Kategorie: Rundbriefe

  • (Weihnachts-) Rundbrief Nr. 45 + Anlage  Schischkin Thomas Mann Ukraine 



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    ich bin sehr froh, Ihnen noch vor Weihnachten mitteilen zu können, daß der Band 14 unserer Schriftenreihe erschienen ist. Im Heft:

    Tobias Schwartz:
    Mein Thomas Mann. Eine Spurensuche

    sind neben seinem Vortrag im Museum Koenig noch vier weitere, sehr lesenswerte Essays von ihm veröffentlicht. Alle Mitglieder unseres Ortsvereins erhalten traditionsgemäß ein Exemplar dieses Hefts gratis. Aber ich bitte um Verständnis dafür, daß ich für 90 Mitglieder keinen postalischen Versand vornehmen kann. Ich werde am kommenden Mittwoch, beim Vortrag von Prof. Wortmann einen Stapel dabei haben und bei allen künftigen natürlich auch. Sie können das Buch aber auch bei jeder Buchhandlung Ihrer Wahl bestellen, selbst bei der Versandbuchhandlung, deren Namen an die antiken Reiterkriegerinnen erinnert, ist es für zehn Euro erhältlich. Ich habe das Buch bei Books-on- Demand verlegen lassen und diesmal auch nur 100 Exemplare auf Vereinskosten vorfinanziert. Alle weiteren Hefte werden erst bei Bestellung produziert – sicher ein sehr zeitgemäßes Verfahren. In diesem Zusammenhang muß ich auch noch erwähnen, daß beim Umzug der Buchhandlung Böttger noch ein weiterer, großer Stapel alter Hefte aufgetaucht ist. So haben sich nun bei mir ca. 350 Hefte fast aller Bände von 1 bis 13 angesammelt, weshalb ich mich dazu entschlossen habe, diese an Mitglieder in Einzelheften zukünftig zu verschenken und an Nichtmitglieder für nur fünf Euro abzugeben und nicht mehr für zehn.

    So hoffe ich, daß wir uns am Mittwoch, den 14.12. um 18.30 Uhr in der früheren LESE zum Vortrag von Prof. Thomas (Wort-) Mann sehen werden.

    Abenteuertourismus im doppelten Sinne. »Thomas Manns „Eisenbahnunglück“ und das unbekannte(re) Werk«

    Auf eine weitere Veranstaltung darf ich Sie schon jetzt aufmerksam machen: Anlässlich des 90. Jahrestages des Festvortrages von Thomas Mann im Auditorium Maximum der Universität München mit dem Titel:

    »Leiden und Größe Richard Wagners«

    plant der Richard-Wagner-Verband Bonn e.V. in Zusammenarbeit mit unserem Ortsverein eine Veranstaltung zu diesem Thema. Mit diesem Vortrag begann das Exil Thomas Manns und seine Schmähung in den rechten Kreisen der untergegangenen Republik.

    Bernt Hahn liest die wesentlichen Passagen dieses Essays, ein musikalisches Rahmenprogramm ist in Vorbereitung. Weitere Informationen folgen nach den Feiertagen.

    An dieser Stelle muß ich noch die traurige Mitteilung in die Runde geben, daß das langjährige Mitglied unseres Ortsvereins Frau Rose Wolfgarten im vergangenen November plötzlich und unerwartet gestorben ist.

    Feuilleton

    Der eben erwähnte und uns wohlbekannte Schauspieler und Sprecher Bernt Hahn machte mich auf den russischen Schriftsteller Michail Schischkin aufmerksam, den er im Lew Kopelew Forum kennengelernt hatte, dessen tätiges Mitglied Hahn auch ist.

    Schischkin hatte 2019 mit dem jüngst verstorbenen früheren Vorsitzenden des Lew Kopelew Forums Fritz Pleitgen das Buch „Frieden oder Krieg“ herausgegeben. Eindringlich mahnte er darin den Westen, die Gefährlichkeit Putins nicht zu unterschätzen, warnte seine deutschen Freunde vor der Blauäugigkeit vor dessen Brutalität. Sein Blick auf seine russischen Landsleute ist nüchtern und illusionslos, sein Blick auf deren Staatsführung erbarmungslos. Er ist in den letzten Monaten vielfach im Fernsehen aufgetreten, auch die Veranstaltung im Lew Kopelew Forum ist online abrufbar. Man erlebt einen Mann, der seine ganze Sprachmacht in den Kampf wider die Diktatur in seiner Heimat wirft. In diesem Sinne hat er nun auch einen Text verfaßt, der überschrieben ist mit „Die russische Deutschstunde – Thomas Mann und die Ukraine“.

    Schischkin potenziert darin seine Sprachgewalt mit jener Thomas Manns. Die FAZ sagte ihm zu, dies Essay zu publizieren, hat dies bislang aber noch nicht getan. Herr Schischkin gestattete mir, Ihnen, quasi im privaten Kreis, den Artikel zur Lektüre zu geben, sie finden ihn im Anhang.

    Michail Pawlowitsch Schischkin (Михаил Павлович Шишкин) lebt seit einigen Jahren in der Schweiz, seine Romane wurden in alle Weltsprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Ich habe ihn für das Frühjahr nach Bonn eingeladen, bevor er in die USA auf Lesereise geht. Seinen mir bislang unbekannten Romanen nähere ich mich gerade an. „Die Eroberung von Ismail“ ist ein fulminanter Liebes- und Leidensreigen um Rußland, es ist, als wolle er den Mythos und die Macht seines Landes entschlüsseln, ich konnte nicht umhin, mich an Rushdies „Satanische Verse“ erinnert zu fühlen. Der Roman erschien im Jahr 2000. Inzwischen hat sich der Blick auf sein Land weiter eingetrübt. Wir können sehr gespannt auf ihn sein.

    Am Ende noch ein Hinweis auf eine literarische Veranstaltung der Görres-Gesellschaft: am 3. Februar 2023 kommt Hanns-Josef Ortheil nach Bonn in die Aula des Collegium Albertinum, um aus seinen Werken zu lesen. Dazu wird Frau Prof. Margit Haider- Dechant Stücke von Robert Schumann spielen, der ganz im Fokus dieses Abends stehen wird. Titel des Abends ist:

    „Von nahen Ländern und Menschen“

    Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite der Görres-Gesellschaft, Karten- bestellungen können über deren Geschäftsstelle vorgenommen werden: verwaltung@goerres-gesellschaft.de

    Vorbehaltlich eines nochmaligen Wiedersehens am Mittwoch bei Prof. Wortmann wünsche ich allen Lesern meiner Rundbriefe ein geruhsames Weihnachtsfest.

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    Anlage  Schischkin Thomas Mann Ukraine 

    Die russische Deutschstunde

    Thomas Mann und der Ukraine-Krieg

    «Das russische Volk ist stark im Hinnehmen, und da es die Freiheit nicht liebt, sondern sie als Verwahrlosung empfindet, weshalb sie ihm denn auch wirklich gewissermaßen zur Verwahrlosung gereicht, so wird es trotz schweren Desillusionierungen sich unter der neuen, roh-disziplinären Verfassung immer noch besser und richtiger in Form fühlen, immer noch „glücklicher“ sein als unter der Republik. Die unbeschränkten Belügungs-, Betäubungs- und Verdummungsmittel des Regimes kommen hinzu. Das intellektuelle und moralische Niveau ist längst so tief gesunken, daß der zu der eigentlichen Empörung notwendige Schwung einfach nicht aufzubringen ist“.

    In diesem Zitat aus dem Brief von Thomas Mann an René Schickele (2.04.1934) habe ich nur ein Wort ersetzt: „deutsch“ durch „russisch“. Die historischen Parallelen zwischen Nazi-Deutschland und Putin-Russland sind frappierend. Die jüngste russische Geschichte hat den deutschen Klassiker zu unserem Zeitgenossen gemacht.

    Sein ganzes Leben lang führte Thomas Mann ein Gespräch mit der russischen Literatur, noch kurz vor seinem Tod hat er über Tschechow geschrieben. Als junger Autor nahm er bei den russischen Schriftstellern Unterricht im Schreiben, jetzt erteilt er uns Unterricht im Überleben in Zeiten des Faschismus.

    Russische Kulturschaffende können heute besser nachvollziehen, was Thomas Mann und andere deutsche Intellektuelle gefühlt und erlebt haben: Die Sprache Puschkins und Tolstois wurde zur Sprache von Kriegsverbrechern und Mördern gemacht. Russland wird auf absehbare Zeit nicht mit russischer Musik und Literatur assoziiert, sondern mit Bomben, die auf Kinder fallen.

