Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,
mit einer etwas traurigen Nachricht muß ich diesen Rundbrief beginnen: Unser Architekturbüro verläßt die Thomas-Mann-Straße, womit auch unser Ortsverein diese höchst passende Anschrift verliert. Wir ziehen in die Wurzer Straße 106. Diesem Herrn Wurzer hat Godesberg die Erkenntnis zu verdanken, daß aus der Quelle im Stadtpark Heilwasser sprudelt. Eine verdienstvolle Sache, wie ich finde, daher meine Bitte, sich ab 1. Mai 2021 an diese Adresse zu gewöhnen.
In Sachen Corona befinden wir uns noch auf allzu stürmischer See, als daß ich schon den Mut fände, Sie zu einer Präsenzveranstaltung zu laden. Zu den stürmischen Debatten über eine korrekte Impfreihenfolge will ich mich hier nicht äußern. Die leidenschaftlichen Debatten um das generische Maskulinum sollten eher unser Thema sein. In der Kulturwelt scheint sich die Meinung durchzusetzen, daß wir uns einer sprachlichen Umerziehung zu unterwerfen hätten, wogegen sich mein Sprachgefühl mit aller Macht auflehnt. Dieser ‚Hicks‘ vor dem ‚Innen‘ will mir nicht über die Lippen. Ich werde dennoch versuchen, mich mit herkömmlichen Mitteln einer geschlechtergerechten Sprache zu bedienen. Man möge mich tadeln, wenn ich einmal daneben greife.
Noch viel ratloser bin ich in der Frage, wie ich sprachlich mit all den anderen gespiegelten und verdrehten sexuellen Identitäten umgehen soll. Damit mich niemand mißversteht: Ich nehme all diese Dinge mit Staunen und Respekt zur Kenntnis und will niemanden belehren oder von seinem Weg abbringen. Aber ich kann auch nicht umhin, an Thomas Mann zu denken: er hat die ihm innewohnende Neigung künstlerisch, humorvoll und dennoch zurückhaltend nach außen getragen. Der Begriff des ‚Lebensdienstes‘ spielte bei ihm eine große Rolle. Er stellte die Frage, wie der Einzelne seine Talente in die Gesellschaft einbringen kann und erhob nicht die Forderung, daß die Gesellschaft für jegliche Befindlichkeit eigene Nischen zu schaffen hat.
Dieses Thema berührt ein weiteres, bei dem ich glaube, so langsam aus der Zeit zu fallen. Dem letzten Rundbrief habe ich das wunderschöne Gedicht „The Hill we climb“ von Amanda Gorman beigefügt. Nun ist eine weitere abstruse Debatte darüber entbrannt, wer denn in der Lage sein darf, diese Verse in andere Sprachen zu übertragen. Ich kneife die Augen zusammen und denke darüber nach, ob denn wirklich alle Übersetzer Thomas Manns weiße, hanseatische Kaufmannsöhne waren mit einer intellektuell im Zaum gehaltenen Homosexualität? Natürlich waren sie das nicht! Und das ist auch gut so! Zur Übersetzung bedarf es eines Zuhauseseins in zwei Sprachen, der Kenntnis über deren Untiefen und Doppeldeutigkeiten, zudem eines allgemeinen Sprachgefühls für Rhythmik und Melodie – und erst wirklich ganz zuletzt bedarf es einer gleichen Hautfarbe, Religion oder eines gleichen Geschlechts.
Nun aber endlich zur Literatur, zu aktuellen Hinweisen und Berichten zu Lese-Abenteuern rund um Thomas Mann. Im Anhang ein Brief von unserem Mitglied Marcus Pfeiffer zu aktuellen Ausstellungen und Anregungen zu künftigen Veranstaltungen. Gleichfalls angehängt ist ein Brief von Patricia Fehrle mit ihren Gedanken zur Biographie von ‚Katias Mutter‘ Hedwig Dohm.
