Prof. Dr. Philipp Theisohn, Zürich: “Bürgerlicher Wandel über Theodor Storm und Thomas Mann bis heute“
Im Mittelpunkt des Vortrags von Herrn Theisohn stand die Novelle von Thomas Mann, „Tonio Kröger“, in der dieser sich explizit und zitierend auf den um zwei Generationen älteren und längst verstorbenen Theodor Storm bezieht. Theisohn setzte eine tiefe Werkkenntnis beider Dichter voraus, was in Teilen der Zuhörerschaft und auch bei mir in Sachen Storm nicht gegeben war. Neugierig auf dieses machte er das Publikum allerdings schon, legte er doch in aller Deutlichkeit das zwigespaltene Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit dar. Und just hier sah Thomas Mann seine Seelenverwandtschaft mit Theodor Storm. Es war für ihn durchaus eine existenzielle Frage, ob er als Sohn eines Großhandelskaufmanns und Senators es je wieder zu einem vergleichbaren bürgerlichen Ansehen bringen würde, und dies ohne sein Dasein als Künstler zu verleugnen. Beide Künstler konnten dies nur erreichen, indem sie den landläufigen Begriff dessen, was ein Bürger sei, in Frage stellten beziehungsweise erweiterten. Zum Bürgersein gehörte eben nicht nur das devote Funktionieren, sondern auch der Widerspruch, das Aufzeigen gesellschaftlicher Brüche, das Aufdecken von schamvoll Verschwiegenem. Dies sind wie gesagt meine eigenen Worte, nicht jene Theisohns, ein Weiterdenken nach seiner Inspiration und dabei bleibt es auch nicht aus, daß ich mich an die Begrifflichkeit von Hannah Rieger erinnere und frage, ob diese Bezugnahme auf den etablierten Dichter Storm Teil von Manns „self-fashioning“ war, und ob man die Buddenbrooks nicht auch als ‚talking cure‘ begreifen könne, ein Sprechen beziehungsweise Schreiben zum Zwecke der Linderung eigner Verlustschmerzen?
In dem Katalog ‚Bürger auf Abwegen‘ der letztjährigen Ausstellung in Lübeck und Husum kann man sich in dieses Thema sehr nachvollziehbar vertiefen. Darin wird insbesondere deutlich, wie Thomas Mann sein Vorbild Storm vor der Vereinnahmung des Nationalsozialismus zu bewahren suchte. Das Kapitel ‚Dichterängste‘ beschreibt die oben angesprochenen Themen in eindruckvoller Tiefe. Verwundert war ich nur, daß unter der Überschrift ‚Meeresrauschen: Todessehnsucht und Erlösungshoffnung bei Thomas Mann‘ der ‚Strandspaziergang‘ aus dem Zauberberg keine Erwähnung fand, der doch nur als gedanklicher Sehnsuchtsort in den Davoser Bergen seine Rechtfertigung findet.