Rundbrief Nr. 40 + Anlagen Zauberberg Rezension Pfeifer | Artikel ISOLATED WORLD
Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,
dieser Rundbrief möge in erster Linie dazu dienen, Sie an unsere Veranstaltung am 20. Juni mit Dr. Tim Lörke zu erinnern. Über einen zahlreichen Besuch Ihrerseits würde ich mich sehr freuen, machen Sie bitte auch Werbung in Ihrem Umfeld. Ich sehe dies nicht nur unter dem kaufmännischen Aspekt des Ausgleichs der Unkosten, die mit der Veranstaltung verbunden sind, sondern auch jenem der Motivation für den Vorstand, sich der Mühe zu unterziehen, weitere Veranstaltungen in die Wege zu leiten. Hier nochmals die kurze Inhaltsangabe zur Veranstaltung, den Flyer finden Sie im Anhang.
„Ein unvergleichliches Hündchen“
Thomas Mann und die Anforderungen des Publikums.
Abstract:
Schon zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn hatte Thomas Mann ein ausgeprägtes Gespür dafür, wie er sich als Dichter zu inszenieren hatte, um erfolgreich zu sein und beim Publikum den besten Eindruck zu erzielen. Zeitlebens hielt er verschiedene Formen der Publikumssteuerung bei: Durch die Art, wie er sein öffentliches Bild ausgeklügelt entwarf. Der Vortrag zeigt, wie Thomas Mann dieses Bild je nach Zielgruppe anpasste. Deutlich wird dabei, dass Thomas Mann als Dichter auf ein Bild von sich hinauswollte, das er genau mit den Techniken des eigenen literarischen Schreibens abglich – Schreiben und öffentliche Person fallen bei ihm zusammen.
Eine weitere Veranstaltung sollten Sie sich schon vormerken: Prof. Thomas Wortmann aus Mannheim wird am 8. September im Haus der Schlaraffia zu uns über das Frühwerk Thomas Manns sprechen. Weitere Einzelheiten kann ich vielleicht schon am 20. Juni verkünden, spätestens im nächsten Rundbrief.
Die Terminierung der Matinee im Museum Koenig mit Tobias Schwartz ist noch in Arbeit
Von unserem Freund Prof. Susmann aus Nishni Nowgorod erhielt ich nach meinem letzten Rundbrief nette Dankesworte und die Empfehlung, Olga Martynova zu lesen. Sie gewann 2012 den Bachmann-Preis, schreibt Gedichte und Prosa (Roman „Mörikes Schlüsselbein“). Frau Martynova stammt aus Leningrad und lebt seit 1990 in Frankfurt. Dies auch als Anregung für Sie. Ich habe bislang noch nichts von ihr gelesen, will dies im Sommer nachholen.
Gemeinsam mit Herrn Marcus Pfeifer nahm ich Ende Mai an einer Zoom-Veranstaltung des Thomas-Mann-Forums München teil. Dr. Matthias Stuber sprach unter dem Titel ‚Die Einheit der Welt‘ zum Thema ‚Thomas Mann und Arnold Joseph Toynbee‘, dem englischen Geschichtsphilosophen. Auch wenn sich am Ende der interessanten Ausführungen zeigte, daß ein solches Verhältnis dem Grunde nach nicht bestand, so nahmen wir doch einen wichtigen Hinweis mit: Der Sohn von Arnold Joseph, Philip Toynbee mit Namen, war Journalist und veröffentlichte 1951 in England, Kanada und Israel einen Artikel zu Thomas Mann unter dem Titel „Isolated World Citizen“. Herr Dr. Stubers war so freundlich, uns den Artikel in Kopie und eigener Übersetzung zur Verfügung zu stellen. Sie finden beides im Anhang. Es ist interessant zu lesen, wie die englischsprachige Welt Thomas Mann in der Nachkriegszeit wahrnahm.
Unser sehr aktives Mitglied Marcus Pfeifer besuchte zudem in Düsseldorf die Inszenierung des „Zauberberg“, oder besser die szenische Umsetzung und Aktualisierung des Romans. Seine wohl ausgewogene Besprechung finden Sie gleichfalls im Anhang.