Ich darf Sie an dieser Stelle auf eine sehr interessante Neuerscheinung aufmerksam machen: Im Prager Verlag für deutschsprachige Literatur ‚Vitalis‘ erschien ‚Prag em- pfing uns als Verwandte – Die Familie Mann und die Tschechen‘. Autor ist der ARD-Korrespondent Peter Lange, dessen Dienstwohnung in Prag sich in der Nachbarschaft von Heinrich Manns Enkel Jindřich befindet, welcher auch ein Vorwort zu dem Buch verfaßte. So ist auch das erste Kapitel Heinrich Mann, dessen erster Frau und seiner Tochter gewidmet. Wenn man dies liest, beginnt man schnell, sein eigenes Jammern über die Schwierigkeiten unserer Gegenwart zu relativieren. Die Zumutungen und Verluste, denen die Familie Mann – und nicht nur diese – auf ihrem Weg ins Exil ausgesetzt waren, sind für uns heute nicht vorstellbar.
Ganz nebenbei wird das konfliktbehaftete Miteinander der tschechischen und deutschen Bevölkerung in diesem noch ganz jungen Nachfolgestaat von Böhmen und Mähren geschildert. Eine untergegangene Welt, in die der Vitalis-Verlag sehr interessante Einblicke verschafft. Eine zentrale Persönlichkeit in diesem Zusammenhang war Max Brod, der uns als Nachlaßverwalter von Franz Kafka bekannt ist. Auch von Thomas Mann, dem „Meister der Wort- und Satzmelodie“ war er angetan. In Langes Buch findet sich das Zitat: „Thomas Manns Ausgeglichenheit war mir ein sittliches Vorbild… Haltung, selbst wenn es in der Seele blitzt, donnert und einschlägt.“
Bevor die einzelnen Familienmitglieder die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erlangen konnten, mußten sie das Bürgerrecht in einer Kommune erwerben, worüber ein Stadtrat befand. In der Gemeinde Proseč hat sich ein Taschentuchfabrikant namens Fleischmann leidenschaftlich für die Manns eingesetzt. 1937 besuchten Thomas und Katia diesen Ort, hinterließen ein Scheck für Bedürftige, wofür eine Streuobstwiese auf dem Dorfanger angelegt wurde. Schöne Geschichten, die man mit Rührung liest.
Beim Lesen des Golo-Kapitels fiel mir auf, daß Herr Lange mit Golos Chauffeur bei den Wallenstein-Recherche-Reisen Ende der 1960er Jahre nicht gesprochen hatte. Ich stellte sogleich den Kontakt zu jenem Jens-Peter Otto her, der schon häufig Gast bei unseren Veranstaltungen war. Dieser verfertigte Herrn Lange eine lange Liste von Er- innerungen, die bei einer hoffentlich notwendigen zweiten Auflage des Buchs Eingang finden werden. Aber warten Sie nicht mit dem Kauf, bis es soweit ist. Herrn Lange habe ich jedenfalls für bessere Zeiten nach Bonn eingeladen und er hat auch zugesagt mit allen Vorbehalten, die man heute so machen muß.
Im Zusammenhang mit Prag möchte ich auf einen leider fast vergessenen Autor aufmerksam machen, auf Hermann Grab. Für dessen 1935 erschienenen Roman ‚Der Stadtpark‘ schrieb Klaus Mann im 7. Heft des zweiten Jahrgangs seiner Zeitschrift ‚Die Sammlung‘ eine lobende Besprechung. Der Roman schildert eben jene untergegangene Welt, die großbürgerliche, deutschsprachige zu großen Teilen jüdische Gesellschaft in Prag. Daß in dieser Stadt auch Tschechen lebten, erfährt man nicht. Ein Roman von und für die Deutsche Oberschicht. Der 1903 geborene Grab schildert seine wohlbehütete Kindheit in Zeiten des Krieges. Immer schlimmere Berichte von der Front dringen ab und an durch, werden aber beharrlich ignoriert. Niemand ist bereit, seinen Lebensstil zu ändern. Ein erstaunlich duftig-impressionistisches Bild einer untergegangenen Zeit, veröffentlich zu einem Zeitpunkt, an dem der noch viel schlimmere Untergang sich ankündigte. Diese Flucht aus der Welt hat auch Thomas Mann begeistert. Er verfaßte ein Empfehlungsschreiben: „Schon die reine Form, in der diese Knabenerlebnisse gegeben sind, hat mich rasch für die Lektüre eingenommen, und die kindlich eindringliche, virtuose Beobachtungsschärfe, die überall begegnet, mich mehr und mehr entzückt.“ 1938 war Hermann Grab dann bei Thomas Mann in Küsnacht zu Gast. Der Roman wurde mehrfach neu aufgelegt und ist antiquarisch gut zu bekommen.