    Manchmal fahren auf einer Eisenbahnstrecke zwei Züge in dieselbe Richtung, Fenster an Fenster. Man nähert sich auf Armeslänge, man sieht die Leute im Nebenzug: Jemand liest, jemand döst, jemand schaut dich an. So sitzen wir, durch die Zeit voneinander entfernt und doch irgendwie gleichzeitig, in parallelen historischen Zügen, die in die Katastrophe rasen.

    Hitler schaffte es, das deutsche Volk seelisch zu verseuchen, nun hat es Putin mit meinem Volk getan. 1940 nannte Thomas Mann die deutschen Siege „Schritte in einem endlosen Sumpf“. Russland hat diese Schritte in den Abgrund fast buchstäblich wiederholt. Offene rassistische Propaganda im Göbbels-Stil. Russki mir als Großdeutschland. Die Krim als Sudetenland. Ukrainerhass als Judenhass. Putin als Führer: „Gibt es Putin – gibt es Russland!“

    „Leiden an Deutschland“ – so nannte Thomas Mann seine Tagebücher. In den 30er Jahren warnte er in vielen Publikationen vor der Gefahr des Hitler-Regimes und wurde von seinen Landsleuten nicht gehört. „Leiden an Russland“ – so könnte man unzählige Publikationen russischer Schriftsteller nennen, die jahrelang in oppositionellen Medien erschienen und vor der Gefahr des entstehenden faschistischen Regimes in Russland warnten. Meine Landsleute jubelten nur: „Die Krim ist unser!“

    Weder 1936 noch 2014 wurden die Aufrufe zum Boykott der Olympischen Spiele gehört. Nach Berlin kamen fast 50 Nationen, obwohl die „Nürnberger Rassengesetze“ bereits 1935 verabschiedet worden waren. Den großen Sieg des deutschen Sports privatisierte Hitler. Den großen Sieg des russischen Sports hat sich Putin zugeschrieben. Der Sieg gehört ihm mit Recht, denn er hat die Spezialoperation der Geheimdienste veranlasst, bei der die Urinproben der gedopten Athleten durch saubere ersetzt wurden.

    Thomas Mann scheiterte mit seinen Versuchen, die zombifizierten Deutschen wachzurütteln und musste emigrieren. Auch die russische Kultur lebt heute nur in der Emigration. In Russland muss man patriotische Lieder singen oder schweigen. „Kann aber die Kultur ohne das durch den Faschismus verpestete Territorium existieren?“ Thomas Mann hat uns die Antwort gegeben. Nach seiner Übersiedlung in die USA sagte er in einem Interview: „Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir.“ Am Beispiel Deutschlands erklärt er uns, warum Kultur und Putins Regime unvereinbar sind: „… In meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und

    Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden. … Es war nicht erlaubt, es war unmöglich, «Kultur» zu machen in Deutschland, während rings um einen herum das geschah, wovon wir wissen. Es hieß die Verkommenheit beschönigen, das Verbrechen schmücken“ („Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe“). Alle Diktatoren missbrauchen die Kultur, um ihre Verbrechen zu

    „schmücken“.

    Jede Diktatur lebt von Feinden und Kriegen. In seinem „Bonner Brief“ 1936 beschreibt Thomas Mann sowohl das Nazi-Deutschland als auch das Putinsche Machtsystem: „Sinn und Zweck des nationalsozialistischen Staatssystems ist einzig der und kann nur dieser sein: das deutsche Volk unter unerbittlicher Ausschaltung, Niederhaltung, Austilgung jeder störenden Gegenregung für den «kommenden Krieg» in Form zu bringen“.

    In den Vorkriegsjahren litt Thomas Mann – nicht weniger als an Deutschland – an der Duldung Hitlers durch den Westen, an der so genannten Appeasement-Politik. Auch Putins Einmarsch in die Ukraine war nur dank der jahrelangen Bemühungen der „Putin-Versteher“ in den demokratischen Ländern möglich. Der verzweifelte Aufruf russischer Schriftsteller zum Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 fand bei den westlichen Politikern kein Gehör. Der damals bereits vier Jahre andauernde Krieg gegen die Ukraine mit Tausenden Toten konnte keine Nation stoppen, nach Russland zu gehen und vor Putin Fußball zu spielen. Der Diktator nahm das als stillschweigende Zustimmung zu seiner Aggression wahr, der Weg zum 24. Februar 2022 war frei.

    Jetzt geriet die russische Kultur im Ausland unter die Walze des „culture cancelling“, so, wie damals die deutsche. Den amerikanischen Studenten, die sich weigerten, die Kultur und Sprache eines Landes zu erlernen, das eine menschenverachtende Ideologie und Krieg in die Welt brachte, antwortete Thomas Mann, dass die Abneigung gegen das politische Regime nicht auf die deutsche Kultur übertragen werden dürfe, sie habe damit überhaupt nichts zu tun. Das war im Jahre 1938. Später, als die Gräueltaten der Nazis bekannt wurden, änderte er seine Meinung. Die Verführung und Schändung der deutschen Nation durch Hitler sei bereits durch die deutsche Geschichte und Kultur, durch die deutsche Romantik vorbereitet. „Heruntergekommen auf ein klägliches Massenniveau, das Niveau eines Hitler, brach der deutsche Romantizismus aus in hysterische Barbarei, in einen Rausch und Krampf von Überheblichkeit und Verbrechen, der nun in der nationalen Katastrophe, einem physischen und psychischen Kollaps ohnegleichen, sein schauerliches Ende findet.“ („Deutschland und die Deutschen“). Nun müssen auch wir Russen die russische klassische Kultur aufarbeiten und unsere Literatur durch das Prisma des Ukraine-Krieges mit offenen Augen neu lesen. Das wird eine wichtige Erfahrung sein, denn wir haben nie aus dieser Perspektive auf unsere Klassiker geblickt, nie die imperialistischen Untertöne ihrer großen Romane wahrgenommen. Wir haben uns durch die berüchtigte Kinderträne aus den Brüdern Karamasow verführen lassen und Dostojewskis fanatische Aufrufe zum orthodoxen Kreuzzug gegen den Westen, seinen Hass gegen alle nicht slavischen Völker und seinen besonderen Hass gegen die Slaven, die Russland „verraten“ haben, als etwas nicht Relevantes übersehen. Wir haben Tolstois naive Behauptungen nicht ernst genommen, die Wahrheit lebe in den Analphabeten, den russischen Bauern, und nicht in der Bildung und Kultur, den sozialen und technischen Errungenschaften der westlichen Zivilisation.

    Und doch gibt es nichts, was der Barbarei entgegenzusetzen ist, als die Kultur. In seinem Roman Lotte in Weimar macht Thomas Mann Goethe zu seinem Avatar und spricht über das der Barbarei verfallene Volk: „Sie mögen mich nicht – recht so, ich mag sie auch nicht, so sind wir quitt. Ich hab mein Deutschtum für mich – mag sie mitsamt der boshaften Philisterei, die sie so nennen, der Teufel holen. Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins, und gings zu Grunde mit Stumpf und Stiel, es dauerte in mir.“ Deutschland ging zu Grunde vor den Augen des Schriftstellers, ruiniert von Hitler und seinem Krieg. Jetzt geht Russland vor unseren Augen unter. Damals ging es ums Überleben der deutschen Kultur, jetzt geht es ums Überleben der russischen.

    Thomas Mann lässt Goethe sein Deutschtum definieren: „Deutschtum ist Freiheit, Bildung, Allseitigkeit und Liebe, – daß sies nicht wissen, ändert nichts daran. Tragödie zwischen mir und diesem Volk“. Aber das ist mein „Russischtum“ auch: Freiheit, Bildung, Allseitigkeit und Liebe, und das hat weder mit Deutschland noch mit Russland zu tun. Das ist unser gemeinsames Menschentum, welches sich

    über das Nationale hinweg zur Weltkultur, zu unserem geistigen Zusammenleben auf der Erde entwickelt.

    Aber sind Symphonien und Poeme die Antwort auf Bomben und Gefängnisse? Die Besten Bücher der Menschheit handeln nicht vom Hass, sondern von der Liebe. Steht die Kultur gegen die Barbarei auf verlorenem Posten? Für Thomas Mann ist die klare Antwort: Nein! Die Kultur, die Demokratie, die Zivilisation muss sich verteidigen können. „Europa wird nur sein, wenn der Humanismus seine Männlichkeit entdeckt, wenn er lernt, in Harnisch zu gehen, und nach der Erkenntnis handelt, daß die Freiheit kein Freibrief sein darf für diejenigen, die nach ihrer Vernichtung trachten.“ („Humaniora und Humanismus, 1936). Nur „militanter Humanismus“ kann die Weltkultur retten. Die Barbarei muss mit Gewalt im Krieg besiegt werden. Das ist vielleicht die wichtigste Lektion von Thomas Mann an uns Russen: Wenn man das eigene Land liebt, muss man ihm in seinem ungerechten Krieg eine vernichtende Niederlage wünschen.