Ich traf bei verschiedenen Anlässen mit Vertretern der Görres-Gesellschaft und des Münster-Bauvereins zusammen. Es besteht großes Interesse an unserer Arbeit und auch an projektbezogenen Kooperationen. Ich werde diese Kontakte pflegen.
Feuilleton
Im Feuilleton gibt es heute nur einen kurzen Nachtrag zum letzten Rundbrief. Ich hatte Ihnen berichtet von Thomas Manns Nachwort zu Schickeles Roman „Witwe Bosca“. Inzwischen habe ich diesen selbst gelesen und war am Ende sprachlos und mußte erkennen, welch großartiger literarischer Ratgeber Thomas Mann doch ist: Der Roman spielt in Ranas-sur-Mer, das in keiner Landkarte zu finden ist, wohl aber nichts anderes darstellt, als das rückwärts gelesene Sanary ohne ‚Y‘. Ausgelöst durch einen Verkehrsunfall setzt ein zweifacher, miteinander verschlungener Reigen von Liebe und Leid ein, in deren Mitte die herrschsüchtige Witwe und ihre zarte Tochter stehen. Jedes Kapitel wird eingeleitet von einem impressionistisch duftenden Landschafts- und Naturbild, wie es nur Schickele schreiben kann ohne peinlich zu erscheinen. Und in diese Schilderungen ist stets ein Satz eingewoben, der die Verknüpfung zur Erzählung darstellt: Die Jahreszeiten in der Provence wechseln leise in der Nacht… Immer wenn dieser Satz fällt weiß man: jetzt geht wieder etwas gründlich daneben! Und dies auf unvergleichlich humorvolle Art und Weise. Ich gebe eine kurze Kostprobe: „Unterdessen mußte Juliette die Fahrstunden unterbrechen, weil die Regenzeit begann und der Scheibenwischer in seiner provenzalischen Wasserscheu den Dienst versagte, darin heimlich unterstützt vom Fahrlehrer, der es ablehnte, mit der Schülerin auf den glitschigen Straßen ums Leben zu kämpfen. Sie hatte den Mut eines betrunkenen Akrobaten, und er war ein nüchterner Schlosser.“
Auf bald Ihr Peter Baumgärtner
Anlagen Zauberberg Rezension Pfeifer | Artikel ISOLATED WORLD
Zauberberg Rezension Pfeifer
(zur aktuellen Inszenierung des „Zauberberg“ am Düsseldorfer Schauspielhaus)
Man(n) gendert! – Der Zauberberg und der in Bewegung geratene Geschlechterdiskurs
Es ist schon eine seit vielen Jahren feststellbare Mode, große klassische Romane der deutschen und überhaupt der europäischen Literatur zu Schauspielen umzuarbeiten und dann auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu präsentieren. Man denke etwa an Kafkas „Prozess“, den Dostojewskischen „Idiot“ oder Fontanes „Effie Briest“ – die es bereits in mehreren Versionen auf deutsche Bühnen geschafft hat. Warum das? Ein zentraler Grund für diese mittlerweile etablierte Mode mag es sein, dass diese Vorlagen den Regisseuren eben mehr geben können als das, was die heutigen Bühnenautoren so anzubieten haben in Sachen praller, bühnenwirksamer Geschichten, psychologisch interessanter Charaktere und Konflikte.
Auch Thomas Mann ist schon längst in die Fänge jener Romanumfunktionierer geraten. John von Düffel etwa, derzeit Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin, brachte schon etliche klassische Romane auf diese Weise auf die Bühne, 2005 erstmals die „Buddenbrooks“, die im Anschluss erfolgreich an mehreren deutschen Bühnen gezeigt wurden, es folgten „Joseph und seine Brüder“, mit wohl etwas weniger durchschlagendem Erfolg.
