Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,
nun haben wir heute erfahren, was wir schon lange erwartet haben: Wir sollen die Feiertage in der Gesellschaft unserer Lieben verbringen – unserer lieben Bücher versteht sich. Ich schreibe Ihnen schon heute, um Ihnen zum einen ein kleines Lichtlein am Ende des Tunnels zu zeigen und Ihnen zum anderen noch den ein oder anderen Buchtipp zu geben, den Ihnen der Buchhändler Ihres Vertrauens sicher auch aus der verschlossenen Buchhandlung heraus zuschickt.
Zum Lichtlein: Am 30.Juni 2021 werden im Woelfl-Haus der japanische Pianist Kotaro Fukuma und Dr. Michael Fürtjes auftreten. Die beiden sind schon vor der Pandemie mit folgendem, stets sehr gut besprochenen Programm mehrfach aufgetreten:
- Adorno: Drei Klavierstücke (1927, 1945)
- Adagietto – Hommage à Bizet
- Die böhmischen Terzen
- Valsette
- Berg: Klaviersonate op. 1
- Mann: Doktor Faustus, Beginn des Kapitels VIII (Kretschmar Vortrag)
- Pause –
- Beethoven, Klaviersonate Nr. 32 c-Moll op. 111
Während Herr Fukuma das Opus 111 spielt, wird Herr Fürtjes parallel den Wendell Kretzschmar geben – ich bin sehr gespannt. Dieses Konzert wird unabhängig von der Pandemie-Entwicklung stattfinden. Hoffentlich werden wir als ‚lebendiges‘ Publikum vor Ort sein dürfen, in jedem Falle aber wird es ins weltweite Netz geströmt. Dieser Tagehielt ich mit Frau Haider-Dechant, ihrem Gatten und Herr Fürtjes ein Kaffeestündchen an unseren jeweiligen Rechnern und haben diese Vereinbarung getroffen. Frau Haider- Dechant berichtete von der stetig wachsenden Zuhörer- und Zuseherschaft ihrer Konzerte im Woelfl-Haus; sie reicht weit über ihr übliches Bonner Publikum hinaus. Sie erhielt freudige Zuschriften aus Japan und den USA. Auch wir können nicht umhin, uns dieser modernen Medien zu bedienen und ich möchte hier nochmals die Arbeit der Dechants herausstellen und loben: Für die Nutzung solcher Online-Dienste gibt es keine Altersgrenze. Mit einem Klick und einem Passwort, das man zuvor bekommen hat, ist alles getan.
Nun zur Literatur und zu Thomas Mann: Bei meiner Beschäftigung mit den jungen Wil- den der späten 20ger Jahre des letzten Jahrhunderts stieß ich auf den Hinweis, daß Thomas Mann 1926 eine Einleitung zu Joseph Conrads Roman ‚Der Geheimagent‘ geschrieben hatte. Da diese in späteren Ausgaben sich nicht mehr findet, besorgte ich mir antiquarisch die Originalausgabe und stellte fest, daß dies der erste Band einer geplanten Gesamtausgabe von S. Fischer gewesen war. Da Thomas Mann ein begeisterter Leser von Conrads Romanen war, bat man offenbar ihn, das zugkräftigste Pferd im Fischer-Stall, für das deutsche Publikum einen werbenden Artikel zu verfassen.