    Thomas Mann führte in den Radiosendungen „Deutsche Hörer!“ seinen persönlichen Kampf. In den ersten Ansprachen hegte er noch die Hoffnung, dass sein durch die Nazis verführtes Volk zur Besinnung kommt und sich gegen die Hitler-Diktatur erhebt. Der Schriftsteller war so naiv zu glauben, die Deutschen sehnten Hitlers Niederlage tatsächlich ebenso herbei wie er selbst. „Die Hölle, Deutsche, kam über euch, als diese Führer über euch kamen. Zur Hölle mit ihnen und all ihren Spießgesellen! Dann kann euch immer noch Rettung, kann euch Friede und Freiheit werden.“ (November 1941) Aber diese Hoffnung auf gesunde Kräfte in Deutschland schrumpfte schnell.

    Angesichts von ungeheuren Verbrechen des Regimes und einer schweigenden Bevölkerung begann er, von deutscher Kollektivschuld zu reden.

    „… Daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute. Das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: ‚Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung.‘“

    Das böse Russland Putins, das ist das fehlgegangene gute Russland, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Wie lässt sich erklären, dass Millionen russischer Männer und Frauen die Verbrechen des eigenen Staates unterstützen und gehorsam in den Krieg ziehen, um die Ukrainer zu töten? Wo liegt hier die Grenze zwischen dem bösen russischen Staat und dem guten russischen Volk?

    Wurde Thomas Mann von den deutschen Hörern überhaupt gehört? Oder waren seine Sendungen bloß verzweifelte Rufe ins Leere? Immer wieder sprach er über die Massenvernichtung der Juden überall dort, wo die Deutschen Fuß fassten – in Frankreich, Österreich, Polen. „Nach den Informationen der polnischen Exil-Regierung sind alles in allem bereits 700.000 Juden von der Gestapo ermordet oder zu Tode gequält worden […] Wißt ihr Deutschen das? Und wie findet ihr es?“ (27.09.1942) Die Antwort lautete 1945: „Wir haben nichts gewusst.“

    Ich nehme an, Thomas Mann wurde während des Kriegs von den meisten im eigenen Land als Verräter wahrgenommen. Genauso wie die emigrierten russischen Autoren, die jetzt die Ukraine unterstützen. Alle im Internet publizierten Bücher und Artikel von mir und anderen regimekritischen Schriftstellern können die Massen in Russland nicht erreichen, die ihrem Führer in den Abgrund folgen. Hat Thomas Mann auch als „Vaterlandsverräter“ Morddrohungen von seinen Landsleuten bekommen?

    Jahrelang hat er seine Radioansprachen gemacht, auch ohne zu wissen, ob jemand seine Stimme hört. Für «deutsche Hörer» waren seine Worte gefährliche Botschaften. Sogenannte Rundfunkverbrechen wurden streng geahndet und bestraft – sogar Todesstrafen wurden verhängt. Diese Ansprachen waren vor allem für ihn selbst überlebenswichtig. Sie waren sein Kampf gegen Hitler und für die deutsche Kultur, für die deutsche Sprache. „Überleben hieß: siegen. Ich hatte gekämpft und den Lästerern der Menschheit Hohn und Fluch geboten, indem ich lebte: also ist es, auch persönlich, ein Sieg“ („Entstehung des Doktor Faustus“ 1949). Er verteidigte sein Deutschland, sein Deutschtum der Freiheit, Bildung, Allseitigkeit und Liebe. Er gab uns ein Beispiel dafür, dass Schriftsteller den Kampf nicht aufgeben müssen, auch wenn sie von den Lesern abgeschnitten sind, vom eigenen Land verraten und

    verleumdet werden. Jetzt müssen wir unsere russische Sprache gegen Putin und die Kriegsverbrecher verteidigen, wie Thomas Mann seine Sprache verteidigte. Fast im Alleingang, als „Vaterlandsverräter“ gegen das eigene Land, gegen das eigene Volk.

    Am 28. März 1942 wurde Manns Vaterstadt Lübeck von den Alliierten angegriffen, als Vergeltung für die Vernichtung von Coventry. Hunderte starben im Feuer, auch sein Buddenbrook-Haus wurde zerstört. Die anschließenden Worte fielen ihm nicht leicht: „Ich denke an Coventry – und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muß“. Galt die Kollektivschuld auch für die getöteten deutschen Kinder? Mussten sie durch ihren Tod für den Tod der englischen Kinder bezahlen?

    Mit Wut beschwört Thomas Mann die Bombardierung der deutschen Städte: „Zweitausend Lufthunnen täglich über diesen Lügensumpf, – es gibt nichts anderes. Diese unmäßige Niedertracht, dieser revoltierende, den Magen umkehrende Betrug, diese schmutzige Schändung des Wortes und der Idee, dies überdimensionierte Lustmördertum an der Wahrheit muss vernichtet, muss ausgelöscht werden um jeden Preis und mit allen Mitteln.“ (28. März 1944)

    Meine ukrainischen Freunde sagen: „Wenn nach jeder Rakete, die auf Charkiv oder Kiev fällt, eine Rakete in Moskau oder Sankt-Petersburg explodiert, dann wird der Krieg schneller zu Ende gehen. Das ist der einzige Weg zum Frieden.“ Müssen jetzt russische Kinder durch ihren Tod für den Tod der ukrainischen Kinder bezahlen?

    Thomas Mann gibt Antworten, aber es sind seine Antworten auf meine Fragen. Hat ein Emigrant weit weg vom Krieg überhaupt das moralische Recht, dem ganzen Volk Kollektivschuld zu geben? Sollen auch russische Städte „unter einem Regen aus Feuer und Schwefel“ untergehen, wenn das der Preis für den Frieden ist? Wenn man sagt, dass alles bezahlt werden muss, nimmt man in Kauf, dass die heute noch lachenden Kinder bald der Kollektivschuld zum Opfer fallen werden. Bin ich bereit, diese Verantwortung zu übernehmen?

    „Es wird mehr Lübecker geben, mehr Hamburger, Kölner, Düsseldorfer, die dagegen auch nichts einzuwenden haben. Und wenn sie das Dröhnen der Royal Air Force über ihren Köpfen hören, ihr guten Erfolg wünschen.“ Werden meine Landsleute ukrainischen Raketen guten Erfolg wünschen können?

    Thomas Mann hat an die Zukunft seines Landes geglaubt. „Die Gnade ist höher als jeder Blutsbrief. Ich glaube an sie, und ich glaube an Deutschlands Zukunft, wie verzweifelt auch immer seine Gegenwart sich ausnehmen, wie hoffnungslos die Zerstörung erscheinen möge. Man höre doch auf, vom Ende der deutschen Geschichte zu reden! Deutschland ist nicht identisch mit der kurzen und finsteren geschichtlichen Episode, die Hitlers Namen trägt.“ („Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe“) In der Zerstörung des Staates, der zum Instrument der Gewaltherrschaft wurde, sah Thomas Mann eine Chance: „Goethe ging, wenigstens in mündlicher Unterhaltung, so weit, die deutsche Diaspora herbeizuwünschen. ,Verpflanzt‘, sagte er, ,und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden!‘ Und er fügte hinzu: ,um die Masse des Guten, die in ihnen liegt, ganz und zum Heile der Nationen zu entwickeln.‘ Die Masse des Guten – sie ist da, und in der hergebrachten Form des nationalen Staates konnte sie sich nicht erfüllen.“ („Deutschland und die Deutschen“)

    Thomas Mann konnte an eine demokratische Zukunft Deutschlands glauben, da diese Zukunft nach der Zerstörung des Nazi-Staates von den Alliierten gesichert wurde. Wie würde die deutsche Zukunft aussehen, wäre die Gestapo an der Macht geblieben? Wie soll die Zukunft meines Landes aussehen? Wer wird die demokratische Zukunft Russlands sichern? Wer wird die Entputinisierung durchführen? Der nächste Putin? Wer wird „Nürnberger Prozesse“ gegen die Kriegsverbrecher durchführen? Die Kriegsverbrecher selbst? Glaube ich an eine demokratische Zukunft Russlands?

    Seine letzte Radioansprache am 10. Mai 1945 beendete Thomas Mann mit den Worten: „Ich sage, es ist trotz allem eine große Stunde: die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit.“ Wird diese große Stunde überhaupt kommen: die Rückkehr Russlands zur Menschlichkeit?