Dass man sich bei so einem Unternehmen künstlerische und gestalterische Freiheiten herausnimmt und angesichts der Form auch massive Veränderungen vornehmen muss – nicht zuletzt extreme Kürzungen, liegt in der Natur der Sache. John von Düffels „Buddenbrooks“ etwa fielen – nicht zuletzt, weil die Theaterfassung eines Erzählers ermangelte – eher mit auffällig knappen und lakonisch dahingeworfenen Sprachfetzen auf als mit den typisch Thomas Mannschen verschachtelten, kunstvoll gedrechselten Satzkonstruktionen – die auf der Bühne indessen ja auch sicher einiges undurchschaubarer wirken würden.
Wie steht es nun mit der Bearbeitung des „Zauberbergs“ für die Bühne? Tatsächlich gibt es in jüngster Zeit sogar zwei Unternehmen dieser Art zu verzeichnen, neben dem Düsseldorfer Projekt auch eines in Dresden. Die Düsseldorfer Fassung wurde vom hauseigenen Ensemblemitglied Wolfgang Michalek und der Dramaturgin Beret Evensen entwickelt. Bei den auf der Bühne Agierenden handelt es sich um die aktuelle Abschlussklasse der Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, die, man darf es vorwegsagen, aus dem Drehbuch das beste herausgeholt, und übrigens mit ihren Leistungen auch allesamt bestanden haben, konnte der Kritiker der Rheinischen Post vermelden.
Was die Notwendigkeit der Beschränkung betrifft, so reduzierte man in Düsseldorf das Personeninventar des Romans auf acht Personen – ausschließlich Patienten des Sanatoriums auf der Schatzalp in Davos. Auf einen Hofrat Behrens oder dessen ebenso umtriebigen Assistenten Dr. Krokowski sowie untergeordnetes Krankenhauspersonal – wie etwa die mit der Bewirtung beschäftigten „Saaltöchter“ – muss das Düsseldorfer Publikum also leider verzichten.
Der Einstieg in die Handlung fällt ähnlich aus: Hans Castorp kommt, in Gestalt einer liebenswerten, leicht unbedarft wirkenden und mit Skiern ausgerüsteten Unschuld vom Lande auf der Schatzalp an. Sie bekundet, drei Wochen bleiben zu wollen – und erntet schallendes Gelächter.
Der aufmerksame Leser wittert zurecht, dass Hans Castorp mitnichten von einem Schauspieler männlichen Geschlechts dargestellt wird, sondern von einer jungen Dame – in Gestalt der talentierten Blanka Winkler. Damit folgt der Regisseur einem weiteren aktuellen Trend an deutschen Bühnen, dem Trend zum Geschlechtertausch nämlich. Bei dieser Düsseldorfer Inszenierung mit einem leichten Frauenüberschuss mag der Geschlechtertausch ein wenig in der Zusammensetzung der Leipziger Abschlussklasse begründet liegen, eigentlich ohne Not ließ man aber hier nicht nur Hans Castorp von einer Frau, sondern auch dessen Geliebte Clawdia Chauchat von einem Mann spielen. Diese Entscheidung kann indessen als originell und gelungen kongenial angesehen werden, weil Thomas Mann in seiner Romanvorlage bei diesen beiden Figuren ja selbst Geschlechtergrenzen transzendiert hatte. Wird sich sein Protagonist Hans Castorp nach den ersten Flirts mit jener zarten und anmutigen asiatischen Erscheinung doch während einer Rast bei einem längeren Spaziergang in freier Natur darüber klar, woher diese Faszination stammt, die ihn so sehr für Chauchat einnimmt. Die traumhafte Erinnerung, in die er dabei ja bekanntlich hinabgleitet, will ihm jedenfalls bewusst machen, dass diese Verliebtheit in direktem Zusammenhang steht mit der einst nur flüchtigen Begegnung mit einem ähnlich anmutigen Jungen slawischer Herkunft im Jugendalter, als ein gewisser Pribislav Hippe ihm einen Bleistift auslieh – und ihn dabei auf magische Weise in seinen Bann zog.
