Rundbrief Nr. 42 + Anlagen Thomas Mann in Georgien | Böker, Brecht, Mann

„Meine geehrten Zuhörer, wenn ich mich zu denen stelle, denen der Gedanke ›Europa‹ am Herzen liegt, wenn ich einem internationalen Nationalismus widerstrebe, der eine Weltlage zu begreifen sich weigert, welche eine neue Solidarität der Völker Europas gebieterisch […] fordert – so mögen wohl solche persönlich verbindenden Erfahrungen dabei im Spiele sein: das Erlebnis europäischer Solidarität…“

Diese Passage aus der Ansprache Thomas Manns zur 700-Jahr-Feier der freien Hansestadt Lübeck am 5.Juni 1926, die den Titel trug „Lübeck als geistige Lebensform“,

liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

diese Passage soll die Klammer bilden des heutigen Rundbriefs, in dem ich vor meiner Rückschau auf die Veranstaltung mit Tobias Schwarz und auf die Thomas-Mann-Tage mit Vordreude nach vorne schaue auf den georgischen Abend am 15. Oktober im Woelfl-Haus. Dort war man sehr fleißig und hat den Flyer entworfen, den Sie im Anhang finden, und hat auch bereits den Streaming-Link eingerichtet für alle, die nicht persönlich vor Ort sein können. Mit der eindrucksvollen Landschaftsaufnahme auf der Titelseite und den poetischen Liedzeilen ist er sehr schön geworden. So werden wir eben nicht nur den interessanten Vortrag von Frau Natia Choladze mit der Überschrift „Die sinfonische Architektonik von Thomas Manns Der Zauberberghören, sondern auch vieles erfahren über dieses kleine Land südlich des Kaukasus, gelegen zwischen Rußland und der islamischen Welt, das, wie mir auch Frido Mann am Rande der Tagung in Lübeck versicherte, stark nach Westen orientiert ist und in der literarischen Welt das Interesse an Thomas Mann groß. Lassen Sie uns daher im Sinne von Thomas Manns Lübecker Festrede am 15.Oktober im Woelfl-Haus zusammenfinden als eichen unserer Solidarität mit dieser uns so unbekannten Kulturnation Georgien.

Tobias Schwarz im Museum Alexander Koenig

Die Veranstaltung war mit über dreißig Teilnehmern gut besucht und wir wurden vom Direktor des Hauses Prof. Misof herzlich empfangen. Als Naturkundler sprach er von der Metamorphose, von der vollständigen Verwandlung der gefräßigen Raupen zu den leichten, kurzlebigen ephemeren Wesen, den Schmetterlingen, – man konnte nicht umhin, an Jonathan Leverkühn zu denken – und er schuf damit eine schöne Brücke zum Vortrag von Tobias Schwartz, der unter der Überschrift „Mein Thomas Mann – Eine Annäherung“ das Publikum fast eine Stunde lang in Bann hielt. Er schlug den weiten Bogen seiner frühen Leseerfahrung mit ›Tobias Mindernickel‹ bis hin zum ›Doktor Faustus‹, der ihn insbesondere während seines Philosophiestudiums stark beschäftigte und in ihm die Idee reifen ließ, einen solchen großen Roman zu entwerfen, der die jüngere deutsche Geschichte mit individuellen Schicksalen verbindet, eben jenen ›Morpho Peleides‹, den er 2019 vorlegte und der in seinen Moskauer Passagen geradezu prophetisch anmutet. Als ich bei meinen Dankesworten ankündigte, mit diesem Vortragstext unsere Schriftenreihe wieder aufleben lassen zu wollen, erntete ich große Zustimmung, war es doch ein Text, der zum Nachlesen auffordert. Inzwischen schickte mir Herr Schwartz vier weitere Texte (zu den Josephs-Romanen, zum Zauberberg etc.), die er für den Tagesspiegel verfaßt hatte und die in das Heft mit aufgenommen werden sollen. Die Vorbereitung der Publikation wird allerdings einige Zeit in Anspruch nehmen.

