrieb darüber 1932 auch eine Besprechung, nachzulesen in: Klaus Mann ‚Die neuen Eltern‘ – Aufsätze, Reden, Kritiken 1924-1933, Rowohlt Taschenbuch 1992. Den dritten Roman ‚Schmerzliches Arkadien‘ von 1932 erhielt Klaus Mann mit „Widmung von Mendelssohn‘ (Tagebuch 29.9.) Diese beiden Romane sind bislang leider nicht neu aufgelegt worden.

Sie sehen, meine Damen und Herren, der Forschungsgestände gibt es reichlich, mit denen man sich in diesen Zeiten des Rückzugs befassen kann. Man kann aber auch

‚live‘ Musik genießen, und zwar die von unserem Mitglied Margit Haider-Dechant im Woelfl-Haus mit Herzblut veranstalteten ‚Streaming‘- Konzerte: Privat-Fernsehen im besten Sinne, bei dem sogar ein Geplauder, heutzutage ‚chat‘ genannt, während des Vortrags zulässig ist. Ein Bild meines Bildschirms (‚screenshot‘) habe ich zur Veran- schaulichung beigefügt. Es gibt keinen Grund, vor solcherlei Angst zu haben. Daher meine Bitte: Melden Sie sich bei Gelegenheit auch an. Das Woelfl-Haus unterstützt damit junge Künstlerinnen und Künstler, die in diesen Zeiten jede Mark gebrauchen können – und wer weiß: Vielleicht muß ich bei Margit bald in die Lehre gehen, auf daß auch wir Veranstaltungen auf diesem Wege präsentieren.

In diesem Sinne grüßt herzlich und mit Zuversicht Ihr Peter Baumgärtner