Im Stück versinnbildlicht nun mit Valentin Stückl ein Schauspieler von ausgesprochen athletischer, dabei graziler Beweglichkeit – der eines gestandenen Balletttänzers, wohl sinnfällig die Aura, von der Hans Castorp sich einst vollkommen verzaubern ließ, lange bevor er sich zu denen droben in Davos begab.
Ein anderer massiver Eingriff: Das gesamte Bühnenpersonal tritt gleich zu Beginn des Stücks vollzählig auf der Bühne an und bleibt auch bis zum Ende daselbst, sogar ein Mynheer Peeperkorn – der doch im Roman erst viel später auftaucht als Clawdia Chauchat, Ludovico Settembrini oder Leo Naphta. Eine Sensation eigentlich, dass die naive und vergleichsweise unbedeutende Nebenfigur der Ellen Brand – das Medium, das im Roman zur Seherei befähigt ist und auf spiritistischen Sitzungen zur Geisterbeschwörung nutzbar gemacht wird – , ebenfalls das Privileg besitzt, in dieser Bühnenfassung gemeinsam mit anderen wohl schwergewichtigeren Köpfen aufzutreten. Allerdings gibt es für diese Ellen Brand dann noch nicht einmal die Gelegenheit, dieser ihrer Hauptfunktion in der Romanvorlage auch auf der Bühne Genüge zu tun – insbesondere nicht einen toten Joachim Ziemßen herbeizubeschwören, der in dieser Theater-Version ja auch bis zum Schluss quicklebendig mit von der Partie bleibt. Stattdessen steigt diese Bühnen-Ellen quasi zur Gestalt einer mondänen Conférencière durch das gesamte Stück auf (überzeugend gespielt von Caroline Cousin), die sogar als erste Figur auf der Besetzungsliste genannt wird – noch vor Hans Castorp.
Im Prinzip stellt diese Umsetzung des Romangeschehens dann eine Art durchgehende, lockere Dauerparty im Sanatorium dar, ohne jede Intimität, meistenteils indoors, teilweise aber auch auf den Liegen während der berühmten Zauberbergschen Liegekuren.
Die präsentierten Gespräche gleichen gelegentlich einer aufgeregten psychoanalytischen Gruppentherapie, sie stellen jedenfalls einen meist aufgeregt hektischen, durcheinander gehenden und oft genug geradezu rüpelhaften Smalltalk dar, bei dem jeder spontane Attacken gegen Gott, die Welt und die anderen Anwesenden loslässt und dabei auch stellenweise Themen der heute aktuellen Tagespolitik aufgreift. Überhaupt scheint man mit all dem nicht zuletzt einer aus den Fugen geratenen Gegenwartskultur den Spiegel vorhalten und etwa zweifelhafte Fernseh-Talk-Shows parodieren zu wollen. Gepflegte Konversationen oder doch zumindest eher dezenter Klatsch unter vorgehaltener Hand, wie sie der Zauberberg kennt, fallen hier weniger auf. Auch höchste Vertreter des Bildungsbürgertums wie Settembrini oder der im Roman doch immer nachdenkliche, ernsthaft aufmerksame und zartfühlende Hans Castorp erleben ab und zu total gestresst ihre Panikattacken und müssen sich dann erst einmal lautstark abreagieren. Mit den Gedanken von Erleuchteten, die vom Davosschen Götterhimmel erhaben über die beschränkte Menschenwelt in der zurückgebliebenen Ebene sinnieren – wie von den verantwortlichen Theatermachern dieses Stücks angedeutet und im Roman wesentlich deutlicher umgesetzt, hat das bei Licht besehen insgesamt denkbar wenig zu tun.
