Rundbrief Nr. 36



Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

ich sehne den Tag herbei, an dem ich meine Rundbriefe nicht mehr mit dem Thema Corona beginnen muß. Vielfältige Vortragsprojekte haben sich angesammelt, aber ich wage es noch nicht, konkrete Raum- und Terminfestlegungen zu treffen. Auf die Projekte gehe ich später im Einzelnen ein, zunächst müssen wir Administratives ins Auge fassen: Eine Jahresmitgliederversammlung steht an. Die Kassenprüfung haben dankenswerterweise wieder Dr. Agnes und Axel Volhard übernommen und mir eine ordnungsgemäße Abrechnung bescheinigt. Die Versammlung werden wir hybrid abwickeln müssen. Ein kleiner Kreis (Vorstand, Protokollführer, einige Mitglieder) wird sich in meinem Büro oder im Haus der Schlaraffia treffen und von dort die Online-Konferenz leiten. Frau Kirsten Huppertz wird die entsprechende Einladung vorbereiten, vorab machen wir einen Probelauf, damit die Sache dann auch glatt läuft. Aus privaten Gründen meinerseits wird die Veranstaltung erst Mitte / Ende Februar stattfinden können. Es sind eine ganze Reihe von Dingen zu besprechen, daher wäre eine große Teilnehmerzahl erfreulich. Meine Fragen im Vorfeld mit der Bitte um Rückmeldungen: Haben Sie bereits Erfahrungen mit dieser Form von Online-Sitzungen? Würden Sie an der Jahresversammlung in dieser Form teilnehmen? Ich kann Ihnen versichern: Es ist ungewohnt aber es funktioniert recht gut. Die Vorstandssitzungen unserer Gesellschaft finden seit fast zwei Jahren in dieser Form statt und haben ihr schon viele Reisespesen erspart. (Daß ich die Reisekosten liebend gerne selbst übernähme und mit den Kollegen im Anschluß an die Sitzung noch gerne ein Bier trinken würde, steht auf einem anderen Blatt.)

Nun zu erfreulicheren Dingen: Ich hatte im letzten Brief meine Teilnahme an der Tagung in der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg angekündigt, die unter dem Titel

MannsBilder – Mediale Darstellung und Wahrnehmung der Familie Mann

dort stattfand. Von unseren Mitgliedern war auch Frau Dr. Reinhard zugegen. Sie ist eine erfahrene Kursteilnehmerin der Thomas-Morus-Akademie, einem perfekt ausgestatteten Tagungshaus mit modernen Hotelzimmern, einer prächtigen Sicht auf Köln und einem ordentlichen Restaurant, in dem ein strenges Corona-Lüftungs-Regiment gepflegt wurde, weshalb wir zum Frühstück dann im Mantel erschienen. Wie dem auch sei: Erkundigen Sie sich nach deren Kursprogramm – es lohnt sich.

Zwei Vorträge möchte ich hervorheben:

Zum einen jenen des noch recht jungen Professors Dr. Thomas Wortmann. Er berichtete über die Statussymbole von Thomas Mann und machte dies fest an der frühen Erzählung ‚Eisenbahnunglück‘, die einen weit weniger dramatischen Verlauf nimmt, als der Titel vermuten läßt, schildert sie doch eine Begebenheit, die TM 1906 selbst erlebt hatte. Herr Wortmann, in Mannheim lehrend aber aus dem Rheinland stammend, ist bei aller Wissenschaftlichkeit mit einem humorvollen Redefluß gesegnet. Es war erstaunlich, wie er mit seinem germanistischen Analysebesteck diesen kurzen Text zergliederte und erstaunliche Erkenntnisse zutage förderte. Im Nachhinein fragte ich ihn, ob er bereit sei, diesen Vortrag auch in Bonn zu halten und er stimmte sofort zu.