  • Rundbrief Nr. 44 + Anlagen Stefan Zweig in Amerika | Jan Assmann | Bilder | Lieder



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    ich erlaube mir, Sie nochmals auf den Vortrag von Prof. Wortmann am Mittwoch, den 14.12. um 18.30 Uhr hinzuweisen. Er findet im Clubraum des Verwaltungsgebäudes der evangelischen Kirchen Bonns statt, den man früher nur als LESE angekündigt hätte. Bei dem gewählten Titel „Abenteuertourismus im doppelten Sinne. »Thomas Manns „Eisenbahnunglück“ und das unbekannte(re) Werk« erinnerte ich mich an Wortmanns Vortrag im Januar dieses Jahres bei der Thomas- Morus-Akademie in Bensberg. Im Rundbrief Nr. 36 hatte ich geschrieben: „Er berichtete über die Statussymbole von Thomas Mann und machte dies an der frühen Erzählung ‚Eisenbahnunglück‘ fest, die einen weit weniger dramatischen Verlauf nimmt, als der Titel vermuten läßt, schildert sie doch eine Begebenheit, die TM 1906 selbst erlebt hatte. Prof. Wortmann, in Mannheim lehrend aber aus dem Rheinland stammend, ist bei aller Wissenschaftlichkeit mit einem humorvollen Redefluß gesegnet. Es war erstaunlich, wie er mit seinem germanistischen Analysebesteck diesen kurzen Text zergliederte und erstaunliche Erkenntnisse zutage förderte.“

    Die Erinnerung daran erfüllt mich mit Vorfreude auf den Abend, den wir nun Mitte Dezember mit ihm erleben dürfen. Wer zuvor schon die Bekanntschaft mit ihm machen möchte, kann dies bereits am kommenden Donnerstag tun, wo er wieder an einer Veranstaltung der Thomas-Morus-Akademie teilnimmt, die auch online besucht werden kann. Gegenstand des Abends ist der preisgekrönte Spielfilm von Maria Schrader:

    »Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika«.

    Als Anlage 1 zum Rundbrief finden Sie die entsprechende Ankündigung im Akademieprogramm.

    Ein zweiter, externer Veranstaltungshinweis betrifft wieder Thomas Mann. Der uns wohlbekannte Ägyptologe Jan Assmann wird als Gast der ETH in Zürich einen Vortrag unter dem Titel

    «Thomas Manns ‹Morgenlandfahrt› – die Josephsromane»

    halten. Auch an dieser Veranstaltung können Sie online teilnehmen. Nähere Angaben finden Sie in der Anlage 2.

    Doch nun zur Rückschau auf unsere eigene Veranstaltung, zu unserem Georgienabend im Woelfl-Haus. Hier präsentierte zunächst Frau Natia Tcholadze eine Kurzfassung ihrer Promotionsarbeit zur »Sinfonischen Architektonik von Thomas Manns Zauberberg«. Ihr Vortrag war neben ihren literarischen Kenntnissen von einem breiten musikalischen Wissen geprägt. Mit Unterstützung von Herrn Prof. Hermann Dechant bereiten wir eine Publikation vor. Frau Dr. Tcholadze ist inzwischen Mitglied unseres Ortsvereins, zwei weitere (Geschenk-) Mitgliedschaften sind in Vorbereitung; Frau Tcholadze denkt darüber nach, in ihrer Heimat- und Universitätsstadt Kutaissi einen eigenen Ortsverein zu gründen. Im Briefwechsel mit ihr spüre ich, wie sie – bei all ihren Sorgen ob des nahen Krieges – in der Beschäftigung mit der Literatur ihren seelischen Ausgleich findet.

    Für den zweiten Teil des Abends hatte unser Mitglied Frau Ekaterine Horn für wundervollste Unterhaltung gesorgt: Georgische Volkslieder vorgetragen von Rezo Tschchikwischwili und Nino Winjbergen-Shatberashvili (wer die beiden Nachnamen unfallfrei ausspricht, erhält einen Preis) Beide waren überaus hinreißend, Nino mit all ihrer Schönheit, Stimme und Ausstrahlung, Rezo als Vollblutschauspieler, Komödiant, Pianist und Gitarrist einzigartig. Im Nachgang lud Frau Prof. Haider-Dechant die Künstler noch zur Brotzeit in der Bauernstube ein, wobei sich in bester Stimmung Rezo T. alsbald als Tamada (თამადა – „Tischführer“) bewährte und mit einem herzlichen Gaumarjos (გაუმარჯოს – „Prost“) immer wieder sein Glas erhob – womit Sie hiermit auch ihre erste Unterrichtsstunde in Georgisch erhalten hätten. In der Anlage 3 finden Sie einige photographische Eindrücke des Abends, in Anlage 4 die Übersetzungen der Liedtexte von Ekaterine Horn. Die Veranstaltung ist übrigens noch im Netz abrufbar: All jene, die ein Streaming-Ticket gelöst hatten, können die Aufzeichnung beliebig oft ansehen, die Gäste, die am Abend vor Ort waren, können auf Nachfrage im Woelfl-Haus einen entsprechenden Link erhalten, und all jene, die ich nun neugierig gemacht habe, können im Nachgang ein entsprechendes Ticket erwerben. Es kostet wie immer 22,- Euro. Da mit den bereits erzielten Einnahmen alle Unkosten des Woelfl-Hauses beglichen werden konnten, können wir alle zusätzlichen Einnahmen zum weiteren Ausgleich der Honorare nutzen. Falls also Interesse besteht, bitte ich den Betrag auf das Konto unseres Ortsvereins zu überweisen und mir dies mitzuteilen. Vom Woelfl- Haus wird Ihnen dann der Link übermittelt. Ich wünsche Ihnen damit viel Freude!

    Noch ein Satz zur Publikation des Vortrags von Tobias Schwartz im Museum Koenig: Die Druckvorlage ist fertig, die ISBN wird gerade besorgt – ich hoffe noch auf eine Auslieferung vor Weinachten.

    Feuilleton

    Dieser Tage meldete sich Frau Dr. Ulrike Keim bei mir und berichtete, daß sie gerade vom Verlag druckfrisch eine Reihe von Exemplaren des von ihr verfaßten Buches, von der Biographie Martin Gumperts, des Freundes von Thomas Mann, erhalten habe. Sie übergab mir ein Exemplar – ich habe es sofort ‚verschlungen‘. Hier mein Bericht:

    Ein außergewöhnliches Leben in zwei Welten – Der Arzt, Dichter, Forscher und Schriftsteller Martin Gumpert.

    Mit diesem außergewöhnlich langen Titel ist das Buch soeben im Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte überschrieben. Autorin ist die Bonner Ärztin Frau Dr. Ulrike Keim, die auch einmal einige Semester Germanistik studierte und somit prädestiniert war, ein Lebensbild dieser schillernden Figur Martin Gumpert (1897-1950) zu verfassen. In jahrelanger Arbeit hat sie sich Quellen erschlossen, die bislang unbekannt waren. Als Sohn eines Arztes in Berlin stieß Gumpert schon als Schüler zum Dichterkreis der Expressionisten, mußte im Krieg Lazarettdienste leisten, verlor seine erste große Liebe durch die spanische Grippe, studierte Medizin, entwickelte sein berufliches Ethos, nachdem der Arzt auch immer das soziale Umfeld des Kranken im Blick haben muß, wurde angesehener Dermatologe, bevor ihn die Nazis 1933 mit Berufsverbot belegten. Er besinnt sich zurück auf seine frühe Leidenschaft, das Schreiben. So erschien 1934 sein erster Roman: „Hahnemann – Die abenteuerlichen Schicksale eines ärztlichen Rebellen und seiner Lehre der Homöopathie“. Als Autor dieses Buches ist er Thomas Mann bereits bekannt, als Gumpert ihn 1935 in Kilchberg besucht und eine lebenslange Freundschaft ihren Lauf nimmt.

    1937 findet er auch zur Lyrik zurück, allerdings hat er den Expressionismus hinter sich gelassen, vielmehr blickt er in dem Band „Berichte aus der Fremde“ in einem ‚prosaischen Alltagston‘ auf sein Leben zurück.

    1933 begann man dort Meine Freunde zu quälen, meine Sprache zu schinden. Schmutz und Unrat befielen das Land. Ich habe versucht es zu ertragen.