Und doch, im Laufe der Aufführung kommen schließlich auch die großen Themen des „Zauberberg“ recht deutlich zur Sprache, wenn auch sicher in einer intellektuellen Light-Version: die Relativität des Zeitbegriffs, das Verhältnis zwischen Krankheit und Tod, auch die Veredelung des Menschen durch die Krankheit, ein Prozess, der aber wohlgemerkt nur den Begabten vorbehalten sei. Dumme Menschen kämen nicht in den Genuss dieses Segens, sagt man sich, für die in Buch und ebenso im Schauspiel die Figur der Katharina Stöhr als Beispiel herhält. Diese Apotheose trivialen Halbwissens bekommt passend zum Stil der Bühnenfassung noch einiges mehr an Pointen zugeschustert als die Portion, die Thomas Mann ihr gönnte, und diese Figur wartet also nun des Öfteren mit grandiosen Demonstrationen ihrer genialen Einfältigkeit auf. So darf die Stöhr in Düsseldorf nicht nur von Beethovens [sic:] „Erotica“ schwärmen, wie sie das im Roman kurz nach Ziemßens Tod tat, sondern zudem ihr unsägliches Mitleid bekunden mit einer Ikone des Dauerleidens, einer gewissen kaiserlichen Madame namens Sisi Phuss, oder ihrer mehr oder weniger geneigten Zuhörerschaft den allgemeinen Ratschlag erteilen, man könne der Trübsal des Lebens eigentlich nur entfliehen, wenn man den Weg hin zur Literatur fände, bei einem persönlichen „Gang nach Cabanossi“.
Ansatzweise authentisch wird auch auf den großen Streit zwischen Lodovico Settembrini und Leo Naphta Bezug genommen, dessen Zeuge Hans Castorp in der Romanvorlage wiederholt wird. Diese beiden, die im Buch ja engagiert als Mentoren Hans Castorps um dessen Aufmerksamkeit und Gunst kämpfen, streiten sich auch im Düsseldorfer Schauspielhaus um die Antwort auf die große Frage „Was ist der Mensch?“ und um die damit verbundene elementare Frage nach den wirklich fundamentalen Idealen der Menschheit. Settembrini beschwört dabei die Individualität des Menschen und die Göttlichkeit menschlichen Gefühls, Naphta geht es um Vernunft, Gehorsam und ggf. um die Rechtfertigung staatlicher Gewalt, wo nicht gar der Herrschaft des Terrors. Dass nun ausgerechnet die Rolle des Settembrini, der, wenn man es so will, ja eher die weiblicheren, jedenfalls die weicheren Ideale vertritt, auch mit einer Schauspielerin besetzt ist, könnte traditionelle Klischeevorstellungen von Frauen eher bestätigen als in Frage zu stellen – wenn man es denn so sehen will.
Was aber auf sehr erfrischende Weise so einigen intellektuellen Ballast des Zauberbergs ersetzt – und auch anteilmäßig deutlich mehr Raum als im Roman bekommt, ist der Einsatz von Musik und Tanz, nach einer überzeugend gefälligen Choreografie von Bridget Petzold. Diese musikalischen Einlagen vermitteln diesem deutlich ans Boulevard-Theater erinnernden Stück Rhythmus und eine gewisse Eingängigkeit, einen wirksamen Charme sui generis. Mehrmals werden die überaus aggressionsgeladenen Spannungen – so gewollt humorvoll und slapstickartig sie auch präsentiert werden, effektvoll mithilfe der Tanzeinlagen ausgehebelt und auf ästhetisch eindringliche Weise plötzlich überdeckt, so dass man sich als Zuschauer auf einmal auf angenehme Weise mit hineingerissen fühlt in diesen Mahlstrom bürgerlicher Eitelkeit und Überdrehtheit, dem Trieb nach Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Auseinandersetzung – wohingegen es im Roman ja nur einmal – beim Karneval – zur Schilderung einer ansatzweise ausgelassenen Tanzszene kommt.
Und so tanzt Hans Castorp dann auch im Finale des Stücks nicht etwa ganz alleine symbolisch seinen Todestanz hinein in den Ersten Weltkrieg, um dort schlussendlich unterzugehen, sondern alle auf der Bühne Agierenden tanzen mit ihm – allesamt nun in blutrot verschmierten Gewändern – scheinbar sogar mit einer gewissen Begeisterung am Untergang.