Zum anderen war uns aus Berlin Dr. Tim Lörke überlebensgroß auf der Leinwand zugeschaltet. Er ist dem einen oder der anderen sicher von den Thomas-Mann-Tagungen bekannt. Sein Vortrag beleuchtete das Tagungsthema am umfassendsten: Wie Thomas Mann mit den Medien umging, sich ihrer bediente zum eigenen Zwecke, zur Darstellung seiner selbst. Es gelang ihm vorzüglich, Thomas Manns Spagat zwischen Bürger- und Künstlertum zu schildern, seinen Anspruch ‚Avantgarde‘ sein zu wollen und zugleich vom breiten Volk gelesen zu werden; er wollte ökonomisch erfolgreich sein und zugleich anerkannt in literarischen Kreisen. Hierbei legte er immer Wert darauf, in den Journalen korrekt abgebildet zu werden. Der Saal war begeistert (ca. 40 Teilnehmer) und auch hier mußte ich beim Referenten natürlich die Frage loswerden, ob er im Sommer denn mal aus Berlin in die alte Hauptstadt kommen wolle – und auch Tim Lörke stimmte sofort zu. Er will auch meiner Bitte entsprechen, für seinen Vortrag einen anderen Titel zu finden: „Hitze und Kälte, Melancholie und Betulichkeit – Thomas Manns produktive Rezeptionssteuerung“ ist nicht dafür angetan, die Massen aus den Lesesesseln zu locken.

Aufgrund der großen Bekanntheit von Dr. Tim Lörke möchte ich gerne einen größeren Saal für seinen Vortrag suchen – alles natürlich unter dem Corona-Vorbehalt. Der Uni-Club oder der Saal des evangelischen Verwaltungsverbands kämen dafür infrage. In Bensberg lernte ich auch Vertreter der LESE kennen, der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft, gegründet 1787. Auch sie beklagen einen Mangel an Jugend in ihren Reihen, möchten aber nichts unversucht lassen, ihre Idee einer bürgerlichen Bildungsgesellschaft in die Zukunft zu tragen. Da die Interessengebiete unserer Mitglieder fraglos große Schnittmengen aufweisen, vereinbarten wir, uns zukünftig wechselseitig zu unterstützen und gemeinsame Veranstaltungen ins Auge zu fassen. Mit Tim Lörkes Vortrag zu Thomas Manns Umgang mit den Medien, werden wird den Anfang machen.

In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen diese Postkarte zeigen, die unser Mitglied Frau Jutta Hartmann mir aus Lübeck schickte. Schon dieses wundersam aus der Mode gekommene Wort „Ansporn“ elektrisierte mich; und dann: „Zeitschrift für Vorwärtsstrebende“. Für beides gibt es heute sicher prima Anglizismen. Aber was steckte dahinter? Was war Inhalt dieser Hefte? Hatte Thomas Mann darin einen Text verfaßt? Oder – um sogleich einen Anglizismus zu verwenden – hatte man ihn nur als Cover-Boy gebraucht: eindringlich, entschlossen und, tatkräftig blickend?

Für kleines Geld erhielt ich von einem Antiquariat zwei schwere, in Leinen gebundene Sammelbände des Jahrgangs 1930 dieser damals monatlich er- scheinenden Unternehmer-Zeitschrift. Ein Text von Thomas Mann findet sich nicht darin, aber eine gewisse Frau Dr. phil. Elisabeth Sommer singt ein hohes Lied auf den Sproß einer erfolgreichen Kaufmannsfamilie, der deren Stammbaum mit dem Nobelpreis bekrönte, eine durchaus lesenswerte Kurzbiographie. Was findet sich noch in diesem Heft? „Tüchtige Werbedamen gesucht“ ist ein Text überschrieben, oder „Praktische Winke für die Zwangsvollstreckung“ Eine zeitgemäße Büroausstattung wird vorgestellt, auch ein modernes Unternehmen der Glasproduktion. Und am Ende jeden Heftes gibt es als Fortsetzung „Sprachübungen“ – in Englisch, Französisch und Spanisch! Aber, und das sei hervorgehoben: Der Leitartikel eines jeden Hefts stellt einen herausragenden Künstler, Ingenieur oder Politiker vor. So wird die ‚Puppenmutter‘ Käthe Kruse präsentiert, aber auch George Washington, Wilhelm Röntgen und Hans Christian Andersen. Das Unternehmertum sah sich untrennbar mit der internationalen Kultur verbunden und hob dies auch hervor. Buchenswert!

