Rundbrief Nr. 26 + Anlage Brief Klose 



„Es ist nur, daß ich es nicht vergesse.“ So hemdsärmelig,

liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

beginnt Thomas Manns Bericht „Pariser Rechenschaft“ aus dem Jahr 1926. Ich gestehe, daß ich diesen Text erst jetzt für mich entdeckt habe und denke, vielen von Ihnen ist er auch noch unbekannt. Er ist in verschiedenen Essay-Sammlungen enthalten. Ich konnte mir antiquarisch zum Taschenbuchpreis eine Originalausgabe des S.Fischer-Verlags besorgen. Ein broschiertes Heft von 120 Seiten, die der erste Besitzer noch selbst aufschneiden mußte. Besonders daran sind zudem die stets wechselnden, stichwortartigen Seitenüberschriften – ein Stilmittel, das bei den späteren Gesamtausgaben nicht übernommen wurde. Zum Inhaltlichen: Es ist ein launig, witziger und sehr ernster Reisebericht, der Bericht einer kulturellen Annährung. Thomas Mann genießt spürbar die Internationalität der Metropole, das Zusammentreffen mit Gelehrten aus aller Welt. In Frankreich hatte man wohlwollend die Wandlung Thomas Manns vom monarchistischen Kriegsbefürworter zum liberalen Demokraten zur Kenntnis genommen und ist sich einig, daß eine Einigung Europas das Gebot der Stunde ist. Thomas Mann erhält viel Applaus bei dem Satz: „Es werde das kein Ergebnis gereifter Sittlichkeit sein, sondern ein solches der primitiven Vernunft und der baren Notwendigkeit, da allzu offenbar geworden sei, daß Europa als Ganzes stehe oder falle:…“ Die Aktualität einer solchen Bemerkung muß ich nicht hervorheben, eher darauf hinweisen, daß dieser Text wundervolle Passagen der Schilderung der Pariser Lebensart enthält, die Thomas Mann mit allen Sinnen genießt und die eine fatale Reiselust erwecken. Neben vielem anderen erfährt man auch, wie weit er 1926 gedanklich schon bei den Josephsromanen vorangedrungen war – in Gesprächen ist von „Frau Potiphar“ und „Mut-em-enet“ die Rede… Es würde jedenfalls lohnen, sich mit dieser „Pariser Rechenschaft“ eingehender zu befassen. Es werden viele mir unbekannte Namen genannt und auf tagespolitische Ereignisse verwiesen, die mir nicht geläufig sind. Ich würde hier gerne nach dem Motto verfahren: Wenn du nicht mehr weißt, dann gründe einen Arbeitskreis. Wer hat Lust daran teilzunehmen? Wollen wir hoffen, daß es im Sommer möglich sein wird, sich in einem Gartenlokal darüber auszutauschen.

Bleiben wir noch kurz im Jahre 1926: Ende Januar hatte die Paris-Reise stattgefunden und im Oktober ist er in Bonn und begleitet seinen Mentor Bernhard Litzmann in dessen Sterbestunde. Prof. Norbert Oellers hat in seinem Beitrag zu unserer Schriftenreihe schon auf die Spannungen hingewiesen, die damals zwischen den beiden herrschte.

Litzmann hatte von seiner deutsch-nationalen Haltung nie abgelassen. Solche Friedensfahrten zum Erbfeind waren ihm sicher fremd. In der Grabrede Thomas Manns für Litzmann wird das Thema respektvoll ausgelassen. Er saß an dessen Krankenbett am Mittag vor seinem nächtlichen Sterben. Dieser war sich bereits sicher ‚überm Berg‘ zu sein und dennoch – oder gerade deshalb – bestand er darauf, mit Thomas Mann ein letztes Mal anzustoßen. Ein fast heiterer Abgang, ein Text, der mich tief beeindruckte.

Thomas Mann spricht damals -1926- von seinen ‚wiederholten Besuchen in Bonn.‘ Wann fanden diese im Einzelnen statt? Hat er die Pietà Röttgen irgendwann tatsächlich gesehen? (Siehe hierzu Band 9 unserer Schriftenreihe von Eva de Vos.) Ich mag es kaum glauben, daß sich nicht in irgendwelchen Zeitungs- oder Museumsarchiven Belege für diese besagten Besuche finden lassen könnten. Auch Sie, liebe Ortsvereinsmitglieder, dürfen bei entsprechenden Stellen nachfragen.