Forte dei Marmi – Thomas Mann wußte, wo es schön ist. |
Dieser nahm den Roman mit in die Ferien in den hübschen Küstenort Forte dei Marmi (etwas südlich von Carrara) und verfaßte dort einen Text, der sicher nicht so ganz den Wünschen der Marketing-Abteilung entsprach. Thomas Mann unterlag seiner Neigung, bei Gegenständen, denen er eine eher ambivalente Haltung entgegenbrachte, sich besonders verschachtelt auszudrücken, was dem sprachlichen Duktus eines Joseph Conrad so gar nicht entspricht, weshalb mach einer das Buch schon bei der Einleitung beiseite legte – ich tat dies erst viel später, auch wenn Thomas Mann der Ansicht war, daß der Seefahrer Conrad „seine Verve, Kraft und ernste Lustigkeit… auch auf dem Trockenen“ unter Beweis stellen würde. Und dennoch ist sein Text gespickt mit feinen Vorbehalten, die er sich nicht verkneifen konnte. Ihm mißfällt der antirussische Ton des Romans – er spielt vor der Revolution – und entschuldigt dies sogleich im Wissen, daß ein gebürtiger Pole wie Conrad kein Freund der Russen sein kann. Doch auch diese Schlichtung wird gleich wieder konterkariert, indem er mehrfach betont, um wieviel größer ein Dostojewski gegenüber einem Conrad gewesen sei. Das mag so sein – aber hat diese Feststellung in einem Werbetext für Conrad etwas verloren? Thomas Mann stand da über den Dingen, wie er auch vor Abschweifungen in dem beinahe zwanzigseitigen Text nicht zurückschreckt. Zum Beispiel in diesem Satz: „In Wagner, Dostojewski, selbst in Bismarck vereinigt das neunzehnte Jahrhundert Riesenwuchs mit der äußersten Verfeinerung, einem letzten Raffinement der Mittel, dem freilich in allen Fällen etwas zugleich Krankhaftes und Barbarisches anhaftet.“ Auch wenn man ihm dem Grunde nach nicht widersprechen möchte: diese drei in einen Topf zu werfen, das ist schon starker Tobak.
Jedenfalls gelang es mir nicht, den ersten Agentenroman meines Lebens zu Ende zu lesen. Ich hielt mich daher an Klaus Mann, der in seinen Tagebüchern Somerset Maughams Kurzgeschichtenreihe ‚Ashenden – der britische Agent‘ wärmstens empfiehlt.
Dann erhielt ich einen Brief von unserem Kollegen Dirk Heißerer aus München. Er hat sich mal wieder als Schatzgräber bewährt und sein Thomas-Mann-Firmament um einen weiteren Stern bereichert. Er hatte sich auf die Suche gemacht nach den im ‚Tod in Venedig‘ beschriebenen Sphingen am Portikus an der Westfassade der Aussegnungs- halle des Münchener Nordfriedhofs – und mußte erfahren, daß diese Anfang der 60er Jahre auf Anweisung eines Baurates entfernt worden waren. Die ‚Scheißviecher‘ sollten weg! Dieser hatte allerdings seine Rechnung ohne Herrn Heißerer gemacht: Nun sind diese Mischwesen zwischen Löwen und Gockelhahn wieder da. Herr Heißerer legt in seiner Untersuchung die Baugeschichte dieser Friedhofsanlage und die mythologische Geschichte der Sphingen bis ins alte Ägypten dar und verfolgt vor allen Dingen die mythologischen Bezüge in Thomas Manns Erzählung bis in die feinsten Verästelungen. Er erstellt ein hoch interessantes und lesenswertes germanistisches Röntgenbild vom ‚Tod in Venedig‘. Den Zauber von Thomas Manns Sprache, von dieser Oberfläche des Textes, von der Millionen von Lesern ohne jegliche Hintergrundkenntnisse gefesselt wurden, kann er damit nicht ergründen und schließt sich am Ende Fritz Martini an, der in der Novelle „ein vollkommenes sinnliches und geistiges Ineinanderpassen von Umwelt und Geschehen“ erkannte.
Doch die Überraschung folgt im vorletzten Kapitel: Die Erstveröffentlichung der (nicht gehaltenen) Grabrede Thomas Mann für seine Schwester Julia (1927), der zweiten, die freiwillig aus dem Leben geschieden war und die als Ines Rodde literarisch im Doktor Faustus wieder Gestalt annahm. So unmittelbar von diesem Tod betroffen, liest man hier einen Text aus einem privaten Umfeld, durch den wir Thomas Mann tief in die Seele schauen. Der Tod seiner Spielgefährtin aus Kindertagen traf ihn tief, er empfand ihn wie einen „Blitz, der dicht neben ihm niedergegangen war“. So zitiert Heißerer Golo Mann (Erinnerungen 1986). Für das Verständnis vom Menschen und vom Schriftsteller Thomas Mann geben mir diese Ausführungen mehr, als die Erläuterungen zum ‚Tod in Venedig‘.
