Rundbrief Nr. 21



Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

wenn ich diesen Rundbrief damit beginne, von der Online-Vorstandssitzung der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft zu berichten, dann ist zum Thema Pandemie schon alles gesagt: Einstweilen müssen wir die Kontaktbeschränkungen akzeptieren und versuchen, damit leben zu lernen. Dieser Versuch ist Gegenstand des Rundbriefs.

Die Teilnehmer dieser Vorstandssitzung waren offenbar alle sehr routinierte Zoom-Teilnehmer, nur bei mir dauerte es etwas, mich ins Bild zu rücken und den Ton zu aktivieren. Auch wenn derzeit schon für einen noch nicht zugänglichen Impfstoff mächtig getrommelt wird, werden wir nicht umhin kommen, uns damit zu befassen. Unser Mitglied, Frau Haider-Dechant vom Woelfl-Haus, versucht in ihrem Besucherkreis die Berührungsängste mit der neuen Technik durch ‚Plaudermeetings‘ zu brechen. Auch für unseren Ortsverein könnte ich mir ein elektronisch vernetztes Weihnachts-Kaffeeplauderstündchen vorstellen, möchte aber um Unterstützung bitten von jemandem, der technisch versierter ist und den potenziellen Teilnehmern bei Startschwierigkeiten auf die Sprünge helfen kann.

Unser Partner-Ortsverein aus Hamburg ist an dieser Stelle schon weiter, es haben bereits erste ‚Onlineworkshops‘ stattgefunden und für die Einladung, sich wechselseitig Lesetipps zukommen zu lassen, hat der Vorsitzende Oliver Fischer eine besonders witzige Form gefunden. Er nennt die entsprechende Rubrik in seinem Newsletter ‚Post aus Zimmer 34‘. Ich darf ihn hier zitieren:

„Liebe Thomas Mann-Freundinnen und -Freunde,

eine aufmerksame Leserin der ‚Post aus Zimmer 34‘ schrieb uns, die Aktivitäten des jungen Hamburgers in Zimmer 34 des Berghofs seien nicht ohne Sorge zu betrachten mit Blick auf das bunte Treiben der Kranken dort. Sie empfahl seine Übersiedlung auf den Hof Schweigestill in Pfeiffering.

Wir vom Vorstand teilen diese Sorge. Allerdings wurde uns aus sicherer Quelle zugetragen, dass es auf dem Hof Schweigestill jüngst einen tödlich verlaufenen Fall von Hirnhautentzündung gegeben haben soll. Auch soll dort ein syphilitischer Künstler leben. Wir haben daher – nach Rücksprache mit Oberin von Mylendonk – beschlossen, den jungen Hamburger einstweilen auf Zimmer 34 zu belassen. Er hat strengste Anweisung, den Raum nicht zu verlassen. Besonders die Rückgabe ausgeliehener Bleistifte ist ihm untersagt.

Für Ihre Liegekuren an diesem Wochenende empfehlen wir diese Lektüre.“

Wenn Herr Fischer Sie damit neugierig gemacht hat, dürfen Sie sich seinen Newsletter gerne auch zukommen lassen. Bitte E-Mail an: info@thomasmann-hamburg.de.

Auch unsere Muttergesellschaft bietet allerhand auf elektronischem Wege an. Auf der Website https://www.thomas-mann-gesellschaft.de/index.html finden Sie die entsprechenden Anregungen. Unseren ‚analogen‘ Mitgliedern gegenüber kann ich nur mein Bedauern zum Ausdruck bringen, Ihnen im Moment keine leibhaftigen Veranstaltungen anbieten zu können. Kaum auszudenken, wie unser Wirtschafts- und Gesellschaftsleben vor 30 Jahren von einer solchen Pandemie betroffen gewesen wäre. Man muß anerkennen, daß die moderne Technik die Folgen lindert.

Nun kommen wir zur Post aus meiner Bücherstube. Ich hatte im letzten Rundbrief vom ersten Roman Peter de Mendelssohns gesprochen und habe nun auch seine folgenden gelesen: ‚Paris über mir‘ (Reclam 1931) zeichnet sich aus durch eine kaleidoskopische Erzähltechnik. Junge Menschen begegnen sich im Dschungel von Paris, die Perspektive wechselt von Kapitel zu Kapitel. Gemein haben all die jungen Leute aus Deutschland und Frankreich, die Feindschaft ihrer Väter überwinden zu wollen, sich gegenseitig Wert zu schätzen, den Graben der wechselseitigen Verletzungen zu überwinden. Immer wieder wird angedeutet, daß sehr ungute Entwicklungen in Deutschland im Gange seien, das kommende Unheil ist zwischen den Zeilen spürbar. Frisch, knapp und spannend geschrieben. Ein sehr lesenswertes Buch – ganz im Gegensatz zu de Mendelssohns drittem Roman: ‚Schmerzliches Arkadien‘, in dem sein Schreiben einen kaum erträglichen elegischen Ton angenommen hat.