Es ist nur, daß ich es nicht vergesse: Auf meinen letzten Rundbrief bekam ich wieder einige sehr freundliche Antworten von Ihnen. Frau Klose hat sich vertiefend mit Siegfried Kracauer und Klaus Mann beschäftigt – Ihren Brief finden Sie im Anhang – und ein Mitglied, das nicht namentlich genannt werden möchte, schickte mir eine Glosse zu den gegenwärtigen politischen Diskussionen über Öffnungsstrategien, die in ihrer Absurdität und satirischem Wert alles überragt, was wir von jenen mimischen Mittelgewichten gerade zu sehen bekamen und sie verhöhnt insbesondere nicht jene, die von dieser schrecklichen Krankheit betroffen wurden. Er schrieb:

Lieber Herr Baumgärtner,

bonjour. Ich nehme an, daß die nächste Bundesregierung die Werktage um drei bis vier Stunden verlängert, nach verschiedenen Bedenken dann nur Mo. Mi. Do. und dafür samedimanche kürzt. Zur Eingewöhnung wird ein Ratgeber mit 25 Seiten an alle Haushalte verteilt. Eilverfahren wird das Verfassungsgericht nicht durchführen, bevor es sich selbst eingewöhnt hat. In den so neu gewonnenen Stunden bekommen zweimal Geimpfte ungeahnte Freiheiten und dürfen sich pro Tag eine Stunde in einer Imbißstube an einen Tisch setzen. Für diese neue Lizenz wird die Mehrwertsteuer auf 22% ange- hoben. Die Gründung neuer Parteien in Imbißstuben wird verboten, weil man sonst gar keine Regierung mehr zusammenkriegt…

Ich mußte herzlich lachen und habe dem Verfasser applaudiert. Vielleicht tun Sie es mir nach – dann darf ich vielleicht im nächsten Rundbrief seinen Namen nennen.

Zurück zu Thomas Mann und in die Mitter der zwanziger Jahre: Angeregt durch eine Sendung des Klassik-Forums auf WDR 3, in der der Lindenbaum von Schubert besprochen wurde, habe ich mir den Absatz ‚Fülle des Wohllauts‘ aus dem siebenten und letzten Kapitel des Zauberberg noch einmal vorgenommen, in dem das Ende des Romans anklingt: Der in die Schlacht ziehende Hans Castorp singt Verse dieses romantischen Lieds im Angesicht des Grauens vor sich hin. Bei aller Schönheit und Tröstlichkeit dieser wie von selbst sich mit der Melodie sich unterlegenden Zeilen, ist mir immer noch nicht klar, wie dieses Lied mit einer Todessehnsucht in Verbindung gebracht werden kann.

Vielleicht können Sie mir dabei helfen. Ich blicke zunächst noch einmal zurück auf die ‚Fülle des Wohllauts‘: Im Berghof gibt es eine Neuerung: Ein Grammophon wurde angeschafft, kein „armseligen Kurbelkästchen“ sondern ein elektrisches mit dem „ausgepichtesten Raffinemang“, wie der Hofrat stolz verkündet, „Ia, ff, was Besseres gibt es nicht in dem Janger.“ Und ein ganzer Schrank voller Platten steht auch bereit, den der junge Castorp in einsamen Nächten für sich erkundet. Erstaunlich nun, welche Musikstücke Thomas Mann alias Hans Castorp uns ausführlich vorstellt. Da ist zunächst Verdis ‚Aida‘, die Geschichte der unerfüllten Liebe, die Castorp unausgesprochen von seiner Clawdia träumen läßt und bei der der Begriff ‚Todessehnsucht‘ sehr wohl angebracht ist. Sie endet mit dem gemeinsamen Sterben, was Thomas Mann eher nüchtern kommentiert:

„…bis zwei Gerippe unterm Gewölbe lagerten, deren jedem es völlig gleichgültig und unempfindlich sein würde, ob es allein oder zu zweien lagerte.“ In der Oper jedoch träumen Aida und Radames unter „seligem Oktavenvorbehalt“ vom Himmel, was den Erzähler zu dem sarkastischen Schluß bringt: „Die tröstliche Kraft dieser Beschönigung tat dem Zuhörer außerordentlich wohl…“

An einem anderen Abend findet Castorp bei Debussys ‚Nachmittag eines Fauns‘ zur inneren Ruhe, um sich später an Bizets ‚Carmen‘ zu ergötzen. Sämtlich Musikstücke, die nicht ‚schwitzen‘, um es mit Nietzsche zu sagen oder anders herum: Wagner wird nicht in aller Breite vorgestellt. Fast ist es mir, als hätte Thomas Mann mit solchen Passagen Friedenstäubchen zu seinem Bruder Heinrich abgeschickt.

Dann folgt die Passage mit dem Lindenbaum, die, wie gesagt, in meinen Augen „etwas dunklerweise“ daherkommt. Das Lied wird als „bewunderungswürdiges Gleichnis für die Welt“ beschrieben, hinter welcher Castorp „seiner Gewissensahnung zufolge“ eine verbotene Liebe zum Tode spüren sollte. Settembrinis Gedankenwelt wird hinzubemüht, und schon sitzt Castorp „in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge…“ Thomas Mann nennt weder den Namen des Dichters des Lindenbaums und der Winterreise, noch die Namen des Komponisten des Kunstlieds oder des später daraus entstandenen Volkslieds. Und hier kommt die Klassik-Forum-Sendung ins Spiel, die Xaver Frühbeis in seiner unnachahmlichen Weise moderierte. Ich schrieb ihn über den Sender an und er war so freundlich, mir sein Manuskript zur Verfügung zu stellen. Er verschaffte mir einen erheblichen Erkenntnisgewinn – nicht über die Todessehnsucht Castorps, aber über den politischen Charakter von Lied, Dichter und Komponist. Doch lesen Sie den entsprechenden Ausschnitt seiner Moderation selbst:

Verschlossen vor der Welt, ohne Haß, aber beladen mit Wehmut ist unser Sänger im nächsten Schubert-Lied unterwegs. Es ist eine kalte Winternacht, er blickt ein letztes Mal noch zurück, erinnert sich an die glücklichen Stunden, die er hier [unter dem Lindenbaum] verbracht hat, aber er muß weiter, weg von dort, obwohl oder grad: weil es so schön dort gewesen ist. Früher mal.

„Der Lindenbaum“, das wohl berühmteste Lied aus Schuberts Liederzyklus „Winterreise“. Viele kennen das, auch wenn sie wenig mit klassischer Musik zu tun haben, aber: unter einem anderen Namen. „Am Brunnen vor dem Tore“, das ist die erste Textzeile, und „Der Lindenbaum“, das ist der Titel, den der Dichter Wilhelm Müller dem Gedicht gegeben hat.

Das ist ein nicht unbekanntes Phänomen: daß die Leute, wenn so ein Lied bekannt und volkstümlich geworden ist, den Übertitel ignorieren, und das Lied wird unter seinem Textanfang bekannt. Beim „Lindenbaum“ ist das auch so, und: hier ist aber auch noch die Struktur des Lieds „Am Brunnen vor dem Tore“ eine ganz andere als die im Kunstlied von Schubert. Das merkt man aber erst, wenn man mal genauer anschaut, was Schubert in dem Lied eigentlich macht, und das dann mit dem Volkslied vergleicht.