    Thomas Mann verwendet sich für ihn, legt ein gutes Wort für ihn ein bei Ferdinand Lion, dem Herausgeber von ‚Maß und Wert‘. An Gumpert schrieb er dann: „Er ist ein häkelig-mäkelig Köpfchen, und ich glaube, Sie können sich etwas einbilden darauf, daß er doch wenigstens eines Ihrer Gedichte mit spitzen Fingern […] ausgewählt hat…“

    Nun, 1937 war er bereits ein Jahr in den USA, es war eben nicht mehr zu ertragen in Deutschland. In New York angekommen mietete er sich im Bedford-Hotel ein und verliebte sich alsbald in Erika Mann und eine Amour fou zweier ganz gegensätzlicher Persönlichkeiten nahm ihren Lauf: Der sein inneres Feuer immer bändigende, sanfte Martin Gumpert konnte die extrovertierte, laute, oft provokante Erika Mann auf Dauer nicht an sich binden. Die Briefe der beiden aneinander, die Frau Keim zitiert, sind dennoch geprägt von höchstem Respekt füreinander. Vom Auf und Ab dieser Beziehung unberührt bliebt das sehr freundschaftliche Verhältnis zu Katia und Thomas Mann. Als Beweis höchster Zuneigung ist daher das Bildnis Gumperts als Mai-Sachne im vierten Band der Josefs-Tetralogie zu werten. So heißt es dort, er habe „…beides vereint, nicht heute ein Arzt und Schreiber ein andermal, sondern dieses in jenem und eines zugleich mit dem anderen, worauf man den Ton legen muß, denn meiner Meinung nach ist es von vorzüglichem Wert.“

    Dann der Doktor Faustus: Welch besseren Berater in Sachen Syphilis hätte Thomas Mann sich wünschen können, als den Dermatologen Gumpert? Dann Manns Lungenkrebs – Katia sucht Rat bei Martin Gumpert. Aber dann: Martin Gumpert erleidet 1946 einen ersten Herzinfarkt. Thomas Mann ist tief erschrocken, möchte seinen Freund auch weiter an seiner „Seite wissen“ und ermahnt ihn: „Achten Sie also auf meinen Vorsprung und kommen Sie bald wieder auf die Beine!

    Nun, Gumpert achtete den Vorsprung nicht und starb 1955 drei Monate vor Thomas Mann.

    In Ulrike Keim hat Martin Gumpert eine Biographin gefunden, die ihm in Sachen Leidenschaft in nichts nachsteht. Sie hat das Feuer dieses hochsympathischen Humanisten trefflich eingefangen. Selbst die medizinischen Passagen sind für Laien gut verständlich. Wir werden im nächsten Jahr sicher eine Veranstaltung mit ihr machen – aber besorgen Sie sich vorab schon das Buch, es wird Sie bereichern. Wer sich noch einen weiteren Eindruck von Martin Gumpert verschaffen will – und auch die Stimme von Frau Keim hören möchte -, kann sich in der Mediathek des WDR das Zeitzeichen vom 13.11.2022 anhören, darin wurde an den 125. Geburtstag Gumperts erinnert.

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    Anlagen Stefan Zweig in Amerika | Jan Assmann | Bilder | Lieder

    Stefan Zweig in Amerika

    KulturGut | AkademiePlus | Online-Programm

    Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika

    Preisgekrönter Spielfilm von Maria Schrader (2016)

    24. November 2022 (Do.) | 19.30 Uhr bis 21.00 Uhr

    Stefan Zweig gehörte mit seinen brillanten psychologischen Novellen zu den populärsten deutschsprachigen Schriftstellern seiner Zeit. Als jüdischer Intellektueller und radikaler Pazifist trat er dem aufkeimenden Nationalismus entgegen und musste schließlich fliehen – um dann in Brasilien den Freitod zu wählen.

    „Vor der Morgenröte“ ist ein elegant bebildertes und hochkarätig besetztes filmisches Epos über die Exiljahre des Schriftstellers. Maria Schraders preisgekröntes Werk von 2016 lässt eine untergegangene Weltordnung erahnen, in der der Protagonist noch angesichts des Abgrunds ein zukünftiges geeintes Europa erträumt.

    Unter sachkundiger Leitung des Germanisten Prof. Dr. Thomas Wortmann, Universität Mannheim, widmet sich das KinoKolloquium dem gemeinsamen, moderierten Gespräch rund um den Film. Nach einem eingehenden Vortrag von Prof. Wortmann zu Entstehungsgeschichte, Besetzung, Motiven und Hintergründen wird Gelegenheit zu Gespräch und Austausch geboten.

    Der Film selbst wird allen angemeldeten Gästen vorab per Link zugesandt und kann bis zur Veranstaltung jederzeit und beliebig oft geschaut werden.

    Jan Assmann

    Thomas Mann Lecture mit Jan Assmann

    Am 30. November 2022 ist der Kulturwissenschaftler und Ägyptologe Jan Assmann zu Gast an der ETH Zürich. Er spricht über Bezüge zwischen den Werken von Thomas Mann und Hermann Hesse.

    Thomas Mann und Hermann Hesse pflegten einen jahrzehntelangen Austausch: Mann schätzte Hesses «Der Steppenwolf» und sah «Das Glasperlenspiel» in Verbindung mit seinem eigenen Roman «Doktor Faustus». Jan Assmann geht in seinem Vortrag auf die weniger etablierten Bezüge zwischen den Werken beider Autoren ein und zeigt die Zusammenhänge zwischen Hesses «Glasperlenspiel» und Manns Josephsromanen auf.

    Die Thomas Mann Lecture findet in diesem Jahr wieder in Präsenz statt. Jan Assmann hält seinen Vortrag mit dem Titel «Thomas Manns ‹Morgenlandfahrt› – die Josephsromane» am 30. November 2022 um 18.00 Uhr, im Audi Max der ETH Zürich. Gleichzeitig kann die Veranstaltung online verfolgt werden.

    Thomas Mann Lecture mit Jan Assmann – Thomas-Mann-Archiv | ETH Zürich

    Bilder

    Lieder

    1.    Georgien, meine Schöne

    Ein Wiegenlied singt mir der Wind Die Platane erzählt ein Märchen,
    Die Trauerweide hat mich wie ein Kind Mit seinen hängenden Ästchen
    mit Zärtlichkeit und Eifersucht erfüllt!
    Refr.:
    Georgien, meine Schöne, Wer ist schöner als Du?

    2.    Suliko

    Sucht ich, ach, das Grab meiner Liebsten Fragend überall: Wer weiß wo?
    Weinend klagte ich oft mein Herzelend: Wo bist du, mein lieb Suliko?
    Blühte dort am Waldrand die Rose, Morgensonnenschön, still und froh.
    „Fragt ich hoffnungsvoll das Blümlein: Sag, bist du mein lieb Suliko?“
    Sang die Nachtigall in den Zweigen. Brannte mir das Herz lichterloh
    „Sag mir doch, du holde Sängerin Bist gar du mein lieb Suliko?“
    Neigt die Nachtigall drauf ihr Köpfchen, Aus der Rosenglut klang es so Silberhell und tröstend wie ihr Lied:
    „Ja, ich bin‘s, ich bin Suliko!“ (Deutsche Übersetzung von Ernst Busch)

    3.    Das Schicksalsrad

    Überall war ich auf der Suche nach dem Schicksal, Die Zeit und Augenblicke machten mich nieder, Die Schuld der Sühne trifft man immer wieder, Warum wird der Himmel dabei nicht finster?
    Refr.:
    Das Schicksalsrad dreht sich in Eile, Mit uns geht die Zeit zur Neige,
    Wer weiß, wer kann die Wunden heilen? Das Schicksalsrad dreht sich in Eile.

    4.    Der sentimentale Tango

    Die Berge sind voller Wehmut
    Und die Dämmerung macht sich breit, Alles verschwindet in Demut
    Und die Brücke der Treue entzweit.
    Alles verschwindet spurlos, Der Zweig der Treue verwelkt, Alles geschieht zeitlos
    Bis der Frühling wieder alles erhellt!
    Refr.:
    Das Leben singt, das Licht singt, Dieses Herz zwitschert: „Ich liebe Dich!“

    5. Wenn der Mond aufgehen möchte

    Vor dem Aufstieg des Mondes am Himmel, laufe ich entlang des Flussufers singend.
    Refr.:
    Komm Frühling, komm Liebe zurück zu mir, Ich sehne mich so sehr nach Dir!

    6.    Der bunte Schmetterling

    Flieg doch bitte langsam,
    Du, mein bunter Schmetterling! Flieg nicht weit und einsam
    Aber auch nicht zurück, Du Liebling!
    Refr.:
    Oh, Du bunter Schmetterling, Flieg doch nicht so beschwingt!

    7.    Nebel im Herbst

    Herbstlich liegen die Nebelschwaden, Die Schwalben fliegen weit weg, Willst Du mir wirklich sagen,
    Dass Du gehst, welch ein Schreck!
    Refr.:
    Ich kann es gar nicht wagen, Meinen Schmerz Dir zu sagen, Habe ich Dich so verletzt, Dass Du mich jetzt verlässt?

    8.    Im Frühling blüht die Mandelblüte

    Ich bin hier, ich bin da, Ich bin wirklich überall,
    Da ich selbst die Sonne bin
    Für die Erde, die alles verschlingt.
    Refr.:
    Ich bin hier, ich bin da, Ich bin wirklich überall!

    9.    Tagsüber singe ich in Deinem Garten

    Tagsüber singe ich in Deinem Garten,
    In der Nacht bewache ich Deine Blumen, Schenke mir bitte zuerst Dein Lachen, Und danach Deiner Mohnblume!
    Refr.:
    Die Mohnblume in Deinem Garten Liebkost mich strahlend und lachend, In der Nacht werde ich auf Dich warten, Deine schönen Blumen bewachend!