Im letzten Rundbrief habe ich ausführlich das freundschaftliche Verhältnis Thomas Manns zu Hans Reisiger alias Rüdiger Schildknapp geschildert. Auf Hans Reisiger neugierig geworden, besorgte ich mir noch seine 1952 erschienene Erzählung ‚Aeschylos bei Salamis‘, von der er schon im Herbst 1949 Thomas Mann erste Kapitel zu lesen gab, der diese als „ernst, nobel, klug, menschlich warm und dichterisch gehoben“ bezeichnete, bevor er das Buch im Herbst 1952 zur Gänze zu lesen bekam und er eine Eloge darauf anstimmte. Die Bezeichnung ‚Erzählung‘ sei zu bescheiden, es handle sich vielmehr um ein „Gedicht, einen Gesang, ein hochgestimmtes, mitreißendes, farbenreiches, von sinnigen, tiefgeführten Apercu über das Menschliche durchwobenes Lied…“

Der Ton der Erzählung ist wahrlich ein sehr hoher und heutigen Lesern kaum noch zumutbar. Man kann das Ganze verstehen als einen Lobgesang auf eine zivile, wehrhafte und demokratische Gemeinschaft, eine Mahnung an die Bürger der noch ganz jungen Republik. Nicht umsonst steht Aischylos im Mittelpunkt und nicht die Kriegsherren; Xerxes wird vom Welteroberer zur Witzfigur auf dem Pfauenthron und nicht zufällig ist auch der junge Perikles mit von der Partie, der Aischylos gegenüber bedeutsam sagen darf: „…so bekenne ich, daß mir der Friede die erstrebenswertere und auch die schwerere Aufgabe scheint, die dem Menschen gestellt ist.“ Und Aischylos resümiert gegen Ende: „Aber es hat sich soeben wieder gezeigt, wohin es führt, wenn die Macht nicht Maß zu halten weiß und nicht mit Einsicht gepaart ist.“ (Sehr vornehme gehaltene Hinweise an die deutschen Leser von 1952) Man kann mit dem Buch seine Kenntnisse der altgriechischen Geschichte wieder auffrischen, aber für junge Leser müßte es tüchtig durchgepustet werden.

Ein weiterer Nachtrag zum letzten Rundbrief: Ich hatte von Werner Oellers‘ Roman ‚Die neuen Augen‘ berichtet. Nun habe ich auch den 1939 erschienen Roman ‚Die Gewalt der Waffen‘ gelesen – und bin wieder begeistert. Dessen Titel ist unglücklich gewählt, wurde aber von Oellers nochmals überarbeitet und erschien 1942 mit noch deutlicheren autobiographischen Bezügen unter dem Titel ‚Das beharrliche Leben‘. Dieser zweite Titel paßt jedenfalls besser zur Geschichte: Dem Erwachsenwerden von zwei Jungen während des Ersten Weltkriegs. Gewalt, Krieg und Waffen finden nur in weiter Ferne statt. Die Jungs erleben die Auswirkungen des Kriegs auf ihre Familie, ihr Dorf: Der Vater wird eingezogen, viele Lehrer auch, Lebensmittel werden knapp, die ersten Frauen gehen schwarz gekleidet durch die Straßen, es gibt kein Gummi mehr für die Fahrradreifen, die Felgen werden mit Holz beschlagen, erste Kriegsversehrte kehren heim, ein russischer Zwangsarbeiter ist ein netter Kerl… Kein Wort gegen den Krieg, aber ein Buch darüber, daß in einem Kriege alle Seiten nur verlieren.

Zum Abschluß kommt mir in dieser gedrückten Stimmung des Nicht-agieren-Könnens ein Satz Thomas Manns aus einem Brief an Agnes Meyer in den Sinn: „Immer habe ich eine Vorliebe gehabt für Andersens Märchen vom ‚Standhaften Zinnsoldaten‘. Es ist im Grunde das Symbol meines Lebens.“ (9.2.55) Womit ich bei dem hoffnungsvollen Blick in unseren Kühlschrank der Veranstaltungen angekommen bin. Frauke May ist in Vorbereitung ihres LIEDeraturabends zu Hans Christian Andersen, Tobias Schwartz brütet in Berlin über seinem Vortrag ‚Mein Thomas Mann‘ und der Vorstellung von Morpho Peleides umrahmt von Schmetterlingen im Museum Koenig, über Wortmann und Lörks habe ich oben ausgiebig berichtet, Herr Prof. Susmann aus Rußland will uns etwas zu Thomas Mann und die russische Literatur erzählen und auch der Vortrag von Prof. Wißkirchen zu Thomas Mann und Hermann Hesse ist nicht vergessen, wie auch der Abend mit Prof. Di Fabio und der Deutschen Ansprache. Gerade den letzten beiden wollen wir volle Säle bieten. Um all dies zu schultern werde ich im Sommer Unterstützung brauchen.

Daher wird unsere Jahresversammlung von großer Wichtigkeit sein.

Seine Sie herzlich gegrüßt. Auf bald Ihr Peter Baumgärtner