Sechs Strophen hat Müllers Gedicht, Schubert faßt sie zusammen zu drei Doppelstrophen, und vertont die auch ganz unterschiedlich. Je nachdem, was drin vorkommt. In der ersten, in Dur, bringt Schubert die bekannte Melodie. Der Wanderer steht vor dem Baum und erinnert sich an früher, an die schönen Träume in seinem Schatten und an die Liebesworte, die er in seine Rinde geschnitzt hat. Dann: die zweite Strophe dieselbe Melodie, aber eingetrübt nach Moll. Der Sänger weiß, hier kann er nicht bleiben, er muß fort, die sanft raschelnden Zweige der Linde versprechen ihm zwar Ruhe, aber: die ist trügerisch. Die dritte und letzte Strophe: bringt den dramatischen Höhepunkt, es blasen dem Sänger die kalten Winde ins Gesicht, Schubert läßt hier die bekannte Melodie weg und bringt stattdessen völlig andere, opernhaft aufwühlende Musik. Der Schluß des Lieds spielt Stunden später, die Dramatik ist weg, der Sänger ganz munter unterwegs, aber es wirkt ihn ihm noch immer die Linde als Versuchung nach. So richtig weitergekommen ist er also nicht, in seinen Gefühlen, und das zeigt uns Schubert in einem musikalischen Kreisschluß. Wir sind wieder am Anfang angelangt, in Dur und wieder mit unserer bekannten Melodie.

Was Schubert hier gemacht hat, nennt man ein „variiertes Strophenlied“. Sowas ist zwar schön und kunstvoll, – ABER – hat sich der Liedertafelkomponist Friedrich Silcher gedacht – viel zu schwierig. Meine Männerchöre wollen es einfacher haben. Und so hat Silcher zwanzig Jahre nach Schubert den dramatischen Aufbau des originalen Lieds vereinfacht, er hat die Strophen-Melodien einander angeglichen, hat die Wendung ins Moll entfernt, den dramatischen Höhepunkt hat er auch weggelassen, und in dieser vereinfachten Form gilt seitdem „Am Brunnen vor dem Tore“ in aller Welt als ein typisches deutsches Volkslied.

Man hat das Silcher in unseren Tagen durchaus vorgeworfen. Daß er aus einem Lied, in dem es „um Leben und Tod“ geht, eine „spießbürgerliche Kleinstadt-Idylle“ gemacht habe. Aber ich finde, da tut man Silcher unrecht damit. Kunstlied und Volkslied sind zwei paar Stiefel, und wenn man aus dem einen das andere machen will, dann muß man ein paar wichtige Dinge beiseiteschieben und das Ganze einfacher machen. Sonst haut das ja nicht hin, mit dem Volkslied.

Wieso eigentlich soll es in dem Lied „um Leben und Tod“ gehen? Eine interessante Frage. Wir wollen uns mal anschauen, was der Text hier sagt, im „Lindenbaum“.

Die Linde vor der Stadt, hinter dem Tor, am alten Brunnen, ist eine idyllische Szene aus alter Zeit. Eine Linde ist ein Versammlungsort gewesen für die Bewohner der Stadt, Treffpunkt für die Jugend und Ruhepunkt des Alters. Und: die Linde vor der Stadt war immer auch ein Ort, wo der mühsalgeplagte Fußwanderer von auswärts kommend Schatten finden und ausruhen kann, bevor er in die Stadt geht und seine Geschäfte treibt. Und um so eigenartiger ist es, daß der Winterwanderer bei Wilhelm Müller dieser Linde nicht traut. Lieber geht er weiter, der Wind bläst ihm ins Gesicht, der Hut fliegt ihm vom Kopf, aber das zieht er vor. Viele kluge Leute haben sich schon diese Frage gestellt. Wieso Müllers Wanderer diese Linde nicht mag. Und haben sich dabei vielerlei Antworten einfallen lassen.