Lübecker Thomas Mann-Tage 2022
„Demokratie – eine innere Tatsache?“

Das titelgebende Zitat entstammt Thomas Manns Republik-Rede von 1922. Diese just 100 Jahre zurückliegende Ansprache stand im Mittelpunkt der Tagung. Es sei vorausgeschickt, daß die vollständigen Aufnahmen der Vorträge der Tagung online verfügbar sind, aktuell auf der Startseite www.thomas-mann-gesellschaft.de und dauerhaft in der Mediathek und in unserem Youtube-Kanal.

Unser Ortsverein war durch rund zehn Mitglieder vertreten, auch durch unser wohl jüngstes, jedenfalls erst jüngst eingetretenes Mitglied Frau Lara Wilken, die in Aachen Sprach- und Literaturwissenschaft. Zu meiner Freude fand sie in Lübeck direkt Anschluß zu den Mitgliedern des Jungen Forums und gewann vielfältige Anregungen.

Bereits am Freitag vor der eigentlichen Tagung wurde der Thomas-Mann-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München, und der Hansestadt Lübeck verliehen an den amerikanischen Bestsellerautor Jonathan Franzen. Franzen hatte vor einigen Jahrzehnten in München Germanistik studiert und war daher (schweißgebadet) in der Lage, Auszüge seines neuesten Romans ›Crossroads‹ in deutscher Übersetzung vorzulesen. Michael Maar hielt eine fulminante Laudatio auf den Autor, der es immer verstand, Dramen des Alltags und der innerfamiliären Konflikte in spannendste Literatur zu verwandeln. Und dennoch wurde ich den Eindruck nicht los, daß sich hier eher die Institutionen mit einem berühmten Preisträger schmückten, als dies umgekehrt eigentlich hätte sein sollen. Einem jungen Autor oder einer junge Autorin hätte der angesehene Preis zu einer größeren Beachtung in der Öffentlichkeit verhelfen können, die der hochsympathische Herr Franzen nicht nötig hat.

Am Samstagmorgen führte unser Präsident Prof. Hans Wißkirchen in das Thema der Tagung ein, die ja nichts weniger in den Blick nehmen sollte, als die Entwicklung Thomas Manns zum leidenschaftlichen Demokraten. Er steckte den Rahmen mit zwei Zitaten Siegfried Kracauers ab, die er meinem Rundbrief Nr.25 entnahm; jenem Text aus 1930, in dem Kracauer noch der Ansicht war, daß das sonderbare Liebeswerben des großen bürgerlichen Prosaisten um die Demokratie, […], ein Schauspiel unerquicklicher Art sei, und der Geburtstagsadresse Kracauers fünf Jahre später, in der dieser Manns historische Größe anerkennt und mit den Worten endet „Sich nach Ihnen zu bilden, wird eine der wenigen Hoffnungen sein, die den Deutschen geblieben sind.“

Der erste Tagesordnungspunkt war dann überschrieben mit „Thomas Mann kontrovers – 100 Jahre Republikrede“. Zwei Vorträge wurden gegenübergestellt: Zunächst jener von Dr. Caren Heuer, die die Rede in den Kontext des Krisenjahres 1922 stellte (Ermordung Walter Rathenau) und daher eine grundsätzliche Wende im Denken Thomas Manns konstatierte; und ohne im Grundsatz Frau Heuer zu widersprechen erkannte Dr. Tim Lörke eine Kontinuität im Denken Thomas Manns, eine noch zögerliche Veränderung seiner Ansichten, mußte diese Demokratie in den brutalen Wirren der Nachkriegszeit doch zuerst einmal fußfassen.

Ich konnte in diesem Zusammenhang nicht umhin, an die Buddenbrooks zu denken, in denen Thomas Mann die alte ständisch-monarchistische Ordnung in all ihrer erbarmungslosen Funktionalität ironisch karikierend darstellt, auch und gerade den Standesdünkel seiner Klasse, wenn zum Beispiel Thomas Buddenbrook so gar nicht damit einverstanden ist, daß Alfred Lauritzen, Colonialwaren, in den Senat einziehen soll.

Lauritzen sei zwar ein ehrenfester Mensch und ein ordentlicher Kaufmann, aber er sei Mittelstand, dessen Vater noch eigenhändig Heringe eingewickelt habe… Der fraglos konservativ denkende Thomas Mann hatte in dieser alten Ordnung seine jungen Jahre als sehr freier Künstler erlebt. Was er aus der Perspektive von 1922 von der Demokratie zu erwarten hatte, war für ihn noch mit vielen Fragezeichen behaftet.