Der im Anschluss an das Stück noch auf der Bühne ausgegebene Spendenaufruf für die Opfer des Kriegs in der Ukraine erinnerte nur allzu deutlich an die nicht unbedingt grundsätzlich anders gelagerte weltpolitische Lage, in der sich der heutige Zuschauer befindet.
So manch einer, der den Roman gelesen hat, mag beim Sehen staunen, was umtriebige moderne Theatermacher da aus einer Romanvorlage so zu machen verstehen. Man kann sich darüber köstlich amüsieren oder das als Dreistigkeit empfinden, jedenfalls aber auch die Erinnerung an die eigene Leseerfahrung Revue passieren lassen. Bleibt zu hoffen, dass die Begeisterung, mit der der Schauspielernachwuchs dieses Stück in Düsseldorf auf die Bühne gebracht hat, auch den ein oder anderen neuen Leser für die Lektüre dieses Jahrhundertromans gewinnen wird.
Artikel ISOLATED WORLD
Abschrift:
The Kingston Whig Standard Friday 14.12. 1951
(Gleiche Textfassung wie Observer, Observer Foreign News Service, No. 5589, 1951 „THE LONELY WORLD-CITIZEN“;
auch The Jerusalem Post, 28.12.1951, „AN ISOLATED WORLD CITIZEN“
ISOLATED WORLD CITIZEN
By Philip Toynbee
(Special to The Whig-Standard)
The figure of Thomas Mann has already been an elusive one, impossible to fit into any of the literary or political categories in which our minds rejoice. The frontispiece to a new American symposium shows a rather prim-looking moustached man, sitting upright in a Victorian armchair, a cigar between the fingers, and the two hands disdainfully holding a manuscript in front of his rimless spectacles. This might be a successful product of Harley Street or the City. And in fact Mann is the proud scion of a line of patrician business men from the Hanseatic town of Luebeck, and his first great novel, Buddenbrooks, was written both to honour and obituarize his own family. Not the least bewildering phenomenon about his life is that this mature and epic work was published when its writer was only twenty-five years old. Unlike poets, novelists are almost invariably late to develop, and their early work is usually best forgotten. But Mann’s first novel is comparable in stature to his last one.
In the literature of this century, Mann has always been a solitary figure, outside the changing fashions. If a contemporary English critic were asked to list the most important novelists of the last fifty years, he would probably mention four or five French names, four or five English ones and two or three Americans. Reminded of Mann, he would flick his fingers in exasperation at his omission, and quickly include him in an honourable position on his list. This is partly due to the very simple fact that Mann is a German. Not only is it true that in the past Germany has produced no novelist of world frame and reputation (unless Goethe be considered a novelist), but also Germany has always been culturally apart from that Mediterranean Europe to which, for cultural purposes, England undoubtedly belongs. (It is significant that Englishmen learn French before they learn German, and that France, not Germany, is the representative European country in the English mind).
* * *
For a long time Mann chose to emphasize this cultural isolation. He even rejoiced in it; and during the First World War he wrote a deeply and consciously pamphlet glorifying the cause of the German Empire. And one aspect of that was certainly the 2000-year old conflict between Northern and Southern Europe; between the Teutons and the peoples of the Mediterranean; more specifically, between Kultur and Civilisation. Teutonically enough, Mann describes his literary work during that war in military terms – “I bore the arms of thought for two years” and “returned a disabled veteran”.
But the stiff and constricting ideology of the German Junkers could not hold him for long; he is a man and writer of expansive spirit, and he was bound to break out of the self-elected bonds of his early nationalism. The rise of the Nazi-Party only hastened a process which was in any case inevitable. From the early twenties onwards Mann was an outspoken and representative figure of the democratic and “Europeanizing” Weimar Republic. He and his family left Germany when Hitler came to power in 1933, and since that time he was a militant opponent of all that his beloved Fatherland had become. Representative now of the “other” Germany, the exiles who had rejected their country’s perversion,
Mann wandered somewhat disconsolately from Switzerland to Czechoslovakia and back, before settling as last in America. He is now an American citizen, living his resolutely family life in California.