Am interessantesten finde ich, was dabei rauskommt, wenn man den sozialen Kontext mit einbezieht. Als Wilhelm Müller die „Winterreise“ gedichtet hat, war im habsburgischen Österreich eine Zeit des Rückschritts. Der ganze Mut zum Aufbruch aus der Enge der Aristokratie, die ganze Hoffnung auf freiere Zeiten für die Bürger war dahin. Die Politik hat auf dem Wiener Kongress die alten Verhältnisse wieder eingesetzt, und damit der Bürger nicht auf die Idee kam, da irgendwelche Dinge dagegen auszuhecken, hat der Fürst Metternich ein Polizei- und Spitzelsystem eingeführt. Die Leute sind überwacht worden, Treffen zu mehreren an öffentlichen Orten waren untersagt, Probeabende von Liedertafeln zum Beispiel mit mehr als vier Sängern waren verboten, deswegen sind auch die meisten von Schuberts Männerchören für eine kleine Besetzung. Und wie der Frühling und der Mai in der Literatur Symbole sind für den Aufbruch, so ist der Winter hier ein Symbol für soziale und politische Kälte. In so einer Gesellschaft will man nicht leben, wo es so zugeht, kann man sich nicht zuhause fühlen. Deswegen ist unser Mann hier auf Wanderschaft, und sucht Wärme und Identität in einem Land, das ihm das nicht mehr bieten kann. Und die gewohnte Ruhe, die der Lindenbaum ihm noch anbieten kann, die ist eine trügerisch gewordene Ruhe in einer kalten und mißtrauisch gewordenen Gesellschaft. Dieses Angebot kann der Wanderer nicht annehmen, lieber geht er weiter, in eine ungewisse Zukunft mit eisigen Gegenwinden, als sich mit den alten restaurativen Kräften gemein zu machen. Wilhelm Müllers Text ist ein fortschrittlich politischer, wenn auch zutiefst resignativer Text, und Franz Schuberts Lied ist ein fortschrittlich politisches Lied.

So weit der Moderationstext von Xaver Frühbeis. Was wußte von alledem Thomas Mann? Wilhelm Müller war zu seiner Zeit ein sehr populärer Dichter. Drei Jahre älter als Schubert veröffentlichte er 1822 die Winterreise in der Zeitschrift ‚Urania‘, die daraufhin und dieses Gedichtzyklusses wegen verboten wurde. In Müllers Todesjahr 1827 schrieb Schubert seine Vertonung. Kaum denkbar, daß er nicht vom politischen Charakter der Texte wußte. Die Dramatik seiner Vertonung spricht dafür, die Harmlosigkeit von Silchers Fassung von der biedermeierlichen Restauration. In der weiteren Korrespondenz mit Herrn Frühbeis zeigte er sich überzeugt, daß die Müllerschen Leser und die Schubertschen Sänger und Zuhörer ganz selbstverständlich diese Botschaften zwischen den Zeilen verstehen konnten. Anders als wir heute. Dem schließe ich mich an. Zum Glück haben wir Zensur noch nicht leibhaftig erleben müssen. Thomas Mann kannte Sie und mir ist, als käme sie in allzu vielen Ländern wieder in Mode.

So weit der heutige Rundbrief, aber: Es ist nur, daß ich es nicht vergesse: In den letzten Tagen wurden die Vorbereitungen für unsere Veranstaltung im und mit dem Woelfl- Haus vorangerieben, das Plakat bzw. der Online-Flyer hierfür fertig gestellt – sie finden es in der Anlage. In der Korrespondenz zwischen Frau Prof. Dr. Haider-Dechant und Herrn Dr. Fürtjes wurde mir deutlich, um welch außerordentlich begabten und aufstrebenden Musiker es sich bei Kataro Fukuma handelt, der im vergangenen Jahr aus bekanntem Grund kaum Einnahmen erzielen konnte. Auch der Auftritt bei unseren Kollegen vom Ortsverein Hamburg mußte abgesagt werden. Im Woelfl-Haus hat man sich inzwischen eine für Bonn einzigartige Mikrophon- und Kameratechnik angeschafft, deren „geströmte“ Übertragungsqualität sich von gewöhnlichen Fernsehübertragungen nicht mehr unterscheidet. Bitte merken Sie sich den Termin vor. Vielleicht können Ende Juni auch einige Zuschauer vor Ort zugelassen werden. Die Veranstaltung ist kostspielig. Unser Ortsverein wird sie mit 500.- Euro unterstützen, Hamburg steuert 250.- Euro bei. Sollten über das vereinbarte, bescheidene Honorar von Herrn Fukuma noch weitere Überschüsse erzielt werden, so sollen diese dem jungen Künstler zur Verfügung gestellt werden.

Nun aber: Auf in den Mai und herunter mit den Zahlen, die wir täglich verfolgen, herzlich Ihr Peter Baumgärtner

Anlage Brief Klose

Lieber Herr Baumgärtner, vielen Dank für die beiden Rundbriefe, mit denen Sie zu einem literarischen Spaziergang einladen.