Am Samstagmittag fanden dann diverse Workshops statt und ich nahm an einer literarischen Stadtführung teil, die in Lübeck auch regelmäßig angeboten werden und die ich begeisterten Buddenbrooks-Lesern sehr anempfehlen kann. Von der anschließenden Mitgliederversammlung verfertigt Frau Birte Lipinski ein Protokoll, das in Kürze verschickt wird.

Am Abend durften wir noch den Worten des ehemaligen Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert lauschen, der in seiner bekannt pointiert-ironischen Art zum Thema „Kulturstaat und Bürgergesellschaft“ referierte, die ich Ihnen dringend zum Online-Nachschauen anempfehle. Er betrachtete die gegenwärtige Situation kritisch und kenntnisreich ob der rechtlichen Grundlagen und verbreitete dennoch Zuversicht. Es besteht kein Grund, unser demokratisch-kulturelles Licht unter den Scheffel zu stellen.

Die gleiche Empfehlung des Nach-Schauens muß ich auch für den Vortrag Frido Manns vom Sonntagmorgen geben, allerdings mit dem Hinweis, daß dieses Video erst nach dem 14.10. freigeschaltet sein wird. An diesem Tag wird der Vortrag in der FAZ zu finden sein. – Sie können dann den Vortrag auch nachlesen.

Frido Mann hielt sich jedenfalls nicht mit einer Exegese der Reden seines Großvaters auf, sondern trat sogleich in dessen Fußstapfen, sprach über die Gegenwart und die Bedrohungen der Demokratie in unseren Tagen. Als amerikanischer Staatsbürger hatte er vor 2019 voller Sorge die Präsidentenwahl im Lande seiner Geburt verfolgt und diese Erfahrungen in dem Buch „Democracy will win“ gefaßt. Eindringlich forderte er dazu auf, sich einzubringen in den demokratischen Prozeß, die Vielstimmigkeit als Qualität anzuerkennen und sich nicht den vermeintlich einfachen Lösungen der autoritär-nationalen Gegenbewegungen zu ergeben, die mit nichts anderem als dem Begriff des Faschismus belegt werden müssen. Mit Sorge muß man nicht nur in die USA blicken, sondern auch nach Ungarn, nach Italien – gerade heute

– und, und, und… keiner möge sagen, Deutschland sei davor gefeit.

So sorgenvoll will ich den Rundbrief nicht enden lassen, sondern Ihnen noch einen Blick auf den Veranstaltungsort der Thomas Mann-Tage gönnen: Die Gemeinnützige wird sie in Lübeck nur kurz genannt, die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit, gegründet 1789. Ohne ein Fachmann Lübeckischer Stadtgeschichte zu sein, läßt das Datum aufmerken und uns eine Ahnung davon geben, in welchem gesellschaftlichem Rahmen Thomas Mann aufgewachsen ist. Weit entfernt davon, alle Menschen als gleichberechtigt zu betrachten, hatte man doch das Gemeinwohl im Blick. Die Gemeinnützige besteht noch heute und gibt in großer Regemäßigkeit die Lübeckischen Blätter heraus, für die unser alt- und wohlverdientes Vorstandsmitglied Karsten Blöker im Heft Nr.12 diesen Jahres einen sehr lesenswerten Artikel zur Vorgeschichte der Republik-Rede Thomas Manns geschrieben hat. Er lenkt den Blick auf Thomas Manns Lübecker Landsmann Arnold Brecht, der in Berlin als Ministerialdirektor im Innenministerium den groß angelegten Staatsakt zur Beisetzung Walter Rathenaus organisiert hatte und in diesen Tagen im Rahmen der „Nordischen Woche“ mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Thomas Mann zusammengetroffen war. Aber lesen Sie selbst den Anhang. Eine sehr interessante Fußnote zur Literaturgeschichte…

Lassen Sie uns nun unsere noch ungelenken Zungen zu dem Rufe schmeidigen: „Es lebe die Republik!“

Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

Anlagen Thomas Mann in Georgien | Böker, Brecht, Mann

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