* * *
Yet in spite of Mann’s change of heart, in spite of the fact that he has become almost too good to be true in his perfectly genuine role of “world citizen”, Mann remains apart, both in his art and in peculiar atmosphere which surrounds him. His great novels, “The Magic Mountain”, the “Joseph” books, “Lotte in Weimar”, “Dr. Faustus”, are very different from each other. But none of them at all resembles any other novel of our time. He is the heir of Goethe and a writer of such voluminous intensity that more meagre contemporary talents are sometimes overpowered, almost appalled by his controlled exuberance. He cannot of course, be universal, as Goethe was before him, because our modern specialization of knowledge makes true universality impossible. But in his understanding of music and history, of psychology and theology, philosophy and medicine and archaeology, Thomas Mann is the nearest thing we have to a universal writer.
Yet he remains apart! As this very peculiar and adulatory symposium suggests, he is the God of a cult. Just as Marx was not a Marxist, so Mann is certainly not a Mannite. He is too sardonic to worship at his own shrine. But the members of his cult, often cranky, often hysterical and misguided in their praises, has made a kind of smoke screen round their idol which may easily offend a more cautious approacher. Behind it there sits a figure by no means Olympian; a writer who is often verbose and clumsy; a political moralist who is often platitudinous; but a great and dignified and humourous product of our age.
(OFNS Copyright)
Übersetzung Dr. Matthias Stuber, München
Isolierter Weltbürger – Der einsame Weltbürger – Der isolierte Weltbürger
Von Philip Toynbee
(Speziell zu ‘The Whig-Standard‘)
Die Figur des Thomas Mann war bereits schwer fassbar, unmöglich in eine der literarischen oder politischen Kategorien zu passen, derer sich unser Geist erfreut. Das Titelbild zu einer aktuellen amerikanischen Konferenz zeigt einen eher steif aussehenden Mann mit Schnurrbart, der aufrecht in einem viktorianischen Sessel sitzt, eine Zigarre zwischen den Fingern, und die beiden Hände, die geringschätzig ein Manuskript vor seine randlose Brille halten.
Dies könnte ein erfolgreiches Produkt von ‚Harley Street‘ oder ‚The City‘ sein. Und tatsächlich ist Thomas Mann der stolze Spross einer Reihe patrizischer Geschäftsleute aus der Hansestadt Lübeck, und sein erster großer Roman, Buddenbrooks, wurde sowohl zu Ehren als auch zum Nachruf seiner eigenen Familie geschrieben. Nicht das am wenigsten verwirrende Phänomen in seinem Leben ist, dass dieses reife und epische Werk veröffentlicht wurde, als sein Autor erst fünfundzwanzig Jahre alt war. Im Gegensatz zu Dichtern entwickeln sich Romanautoren meist immer spät und ihr Frühwerk wird normalerweise am besten vergessen. Aber Thomas Manns erster Roman ist in seiner Gestalt mit seinem letzten vergleichbar.
In der Literatur dieses Jahrhunderts war Thomas Mann immer eine „solitäre“ Figur, außerhalb der sich ändernden Moden. Wenn ein zeitgenössischer englischer Kritiker gebeten würde, die wichtigsten Romanautoren der letzten fünfzig Jahre aufzulisten, würde er wahrscheinlich vier oder fünf französische Namen nennen, vier oder fünf englische und zwei oder drei Amerikaner. An Thomas Mann erinnert, „schnalzte er verärgert über seine Unterlassung mit den Fingern“ und nahm ihn schnell in eine ehrenvolle Position auf seine Liste. Das liegt zum Teil an der sehr einfachen Tatsache, dass Thomas Mann ein Deutscher ist. Es stimmt nicht nur, dass Deutschland in der Vergangenheit keinen Romanautor von Weltruf und -ansehen hervorgebracht hat (es sei denn, Goethe wird als Romancier betrachtet), sondern Deutschland war auch kulturell immer von jenem mediterranen Europa getrennt, zu dem England für kulturelle Zwecke zweifellos gehört. (Es ist bezeichnend, dass Engländer Französisch lernen, bevor sie Deutsch lernen, und dass Frankreich, nicht Deutschland, das repräsentative europäische Land im englischen Kopf ist).