Zu „Treffpunkt im Unendlichen“ habe ich mich an etwas erinnert.

Das Bild auf dem Umschlag meiner Spangenberg-Ausgabe aus 1992 mit einem Nachwort von Fredric Kroll, datiert November 1991, ist im Motiv angelehnt an ein Cover zu Ralph Benatzkys Revue „Für Dich“. Zitat der Bildunterschrift: „Das Bild zeigt das Titelbild des 1925 erschienenen Revue-Librettos mit der Klavierbearbeitung.“ Es ist mit der Karikatur einer Frau mit großem Herzen in schönen überwiegend lindgrün-blauen Pastelltönen gehalten, was an sich ja schon Freude vermittelt, während der Romaneinband zwar auch die Frau mit dem roten Herzen, das schon unter ihren Hals gerutscht ist, zeigt, jedoch die dunkleren Farben schwarz-rot-gold überwiegen, dazu das Hakenkreuz …… Ein Kommentar ist wohl nicht nötig.

„Treffpunkt im Unendlichen“ hat mich an einen Roman von F. Scott Fitzgerald erinnert – „Die Schönen und Verdammten“. Auch dieser Roman, wenn auch früher erschienen, handelt ja von jungen reichen Leuten, die das Leben genießen. Wie kein anderer hat Fitzgerald das Lebensgefühl dieser Gesellschaftsschicht der „roaring twenties“ in den USA beschrieben, es ist ja praktisch seine und Zeldas Autobiographie, sie verkörperten das jazz-age wie kaum andere.

Natürlich unterscheiden sich die Lebenswege der beiden Autoren voneinander und damit auch die jeweilige Schreibweise der Romane (wie auch bei Anthony Powell, der als ehemaliger Etonianer das Leben dieser Gesellschaftsklasse kannte). Sie wussten, wovon sie schrieben. „Die Schönen und die Verdammten“ sind für mich schwungvoller und flüssiger zu lesen als „Treffpunkt im Unendlichen“, was sich etwas langsam dahinzieht. Zitat aus dem Nachwort von Fredric Kroll: „Klaus Mann will durch die Form des Romans dem Leser eine Veranschaulichung der „mystischen Einheit“ allen Seins vermitteln. Die ethische Aussage wohnt der Form inne. Der Roman, der über die in der Handlung geschilderten Grenzen von Raum und Zeit hinausdrängt, bildet die neue Unendlichkeit, in der die Figuren sich treffen können, trotz einer Handlung, die sie sogar im Tode trennt.“ Es ist ein Roman des Nebeneinanders. Klaus Mann übte Jahre später ja Selbstkritik am literarischen Wert seines Buches, zu schnell geschrieben, ohne Dichte. Wenn man allerdings im Nachhinein sein Leben, die politischen Verhältnisse, das Exil etc. betrachtet, so bleibt – Zitat „Treffpunkt im Unendlichen“ als beredtes Zeugnis von Klaus Manns psychologischem und dichterischen Können“.

Während Golo Mann von dem Roman begeistert war, hatte Siegfried Kracauer harsche Kritik geübt. Ob nun ein literarisches Werk gefällt oder nicht, ist ja wohl auch Geschmackssache der Leserschaft, und das sagt ja nicht unbedingt etwas über die literarische Qualität.

Zu Kracauers „Ginster“ habe ich einen Artikel aus dem Feuilleton der FAZ vom 21. Januar 2021 (Nr. 17 Seite 13) mit der Überschrift: „Dass Sie lachen mussten, bestätigt doch auch meine Kunst“ – Wie Siegfried Kracauer der Kritik einer Buchhändlerin begegnete, die ihm als Vorbild für eine Romanfigur bedient hatte. – Es geht um die Figur der Elfriede, die bisher nur als literarische Fiktion gesehen worden war.