Bei meiner Beschäftigung mit Peter de Mendelssohn stieß ich auf dessen allzu früh verstorbenen Onkel Erich de Mendelsohn (mit nur einem ‚s‘ – weshalb auch immer). Zu dessen unvollendeter Jugend-Biographie ‚Nacht und Tag‘ hatte Thomas Mann 1913 ein Vorwort geschrieben, das gleichzeitig ein Nachruf auf den gerade verstorbenen Autor war. Da Thomas Mann dabei – wie immer – auch über sich selbst schreibt, (Zitat: „… denn nur wo das Ich eine Aufgabe ist, hat es einen Sinn zu schreiben.“) ist dieser mir bislang unbekannte Text durchaus spannend: Entwarf er doch zu jener Zeit die ersten Kapitel des ‚Zauberberg‘ – und schon erinnert das Bild, das er von dem 25-jährigen Erich von Mendelsohn zeichnet, sehr an Hans Castorp. Die etwas anders geratenen jungen Leute in der Umgebung Erich de Mendelsohns würden „Gesundheits- und Durchsonnungstendenzen“ unterliegen. (Welch wunderbare Wortschöpfung!). Der Roman ‚Nacht und Tag‘ selbst ist eine Internatsgeschichte und sprachlich bieder. Was hat Thomas Mann zu seiner Gefälligkeit bewogen? Hat es etwas mit Paul Geheeb zu tun, dem der Roman zugeeignet ist? Ich gehe davon aus, daß Mendelsohn in Haubinda von ihm unterrichtet wurde, wie später in der Odenwaldschule Klaus Mann, Wolfgang Hildesheimer, Beate Uhse…

Interessante Themen im Umfeld von Thomas Mann. Lassen Sie mir eigene Lektüreerfahrungen gerne zukommen. Ich werde sie im nächsten Rundbrief aufnehmen, dann auch im Sinne von Geschenktipps. Denn was liegt näher in diesen Zeiten, als Bücher zu verschenken? In diesem Zusammenhang erinnere ich an unsere Schriftenreihe – sie ist auf unserer Homepage aufgelistet. Jedes Heft ist für 10 Euro wohlfeil über mich zu beziehen. Auch Mitgliedschaften in unserer Gesellschaft kann man verschenken. Frau Martin aus Lübeck überließ mir freundlicherweise einen Link, über den Sie ganz rasch ein solches Präsent veranlassen können.

https://www.thomas-mann-gesellschaft.de/die-gesellschaft/mitglied-werden/geschenkmitgliedschaft.html

Auf diese Art und Weise habe ich das Generalthema unserer Vorstandssitzung vermittelt: Wie kann ein Vereinsleben in Zeiten von Kontaktbeschränkungen aufrecht erhalten bleiben? Ich hoffe, einige Anregungen gegeben zu haben und grüße herzlich mit der üblichen Zuversicht, bevor ich quasi in eigener Sache ein längeres Postskriptum an- schließen möchte:

Im Elfenbein-Verlag ist gerade der erste Roman von Anthony Powell erstmals auf Deutsch erschienen: ‚Afternoon men‘ heißt er im Original, ‚Die Ziellosen‘in der Übersetzung von Heinz Feldmann. Als begeisterter Leser der zwölfbändigen Romanreihe ‚Tanz zur Musik der Zeit‘ habe ich diese Übersetzung aus privaten Mitteln unterstützt und wünsche diesem frühen Roman von Powell eine zahlreiche Leserschaft. 1931 erschienen, adaptierte der junge Powell die Erzähltechniken von Hemingway und fraglos gibt es keine Erzählkunst, die weiter von jener Thomas Manns entfernt sein könnte.

Doch erst wenn man beide im Wechselbad genießt, wird man beide zu schätzen wissen. Es ist ein sehr ambitioniertes Erstlingswerk, das sicher eine Liga höher spielt, als die ersten Gehversuche von de Mendelssohn oder Klaus Mann. Alles, was diese beiden jungen Herren an Leidenschaft in ihre Geschichten legen, erzielt Powell mit einer auf die Spitze getriebenen Lakonie, mit einem traurig-zynischen Humor, wie ich ihn noch nie gelesen habe.

Auch zu dieser Leseempfehlung wünsche ich Ihnen viel Vergnügen, herzlich Ihr Peter Baumgärtner