  • Rundbrief Nr. 43



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    dieser kurze Rundbrief wagt einen kurzen Blick zurück und möchte vor allem nochmals an unsere Veranstaltung nächste Woche im Woelfl-Haus erinnern. Wir werden viel Neues erfahren aus der uns bislang kaum bekannten Welt Georgiens, auch zur Befindlichkeit der Bürger dieses Landes, in das gerade viele Russen flüchten, um sich vor dem Militärdienst zu retten. Aber es werden am Samstagabend nicht die Ängste im Mittelpunkt stehen, sondern die Kultur und die Lebensfreude, die dieses Land auszeichnen.

    Daher nochmals meine Bitte: Melden Sie sich an, kommen Sie hin, melden Sie sich beim Streaming-Service an. Beim Flyer war uns leider ein kleiner Fehler unterlaufen: Der Streaming-Link steht natürlich nicht schon um 15.45 Uhr zur Verfügung sondern erst um 17.45, eine Viertelstunde vor Beginn, siehe Anhang.

    Ein kurzer Nachtrag zum Vortrag von Tobias Schwarz im Museum Alexander Koenig. Herr Pfeiffer schickte mir einige Aufnahmen vom anschließenden Besuch im Adenauer-Saal, vom interessanten Vortrag vom Prof. Misof, von Alexander Koenigs Bücherschrank, den Adenauer hinter einem Vorhang verschwinden ließ, von der Renaissance-Decke im Stile Sankt Petersburgs… wir danken nochmals für das Entgegenkommen.

    Herr Schwartz sandte mir inzwischen noch vier weitere Texte zu Thomas Mann. Die Druckvorlagen zum neuen Heft unserer Schriftenreihe sind schon weit vorangeschritten. Wir werden es diesmal wohl bei ‚Books on Demand‘ herstellen lassen, einem Verlag also, der die Bücher erst auf Bestellung produziert und unser Verein keine große Auflage vorfinanzieren muß. Alles weitere dazu im nächsten Rundbrief.

    Noch ein Blick voraus: Der seit langem angekündigte Vortrag von Prof. Wortmann kann in diesem Jahr doch noch stattfinden und zwar am Mittwoch den 14.12. im Clubraum des Verwaltungsgebäudes der evangelischen Kirchen Bonns, den man früher nur als LESE angekündigt hat. Als Titel haben wir gewählt: „Abenteuertourismus im doppelten Sinne. Thomas Manns „Eisenbahnunglück“ und das unbekannte(re) Werk“ … Weitere Details in Kürze.

    Und wenn wir in den kommenden, kühleren Tagen unsere Heizungen nur mäßig aufdrehen werden, mögen wir Hanno Buddenbrooks gedenken, an sein Erwachen am kalten Wintermorgen, als der der matte Morgen fahl durch die Eiskruste der Fensterscheibe ins Zimmer blickte, und er, wenn auch verspätet, dennoch aufstand, um nach dem Schwamm in der Waschschüssel zu greifen und sich den Oberkörper zu waschen, worauf er erstarrte und dastand, qualmend wie ein schwitzendes Pferd

    Sag mir einer noch, er sei ein Weichling gewesen. Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

  • Rundbrief Nr. 42 + Anlagen Thomas Mann in Georgien | Böker, Brecht, Mann

    „Meine geehrten Zuhörer, wenn ich mich zu denen stelle, denen der Gedanke ›Europa‹ am Herzen liegt, wenn ich einem internationalen Nationalismus widerstrebe, der eine Weltlage zu begreifen sich weigert, welche eine neue Solidarität der Völker Europas gebieterisch […] fordert – so mögen wohl solche persönlich verbindenden Erfahrungen dabei im Spiele sein: das Erlebnis europäischer Solidarität…“

    Diese Passage aus der Ansprache Thomas Manns zur 700-Jahr-Feier der freien Hansestadt Lübeck am 5.Juni 1926, die den Titel trug „Lübeck als geistige Lebensform“,

    liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    diese Passage soll die Klammer bilden des heutigen Rundbriefs, in dem ich vor meiner Rückschau auf die Veranstaltung mit Tobias Schwarz und auf die Thomas-Mann-Tage mit Vordreude nach vorne schaue auf den georgischen Abend am 15. Oktober im Woelfl-Haus. Dort war man sehr fleißig und hat den Flyer entworfen, den Sie im Anhang finden, und hat auch bereits den Streaming-Link eingerichtet für alle, die nicht persönlich vor Ort sein können. Mit der eindrucksvollen Landschaftsaufnahme auf der Titelseite und den poetischen Liedzeilen ist er sehr schön geworden. So werden wir eben nicht nur den interessanten Vortrag von Frau Natia Choladze mit der Überschrift „Die sinfonische Architektonik von Thomas Manns Der Zauberberghören, sondern auch vieles erfahren über dieses kleine Land südlich des Kaukasus, gelegen zwischen Rußland und der islamischen Welt, das, wie mir auch Frido Mann am Rande der Tagung in Lübeck versicherte, stark nach Westen orientiert ist und in der literarischen Welt das Interesse an Thomas Mann groß. Lassen Sie uns daher im Sinne von Thomas Manns Lübecker Festrede am 15.Oktober im Woelfl-Haus zusammenfinden als eichen unserer Solidarität mit dieser uns so unbekannten Kulturnation Georgien.

    Tobias Schwarz im Museum Alexander Koenig

    Die Veranstaltung war mit über dreißig Teilnehmern gut besucht und wir wurden vom Direktor des Hauses Prof. Misof herzlich empfangen. Als Naturkundler sprach er von der Metamorphose, von der vollständigen Verwandlung der gefräßigen Raupen zu den leichten, kurzlebigen ephemeren Wesen, den Schmetterlingen, – man konnte nicht umhin, an Jonathan Leverkühn zu denken – und er schuf damit eine schöne Brücke zum Vortrag von Tobias Schwartz, der unter der Überschrift „Mein Thomas Mann – Eine Annäherung“ das Publikum fast eine Stunde lang in Bann hielt. Er schlug den weiten Bogen seiner frühen Leseerfahrung mit ›Tobias Mindernickel‹ bis hin zum ›Doktor Faustus‹, der ihn insbesondere während seines Philosophiestudiums stark beschäftigte und in ihm die Idee reifen ließ, einen solchen großen Roman zu entwerfen, der die jüngere deutsche Geschichte mit individuellen Schicksalen verbindet, eben jenen ›Morpho Peleides‹, den er 2019 vorlegte und der in seinen Moskauer Passagen geradezu prophetisch anmutet. Als ich bei meinen Dankesworten ankündigte, mit diesem Vortragstext unsere Schriftenreihe wieder aufleben lassen zu wollen, erntete ich große Zustimmung, war es doch ein Text, der zum Nachlesen auffordert. Inzwischen schickte mir Herr Schwartz vier weitere Texte (zu den Josephs-Romanen, zum Zauberberg etc.), die er für den Tagesspiegel verfaßt hatte und die in das Heft mit aufgenommen werden sollen. Die Vorbereitung der Publikation wird allerdings einige Zeit in Anspruch nehmen.

    Lübecker Thomas Mann-Tage 2022
    „Demokratie – eine innere Tatsache?“

    Das titelgebende Zitat entstammt Thomas Manns Republik-Rede von 1922. Diese just 100 Jahre zurückliegende Ansprache stand im Mittelpunkt der Tagung. Es sei vorausgeschickt, daß die vollständigen Aufnahmen der Vorträge der Tagung online verfügbar sind, aktuell auf der Startseite www.thomas-mann-gesellschaft.de und dauerhaft in der Mediathek und in unserem Youtube-Kanal.

    Unser Ortsverein war durch rund zehn Mitglieder vertreten, auch durch unser wohl jüngstes, jedenfalls erst jüngst eingetretenes Mitglied Frau Lara Wilken, die in Aachen Sprach- und Literaturwissenschaft. Zu meiner Freude fand sie in Lübeck direkt Anschluß zu den Mitgliedern des Jungen Forums und gewann vielfältige Anregungen.

    Bereits am Freitag vor der eigentlichen Tagung wurde der Thomas-Mann-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München, und der Hansestadt Lübeck verliehen an den amerikanischen Bestsellerautor Jonathan Franzen. Franzen hatte vor einigen Jahrzehnten in München Germanistik studiert und war daher (schweißgebadet) in der Lage, Auszüge seines neuesten Romans ›Crossroads‹ in deutscher Übersetzung vorzulesen. Michael Maar hielt eine fulminante Laudatio auf den Autor, der es immer verstand, Dramen des Alltags und der innerfamiliären Konflikte in spannendste Literatur zu verwandeln. Und dennoch wurde ich den Eindruck nicht los, daß sich hier eher die Institutionen mit einem berühmten Preisträger schmückten, als dies umgekehrt eigentlich hätte sein sollen. Einem jungen Autor oder einer junge Autorin hätte der angesehene Preis zu einer größeren Beachtung in der Öffentlichkeit verhelfen können, die der hochsympathische Herr Franzen nicht nötig hat.