Aus einem bisher unbekannten Brief Kracauers geht hervor, dass es sich um eine reale Person gehandelt hat. Kracauer hatte während seiner Osnabrücker Zeit beim Stadtbauamt eine junge Buchhändlerin mit Namen Friedel Hanckel, geb. Wulff, kennengelernt. Sie stammte aus einer Osnabrücker Familie und war mit dem Berliner Buchhändler Bruno Hanckel verheiratet. Die beiden hatten in der Osnabrücker Krahnstrasse eine Buchhandlung gegründet, wo Kracauer die junge Frau wohl kennengelernt hatte. Er hatte ihr ein Gedicht „Über die Freundschaft“ mit Datum 5. Juni 1918 gewidmet, ihr Geburtstag war am 6. Juni.

Zurück in Frankfurt in 1921 arbeitete Kracauer bis zu seiner Emigration als leitender Redakteur des Feuilletons der „Frankfurter Zeitung“ und hatte wohl keine Verbindung mehr nach Osnabrück – jedenfalls ist keine Korrespondenz erhalten.

Als Buchhändlerin hatte Frau Hanckel „Ginster“ nach Erscheinen gelesen, sich in der Figur der Elfriede wiedererkannt und in einem wohl verloren gegangenen Brief an Kracauer kritische Worte bezüglich ihrer Charakterisierung geäußert. Kracauer hatte, wie er ihr schrieb, sie nicht über das Erscheinen des Buches informiert, aus Angst vor ihrer vielleicht nicht wohlwollenden Reaktion darauf. Das Buch war von der Kritik auch alles andere als wohlwollend aufgenommen worden. Einzig sein Freund Joseph Roth zeigte sich begeistert, seine Rezession hatte Kracauer ihr mit dem Brief zugesandt. Er betont weiter, dass die Figur Elfriede fiktional sei und er damit nur Osnabrücker Erinnerungen verbinde.

Erst über 40 Jahre später, als Kracauer noch im New Yorker Exil lebte, hatte er nochmals brieflich Verbindung mit Frau Hanckel. In einem Brief vom 7. April 1965 an Frau Hanckel wirbt er bei ihr ein letztes Mal um Verständnis für seine Elfriede. Friedel Hanckel solle ihm – Zitat -„nicht boeser sein, als es unbedingt notwendig ist“.

Zu Siegfried Kracauer bin ich noch über einen Artikel in der FAZ Literatur vom 8. April 2021 auf ein neues Buch von Dorothee Kimmich aufmerksam geworden: „Leeres Land – Niemandsländer in der Literatur“. Kimmich behandelt darin Orte der Literatur, die real sind oder waren und nicht unbedingt als „Niemandsland“ in das Bewusstsein der Leserschaft eingehen. So zum Beispiel bei Kracauers Essay über die Berliner Lindenpassage, die nicht mehr existierte, als Kracauer im Dezember 1930 darüber in der „Frankfurter Zeitung“ schrieb.

Kimmichs Untersuchung verweist auf den Vorrang des Objekts. Zitat: „Als das eigentliche Sujet der Niemandslandstexte – so Kimmich – könne man „die Erfahrungen bezeichnen, die die Niemande im Niemandsland machen: Die Entkoppelung von Eigen und Eigentum gehört ebenso dazu wie eine erstaunliche Beglückung durch Entfremdung…““.

Frau Kimmich behandelt in dem Buch noch weitere Niemandsländer, so zum Beispiel die von Theodor Storm, Gottfried Keller, Goethes Faust, Adalbert Stifter. – Aber diese Lektüre um Kracauer herum habe ich noch vor mir. Dazu möchte ich noch auf Frau Kimmichs kleines Büchlein aus 2011 „Lebendige Dinge in der Moderne“ hinweisen, das auch schon einen Text zu Siegfried Kracauer „Überleben im Niemandsland der Dinge“ enthält.

So haben wir sicher noch eine Reihe von Spaziergängen durch die Literatur vor uns. Wie ich wieder einmal festgestellt habe, zieht auch hier ein Buch andere nach. Ausgehend von einem Schriftsteller kommt man zum nächsten …

Ich freue mich schon darauf, was Sie, lieber Herr Baumgärtner, als nächstes ansprechen. Mit freundlichen Grüßen aus Duisburg

Ellen Klose