Lange Zeit entschied sich Thomas Mann dafür, diese kulturelle Isolation zu betonen. Er freute sich sogar darüber; und während des Ersten Weltkriegs schrieb er eine zutiefst und bewusst konservativen Text, in dem er das Deutschen Reiches glorifiziert. Und ein Aspekt davon war sicherlich der zweitausend Jahre alte Konflikt zwischen Nord- und Südeuropa; zwischen den Germanen und den Völkern des Mittelmeers; genauer gesagt, zwischen „Kultur“ und „Civilization“. Teutonisch genug beschreibt Mann sein literarisches Werk während dieses Krieges in militärischen Begriffen – „Ich trug zwei Jahre lang die Waffen des Denkens“ und „kehrte als versehrter, Veteran zurück“. Aber die strenge und einengende Ideologie der deutschen Junker konnte ihn nicht lange halten; er ist ein Mann und Schriftsteller mit expansivem Geist, und er musste aus den selbstgewählten Fesseln seines frühen Nationalismus ausbrechen. Der Aufstieg der NSDAP beschleunigte nur einen Prozess, der ohnehin unvermeidlich war. Seit den frühen zwanziger Jahren war Thomas Mann eine realistische und repräsentative Persönlichkeit der demokratischen und „europäisierenden“ Weimarer Republik. Er und seine Familie verließen Deutschland, als Hitler 1933 an die Macht kam, und seitdem war er ein militanter Gegner all dessen, was sein geliebtes Vaterland geworden war. Stellvertretend für das „andere“ Deutschland, die Exilanten, die die Perversion ihres Landes abgelehnt hatten, wanderte Thomas Mann etwas untröstlich von der Schweiz in die Tschechoslowakei und zurück, bevor er sich zuletzt in Amerika niederließ. Er ist jetzt amerikanischer Staatsbürger und lebt sein entschiedenes Familienleben in Kalifornien.
Doch trotz Thomas Manns Sinneswandel, trotz der Tatsache, dass er fast zu gut geworden ist, um in seiner vollkommen authentischen Rolle des „Weltbürgers“ wahr zu sein, bleibt Mann für sich, sowohl in seiner Kunst als auch in der eigentümlichen Atmosphäre, die ihn umgibt. Seine großen Romane „Der Zauberberg“, die „Joseph“-Bücher, „Lotte in Weimar“, „Dr. Faustus“ unterscheiden sich sehr voneinander. Aber keiner von ihnen ähnelt einem anderen Roman unserer Zeit. Er ist der Erbe Goethes und ein Schriftsteller von so umfangreicher Intensität, dass manchmal dürftigere, zeitgenössische Talente überwältigt werden, fast entsetzt sind über seine kontrollierte Ausgelassenheit. Natürlich kann er nicht so universell sein, wie Goethe es vor ihm war, weil unsere moderne Spezialisierung des Wissens wahre Universalität unmöglich macht. Aber in seinem Verständnis von Musik und Geschichte, von Psychologie und Theologie, Philosophie und Medizin und Archäologie kommt Thomas Mann einem Universalschriftsteller am nächsten.
Doch er bleibt für sich! Wie dieses sehr besondere und lobende Symposium nahelegt, ist er der Gott eines Kultes. So wie Marx kein Marxist war, so ist Thomas Mann sicherlich kein Mannist. Er ist zu „sardonisch“, um ihn in seinem eigenen Schrein anzubeten. Aber die Mitglieder seiner Sekte, oft launisch, oft hysterisch und fehlgeleitet in ihrem Lob, haben eine Art Nebelwand um ihr Idol gemacht, die einen vorsichtigeren Näherkommenden leicht beleidigen könnte. Dahinter sitzt eine Persönlichkeit, keineswegs olympisch; ein Schriftsteller, der oft ausführlich und ungeschickt ist; ein politischer Moralist, der oft platt ist; aber ein großes, würdevolles und humorvolles Produkt unserer Zeit.