    Am Samstagmorgen führte unser Präsident Prof. Hans Wißkirchen in das Thema der Tagung ein, die ja nichts weniger in den Blick nehmen sollte, als die Entwicklung Thomas Manns zum leidenschaftlichen Demokraten. Er steckte den Rahmen mit zwei Zitaten Siegfried Kracauers ab, die er meinem Rundbrief Nr.25 entnahm; jenem Text aus 1930, in dem Kracauer noch der Ansicht war, daß das sonderbare Liebeswerben des großen bürgerlichen Prosaisten um die Demokratie, […], ein Schauspiel unerquicklicher Art sei, und der Geburtstagsadresse Kracauers fünf Jahre später, in der dieser Manns historische Größe anerkennt und mit den Worten endet „Sich nach Ihnen zu bilden, wird eine der wenigen Hoffnungen sein, die den Deutschen geblieben sind.“

    Der erste Tagesordnungspunkt war dann überschrieben mit „Thomas Mann kontrovers – 100 Jahre Republikrede“. Zwei Vorträge wurden gegenübergestellt: Zunächst jener von Dr. Caren Heuer, die die Rede in den Kontext des Krisenjahres 1922 stellte (Ermordung Walter Rathenau) und daher eine grundsätzliche Wende im Denken Thomas Manns konstatierte; und ohne im Grundsatz Frau Heuer zu widersprechen erkannte Dr. Tim Lörke eine Kontinuität im Denken Thomas Manns, eine noch zögerliche Veränderung seiner Ansichten, mußte diese Demokratie in den brutalen Wirren der Nachkriegszeit doch zuerst einmal fußfassen.

    Ich konnte in diesem Zusammenhang nicht umhin, an die Buddenbrooks zu denken, in denen Thomas Mann die alte ständisch-monarchistische Ordnung in all ihrer erbarmungslosen Funktionalität ironisch karikierend darstellt, auch und gerade den Standesdünkel seiner Klasse, wenn zum Beispiel Thomas Buddenbrook so gar nicht damit einverstanden ist, daß Alfred Lauritzen, Colonialwaren, in den Senat einziehen soll.

    Lauritzen sei zwar ein ehrenfester Mensch und ein ordentlicher Kaufmann, aber er sei Mittelstand, dessen Vater noch eigenhändig Heringe eingewickelt habe… Der fraglos konservativ denkende Thomas Mann hatte in dieser alten Ordnung seine jungen Jahre als sehr freier Künstler erlebt. Was er aus der Perspektive von 1922 von der Demokratie zu erwarten hatte, war für ihn noch mit vielen Fragezeichen behaftet.

    Am Samstagmittag fanden dann diverse Workshops statt und ich nahm an einer literarischen Stadtführung teil, die in Lübeck auch regelmäßig angeboten werden und die ich begeisterten Buddenbrooks-Lesern sehr anempfehlen kann. Von der anschließenden Mitgliederversammlung verfertigt Frau Birte Lipinski ein Protokoll, das in Kürze verschickt wird.

    Am Abend durften wir noch den Worten des ehemaligen Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert lauschen, der in seiner bekannt pointiert-ironischen Art zum Thema „Kulturstaat und Bürgergesellschaft“ referierte, die ich Ihnen dringend zum Online-Nachschauen anempfehle. Er betrachtete die gegenwärtige Situation kritisch und kenntnisreich ob der rechtlichen Grundlagen und verbreitete dennoch Zuversicht. Es besteht kein Grund, unser demokratisch-kulturelles Licht unter den Scheffel zu stellen.

    Die gleiche Empfehlung des Nach-Schauens muß ich auch für den Vortrag Frido Manns vom Sonntagmorgen geben, allerdings mit dem Hinweis, daß dieses Video erst nach dem 14.10. freigeschaltet sein wird. An diesem Tag wird der Vortrag in der FAZ zu finden sein. – Sie können dann den Vortrag auch nachlesen.

    Frido Mann hielt sich jedenfalls nicht mit einer Exegese der Reden seines Großvaters auf, sondern trat sogleich in dessen Fußstapfen, sprach über die Gegenwart und die Bedrohungen der Demokratie in unseren Tagen. Als amerikanischer Staatsbürger hatte er vor 2019 voller Sorge die Präsidentenwahl im Lande seiner Geburt verfolgt und diese Erfahrungen in dem Buch „Democracy will win“ gefaßt. Eindringlich forderte er dazu auf, sich einzubringen in den demokratischen Prozeß, die Vielstimmigkeit als Qualität anzuerkennen und sich nicht den vermeintlich einfachen Lösungen der autoritär-nationalen Gegenbewegungen zu ergeben, die mit nichts anderem als dem Begriff des Faschismus belegt werden müssen. Mit Sorge muß man nicht nur in die USA blicken, sondern auch nach Ungarn, nach Italien – gerade heute

    – und, und, und… keiner möge sagen, Deutschland sei davor gefeit.

    So sorgenvoll will ich den Rundbrief nicht enden lassen, sondern Ihnen noch einen Blick auf den Veranstaltungsort der Thomas Mann-Tage gönnen: Die Gemeinnützige wird sie in Lübeck nur kurz genannt, die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit, gegründet 1789. Ohne ein Fachmann Lübeckischer Stadtgeschichte zu sein, läßt das Datum aufmerken und uns eine Ahnung davon geben, in welchem gesellschaftlichem Rahmen Thomas Mann aufgewachsen ist. Weit entfernt davon, alle Menschen als gleichberechtigt zu betrachten, hatte man doch das Gemeinwohl im Blick. Die Gemeinnützige besteht noch heute und gibt in großer Regemäßigkeit die Lübeckischen Blätter heraus, für die unser alt- und wohlverdientes Vorstandsmitglied Karsten Blöker im Heft Nr.12 diesen Jahres einen sehr lesenswerten Artikel zur Vorgeschichte der Republik-Rede Thomas Manns geschrieben hat. Er lenkt den Blick auf Thomas Manns Lübecker Landsmann Arnold Brecht, der in Berlin als Ministerialdirektor im Innenministerium den groß angelegten Staatsakt zur Beisetzung Walter Rathenaus organisiert hatte und in diesen Tagen im Rahmen der „Nordischen Woche“ mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Thomas Mann zusammengetroffen war. Aber lesen Sie selbst den Anhang. Eine sehr interessante Fußnote zur Literaturgeschichte…

    Lassen Sie uns nun unsere noch ungelenken Zungen zu dem Rufe schmeidigen: „Es lebe die Republik!“

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    Anlagen Thomas Mann in Georgien | Böker, Brecht, Mann

    Thomas Mann in Georgien

    Böker, Brecht, Mann

  • Rundbrief Nr. 41 + Anlagen Leserbrief | Fokuma-Fürtjes



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    „Wenn es ihn je gegeben hat, den deutschen Meister ohne Welt, ohne Europa im Blut – heute kann es ihn nicht mehr geben. […] in einem geistig und wohl auch wirtschaftlich-politisch zusammenwachsenden Europa wäre ein Meistertum der Enge, der Verstocktheit und des provinziellen Winkels eine weinerliche Erscheinung.“

    Mit diesen anerkennenden Worten, liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit, lobte Thomas Mann seinen Bruder Heinrich am 27.März 1931 vor der Preußischen Akademie der Künste in Berlin. Viel Hoffnung lag in diesen Worten, wohl aber auch schon eine Ahnung von dem Unheil, das den beiden Brüdern und der Welt noch bevorstehen würde. Möge uns das Werk Thomas Manns Kraft und Hoffnung geben für die Heraus- forderungen, die uns bevorstehen.

    Krankheitsbedingte Absagen von Veranstaltungen, wie jene von Tim Lörke, werden uns daher auch nicht entmutigen. Im Rahmen der Herbsttagung in Lübeck werde ich mit Dr. Lörke einen Nachholtermin vereinbaren.

    An anderer Stelle haben sich erfreuliche Entwicklungen ergeben: Die Sonntags-Matinee im Museum Alexander Koenig mit dem Vortrag von Tobias Schwartz konnte ich nun verbindlich terminieren; sie wird am 4. September um 11.00 Uhr stattfinden. Wir werden begrüßt vom wissenschaftlichen Leiter des Hauses Prof. Dr. Bernhard Misof, das sich heute „Stiftung Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels“ nennt, sich also mit den brennenden Fragen der Gegenwart beschäftigt. Im angehängten Flyer können Sie noch weitere Details finden (Anlage 1). Ich freue mich auf diese Veranstaltung einer neuen Art. Bringen Sie Zeit und Freunde mit. Sie werden nur den üblichen Museumseintritt zu bezahlen haben. Wenn Interesse besteht, kann ich im Nachgang noch eine Führung durch das Haus organisieren, auch in Räume, die in der Regel für die Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. In den verschiedenen Archiven sind erstaunliche Schätze zu bewundern. Interessierte sollten sich im Vorfeld bei mir melden, damit ich dies im Haus entsprechend vorbereiten lassen kann.