Es ist mir ein Anliegen, noch auf einen weiteren Autor hinzuweisen, der mit Thomas Mann in jahrzehntelangem Kontakt war und der ob seiner Lederhosenverkleidung allzu oft unterschätzt wird, auf Oskar Maria Graf. (In seinen jungen, Münchner Jahren war er gut bekannt mit Rilke, der es Oskar Graf verzieh, daß sich dieser den Zweitnamen ‚Maria‘ als Künstlerattribut ‚entlieh‘.) Besonders hinweisen möchte ich auf den 1959 erschienenen Roman ‚Die Flucht ins Mittelmäßige‘. Ein wunderbares Zeitdokument voll grimmigem Humor und tiefem Ernst. Mit stark autobiographischen Zügen schildert er das Leben der deutschen Exilgemeinde in New York. Linke, Liberale und Erzkonservative, Juden, Christen und Atheisten treffen aufeinander und bleiben weitgehend unter sich. Kaum einem gelingt es, sich in die amerikanische Gesellschaft einzugliedern. Der Erzählerfigur ist aller Rassismus fremd, er bewundert Martin Luther King, beobachtet mit Spannung den Wettlauf in den Weltraum, bei dem die Sowjets im Vorsprung sind.
Aber zuallererst schildert der Roman die schmerzhaften Erfahrungen gebrochener Biographien, das Leiden am Verlust der Heimat, der Erinnerungen an Dachau, die daraus erwachsenden Exzesse, den Alkoholismus und mehr und mehr wird das Leben eines Schriftstellers in den Blick genommen, der zunächst mit seinem plötzlichen Erfolg nicht umgehen kann und dann unter einer Schreibblockade leidet. Graf war Initiator des Stammtischs für deutschsprachige Emigranten, (mit am Tisch Leute wie Bert Brecht und Uwe Johnson). Daraus ging auch der ‚Schutzverband Deutsch-Amerikanischer Schriftsteller‘ hervor, dem Graf vorstand; Thomas Mann konnte er als Ehrenpräsident gewinnen. Erstaunlich ist, daß er Zeit Lebens den so völlig anders gearteten Stilisten Thomas Mann bewunderte. Der 1927 erschienene Roman ‚Wir sind Gefangene‘ wird von Thomas Mann in der Frankfurter Zeitung mit einer wundervollen Eloge gefeiert:
„Ich kann nicht sagen, wie die Originalität des Buches mich gereizt und belustigt hat, die eins ist mit der Natur des erlebnistragenden ‚Helden‘, ungeschlacht und sensibel, grundsonderbar, leicht idiotisch, tief humoristisch, unmöglich und gewinnend. Sein Blick liegt auf Menschen und Dingen, volkhaft stumpf, wie es scheint, scharfsichtig in Wahrheit, verschmitzt, in verstellter Blödheit und läßt sich nichts vormachen, von keiner Seite…“ Und Heinrich Mann schrieb: „Das kann nur einer wagen, der seiner Sache sicher ist und der weiß: was ich schreibe, ist das Eigentliche.“
Grafs Weg ins Exil führt auch über die Tschechei in die USA. Es beginnt ein intensiver Briefwechsel mit Thomas Mann voll wechselseitiger Anerkennung und Lob. So schrieb dieser am 27.1.1951 in sein Tagebuch über Graf: „Ein guter, warm empfindender Mann, soviel besser als die dumm-klugen Analytiker.“
Aber auch in der Gesellschaft der „Mittelmäßigen“ in New York kommt Thomas Mann zur Sprache. Martin Ling, der zentrale Protagonist des Romans, versucht sich an einer Parodie Thomas Manns. Eine Erzählung sollte mit folgendem (Halb-) Satz beginnen:
„Ein in der für amerikanische Begriffe wunderlicherweise noch behäbig ländlich gebliebenen Umgebung von Pompton Lakes in New Jersey hinlänglich als schrullenhaft bekannter, doch schon in den Sechziger stehender, aber noch keinesfalls an sein baldiges Ableben denkender, im Verhältnis zu seinem Alter sogar noch ausnehmend rüstiger Mann, der auf den seltsamen, nicht allzu schmeichelhaften, um nicht zu sagen leicht anrüchigen Namen Hermann Lüderian hörte, Junggeselle übrigens, äußerst trinkfest und durchaus kein Kostverächter lockender Weiblichkeit…“
Ich denke, Thomas Mann hätte seine Freunde gehabt an diesem Imitationsversuch. Weniger Freude hätte er an der Diskussion im Literatenkreis der „Mittelmäßigen“ über seinen Dr. Faustus. Man echauffiert sich über die Teufelsszene: „…Ich weiß ja, gegen Thomas Mann darf ich bei euch nichts sagen. Ich hab‘ ihn, weiß Gott, genauso gern, aber trotzdem, im ›Faustus‹ hat er sich verrannt…“ Es würde sich lohnen, dem Verhältnis der beiden Autoren zueinander eine ausgiebige Arbeit zu widmen.
Nun habe ich mich in einen allzu langen Rundbrief verrannt. Ich hoffe, Sie haben dennoch etwas Freude daran, ihn zu lesen.
Es verbleibt mit herzlichen Grüßen Ihr Peter Baumgärtner
Anlage Brief Pfeifer
Sehr geehrter Herr Baumgärtner!
Im Anhang ein Link zu einer brandaktuellen Veranstaltung des Thomas-Mann-Hauses in Pacific Palisades, wie sie die FAZ vor ein paar Tagen vorstellte und auf die ich gerade von einem in Paris wohnhaften Bekannten, einem meiner ehemaligen Mitschüler am Cato Bontjes van Beek-Gymnasium Achim, aufmerksam gemacht worden bin. Sie findet übrigens statt unter Beteiligung übrigens von Dr. Kai Sina, den ich im März 2017 live in der renommierten Buchhandlung Mönter in Meerbusch erlebt habe bei seinem Vortrag über das Verhältnis von Susan Sontag und Thomas Mann im Rahmen einer Veranstaltung der Thomas Mann-Gesellschaft Düsseldorf.
Bei der aktuellen, heute beginnenden Veranstaltung des Thomas Mann-Hauses unter Beteiligung von Kai Sina geht es wohl um die Bedeutung der Rede bzw. des Essays „Deutschland und die Deutschen“ von kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, seine Sicht auf das Deutschtum jener problematischen Zeit. Es ist schon lange her, dass ich jenen Essay in Studienzeiten las, man sollte auch ihn in der Tat vielleicht gerade heute wieder lesen bzw. an der Online-Veranstaltung teilnehmen.
Die Ausgabe der Neuen Deutschen Rundschau, in der die Rede „Deutschland und die Deutschen“ im Oktober 1945 erstmals in Deutschland erschien, besitze ich übrigens zweimal – allerdings in erster Linie deswegen, weil darin auch ein Aufsatz von Lise Meitner abgedruckt wurde, was mich als ein Lehrer besonders interessierte, der an einem Lise Meitner-Gymnasium tätig ist.
Vielleicht wollen Sie diese Veranstaltung den Mitgliedern der Thomas-Mann Gesellschaft weiterempfehlen, falls dies nicht zuvor von anderer Stelle unternommen wurde.
Mit freundlichen Grüßen aus dem Norden herzlichst Ihr Marcus Pfeifer