November 2011

November 2011

Rückblick: Die Pietà Roettgen als Vorbild für Naphtas Pietà im „Zauberberg“ – Vortrag am 17. November 2011 im LVR-Museum

In der germanistischen Forschung unbestritten ist die seit 1912 im LVR-Museum Bonn (früher: Rheinisches Landesmuseum) befindliche gotische Pietà aus dem Nachlass des Sammlers Carl Roettgen das Vorbild für das im Besitz des Jesuiten Naphta befindliche Kunstwerk, von dem im „Zauberberg“ die Rede ist. Die Pietà war seit der „Großen kunsthistorischen Ausstellung“ (1902) in Düsseldorf der Öffentlichkeit bekannt, die Kunstwissenschaft wurde auf sie aufmerksam und es gab in der Folgezeit eine kontroverse Fachdiskussion über ihren künstlerischen Wert.

Wie Thomas Mann auf die Pietà und die wissenschaftliche Kontroverse um sie aufmerksam wurde, ist bisher nicht geklärt, allerdings muss er eine Abbildung gekannt haben, nur so ist die minuziös-tendenziöse Beschreibung des Werks durch den Erzähler im Kapitel „Vom Gottesstaat und von übler Erlösung“ zu erklären.

Die Referentin analysierte den entsprechenden Abschnitt, wobei sie aufzeigte, dass sich in den Kommentaren Naphtas, Settembrinis, des Erzählers und Hans Castorps zu dem Werk verschiedene Facetten einer Debatte der Kunstwissenschaft über ästhetische Wertungen zur Entstehungszeit des Romans spiegeln. Verwiesen wurde auf die damals bahnbrechenden Neuerungen des Expressionismus, in deren Gefolge eine Aufwertung der „primitiven“ Gotik durch die Künstler, aber auch durch die Kunstwissenschaft erfolgte. Vor diesem Hintergrund ist der Dialog der Romanfiguren über das Kunstwerk nicht nur Teil der Romanhandlung, sondern auch von wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung: Einer ablehnenden, bildungsbürgerlich normativen Position, die sich Antike und Klassizismus verpflichtet sieht, vorgetragen vom Erzähler und Settembrini, stehen die „moderne“, den expressiven Ausdruck des Kunstwerks verherrlichende Position Naphtas und die naiv-ganzheitlich fühlende Ergriffenheit Hans Castorps gegenüber.

Es konnte gezeigt werden, dass alle hier vorgetragenen Positionen Reflexe kontroverser kunstwissenschaftlicher Positionen der Pietà Roettgen gegenüber sind, die ihre Präsentation 1902 ausgelöst hatte.

Dr. Eva de Voss