Nicht unerwähnt lassen will ich auch das letzte Kapitel dieses Bändchens, die Auflistung der literarischen Prominentengräber auf dem besagten Nordfriedhof, wo eben auch Walter Geffcken ruht, jener Maler, der um 1900 das erste noch erhaltene Ölbild Thomas Manns schuf und dem ich mich in unserer Schriftenreihe gewidmet habe. Heißerer be- dauert in seinem Text sicher zu Recht, daß das ausgeführte Porträt leider nicht mehr auffindbar ist. Dennoch bin ich der Ansicht, daß Geffcken gerade in diesem hinge- huschten Entwurf ein Bildnis gelungen ist, das die fragile Seite Thomas Manns zeigt, jenen Thomas Mann, der dann allzu früh an den Gräbern seiner Schwestern stehen mußte.
So traurig will ich diesen letzten Rundbrief von 2020 nicht enden lassen, und mich zunächst bedanken, für die vielen netten Reaktionen, die ich auf meinen letzten bekam. Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Tizi und Jürgen Quasner, die mir erlaubten, ihre kleine, beigefügte Glosse in diesem Rahmen zu veröffentlichen: „Lieber Herr Baumgärtner, mögen Sie Rundbriefe? Ich nicht…“ Lesen Sie weiter im Anhang.
Wenn Sie diese Geschichte gelesen haben, denke ich an Ihre lachenden Gesichter und an den Satz, mit dem ich zu früheren, analogen Zeiten meine Neujahrskärtchen überschrieb: „Viel Sonnenschein aus lachende Augen wünscht …“ In Zeiten, in den wir unser übriges Minenspiel voneinander verstecken müssen, hat dieser Wunsch ein besonderes Gewicht.
Deshalb wiederhole ich ihn ganz besonders herzlich Ihr Peter Baumgärtner
Anlage Brief Quasner
Lieber Herr Baumgärtner,
mögen Sie Rundbriefe? Ich nicht. Bekommen Sie welche? Wir nicht mehr. Eine Bekannte aus einer altkeltischen Fabrikantenfamilie notierte jedes Jahr für alle lesefähigen Bekannten einfach ALLES aus Metzingen, die Maße ihres Weihnachtsbaums, die vielen Stufen bis hoch in ihre Dachwohnung, die Anzahl der Anrufe im Jahr zu allen gedächtnisträchtigen Daten. Sie lebt nicht mehr, die Post hat‘s leichter.
Über unseren Schwager waren wir mit einer Pfarrersdynastie verbandelt, in und aus der heraus man Rundbriefe zum Jahresende schrieb. Der senil gewordene alte Pfarrherr war wegen guter Zugverbindungen mit Gattin nach Rosenheim verzogen und zählte alle Züge auf, die er übers Jahr bestiegen hatte. Nach seinem Ende zählte die DB noch einmal die Zustiege in Rosenheim; seither hält der ICE dort nicht mehr. Ein Sohn war auch Pfarrer geworden und ließ uns Briefleser an seinem sternenhaften Aufstieg bis zum Dekan teilnehmen, vorher aber schon an seiner unterrichtlichen Tätigkeit im Gk Religion, wo er es auch mit der mdl.
Abiturprüfung zu tun bekam. Wir fragten zurück nach der Anzahl der Prüflinge. EINEN Kandidaten hatte er! Oh, liebs Herrgoettle von Biberach, hätte man schreien können, aber er war ja ein Bayer aus der Diaspora, da war auch EIN Prüfling nicht zu verachten.
Wir bedanken uns sehr für den newsletter; mehr kann man sich in den schwierigen Zeiten zu Th. Mann nicht wünschen.
Herzliche Grüße Jürgen und Tizi Quasner