    Über der seit langem angekündigten Veranstaltung mit Prof. Thomas Wortmann aus Mannheim steht ein unglücklicher Stern: Bei ihm wäre der Freitag, 4. November, ein passender Termin. Leider stehen uns an diesem Tag weder das Haus der Schlaraffia noch der Saal des Verwaltungsverbands der evangelischen Kirchen zur Verfügung.

    Alternativvorschläge werden gerne angenommen.

    Unser aus Georgien stammendes Ortsvereinsmitglied Frau Ekaterine Horn konnte ich Ihnen schon in vergangenen Rundbriefen vorstellen. Angeregt durch ein Benefizkonzert für die Ukraine im Woelfl-Haus werden wir nun ebenda am 15.Oktober einen georgischen Abend veranstalten. Auch in diesem Land, das sich 1991 auf den schwierigen aber letztlich erfolgreichen Weg in die Unabhängigkeit und zu einer freiheitlichen Demokratie gemacht hat, ist man in Sorge vor einem russischen Zugriff. Weit im Osten gelegen, hat man in diesem Land großes Interesse, an der westeuropäischen Kultur teilzuhaben. An den Universitäten gibt es starke germanistische Fakultäten. An diesem Abend wird Frau Natia Choladze von der staatlichen Universität Kutaissi zu uns sprechen unter der Überschrift „Die sinfonische Architektonik von Thomas Manns Der Zauberberg„. Diese Universität betreibt eine intensive Zusammenarbeit mit der Goethe-Gesell- schaft in Weimar e.V. Über den Link: https://www.goethe-gesellschaft.de/goethe-weltweit/2421/ gelangen Sie zu dem sehr informativen Aufsatz von Jochen Golz: „Willkommen in Kutaissi. Zum jüngsten Studienband aus einer georgischen Universität“. Es gilt für uns alle, neue Entdeckungen machen zu können.

    Der Vortrag wird gerahmt von Musik aus Georgien, dargeboten von Herrn Rezo Tschchikwischwili, einem georgischen Schauspieler, der seit Jahrzehnten in Essen lebt und ein langjähriges Ensemblemitglied des Essener Grillo-Theaters ist. Sie kennen ihn vielleicht auch aus verschiedenen Fernsehfilmen, auch durch Auftritte im ‚Tatort‘.

    Zu unserem Freund Prof. Susmann aus Nishni Nowgorod: Er bat mich, ihm die Texte Thomas Manns zu Franz Kafka zu schicken. Aus ‚Gesammelte Werke‘ konnte ich ihm Kopien der Texte ‚Die Vernachlässigten – Franz Kafka‘ (1930) ‚Dem Dichter zu Ehren – Franz Kafka und ›Das Schloß‹‘ (1941) zusenden. Wenn Ihnen noch weitere Texte zum Thema bekannt sind, werde ich diese ihm gerne weiterleiten. Herr Susmann hat sich jedenfalls höflich bedankt. Offenbar arbeitet er an diesem Thema:

    Lieber Herr Baumgärtner,

    besten Dank für diese Texte. Den aus dem Jahr 1930 kannte ich nicht. Diese Erwähnungen waren für mich in Bezug auf Kafka wichtig. Aber das Thema «Kafka und Th. Mann” ist ein sehr interessantes. Z.B. hat man bemerkt, daß “Der Erwählte” und “Die Verwandlung” eine interessante Konfiguration bilden.

    Nochmals danke! Alles Liebe, Valerij Susmann

    Feuilleton

    An dieser Stelle möchte ich zunächst meine Reihe ‚Literaturtipps von Thomas Mann‘ fortsetzen:

    Im Januar 1955 verfaßte Thomas Mann den Nachruf auf den gerade verstorbenen Freund Ernst Penzoldt. Die beiden schätzten sich nicht nur auf der literarischen sondern auch auf persönlicher Ebene, besaßen den gleichen Humor. Mann schreibt, Penzoldt habe ihm kürzlich noch folgende Zeilen aus dem Krankenhaus geschickt: „Es muß recht bedenklich um mich gestanden haben letzthin. Alle waren so verdächtig nett zu mir.“ Und dann: „Nun, auch zu mir sind die Leute jetzt ziemlich nett. Achtzig Jahre sind eine Krankheit zum Tode wie eine andere. Warte nur balde…“

    Neben den bekannteren Erzählungen wie „Die Powenzbande“ oder der Novelle „Der arme Chatterton“ hebt er Penzoldts letzte große Erzählung ‚Squirrel‘ hervor: „Ich lasse mir nichts vormachen: ‚Squirrel‘ ist eine poetischere Konzeption als der ganze Krull.“ Der ‚Squirrel‘ ist eine Mischung vom ‚Taugenichts‘ und ‚Kaspar Hauser‘ – gegen Ende fällt gar die Formulierung von der „Trägheit des Herzens“. Thomas Mann brachte es auf den Punkt: „Arbeiten kann jeder, Squirrel aber erfreut… er erfüllt damit eine hohe asoziale Aufgabe.“

    Ernst Penzoldt ‚diente‘ in zwei Kriegen als Sanitäter in Lazaretten. Diese Erfahrungen hat er in mehreren Erzählungen verarbeitet und auch damit den Respekt von Thomas Mann erworben. In der Erzählung ‚Zugänge‘ beschreibt Penzoldt distanziert und präzise zugleich all das Elend, das der Mensch dem Menschen antun kann. Es ist ein tiefst humaner Blick auf all die Schwächen der Soldaten im Angesicht des Todes. Polen und Deutsche liegen Seite an Seite, der Tod macht keine Unterschiede. Ein Antikriegsdenkmal in Worten.

    Die Erzählung ‚Die Sense‘ ist eine märchenhafte Geschichte über eine nie versiegende Hoffnung. Eine Witwe, die ihren Mann im ersten Krieg verloren hat, erhält die Nachricht, daß nun ihr Sohn im zweiten tot in Rußland geblieben sei. Mit einer Sense über der Schulter als Bäuerin verkleidet macht sie sich eben dorthin auf den Weg und holt ihren lebenden Sohn zurück. Dies wäre allzu schlicht, wenn Penzoldt unterwegs die Erzählung nicht unterbrechen und die Leser unmittelbar ansprechen würde: Jener solle wissen, daß ein Schriftsteller Wunder geschehen lassen könne – was er dann auch tut, im Jahre 1946, in dem noch so viele Menschen auf eben dieses Wunder hoffen. Eine tröstliche Gutenachtgeschichte.

    Zum Schluß noch einige Worte zu dem Text: ‚Reisen mit Thomas Mann‘ aus dem Jahre 1949. Gleich eingangs räumt Penzoldt ein, Thomas Mann vor dem Kriege zwar mehrfach begegnet zu sein, daß er aber nie mit ihm gereist sei. Im Text geht es vielmehr darum, wie man in den Nachkriegsjahren über Thomas Mann spricht, sich das Maul zerreißt über ihn, ganz gleich, ob man je eine Zeile von ihm gelesen hat oder nicht. So geschehen bei einem PEN-Treffen in Hamburg. „Dieser Bursche“ habe da ein Edelmann Thomas Mann bezeichnet. Penzoldt hat Mühe, seinen Humor zu wahren. Am Ende ruft er aus: „Wenn die Deutschen nur entfernt so streng mit Hitler und den Seinen ins Gericht gegangen wären, wie jetzt mit ihrem, ich stehe nicht an, das zu sagen, bedeutendsten lebenden Schriftsteller deutscher Sprache, es wäre besser um uns bestellt.“

    Noch drei Dinge:

    Erstens: Ich wurde vom mehreren Seiten auf den Artikel in der FAZ vom 8.Mai angesprochen mit dem Titel: »Thomas Mann und Edvard Beneš – Mehr als eine moralische Hilfe« von Jan Vondráček. Ich sprach Herrn Peter Lange darauf an, der uns im vergangenen Jahr sein höchst lesenswertes Buch ‚Prag empfing uns als Verwandte‘ vorgestellt hatte. Er machte mich darauf aufmerksam, daß Herr Vondráček Stipendiat im Thomas- Mann-Haus in Los Angeles gewesen war und dieser Artikel seinen verdichteten Forschungsbericht darstellt. (Ist im online-Archiv der FAZ zu finden) Er legte mir auch einen Leserbrief bei (siehe Anhang 2), den er aus der sudentendeutschen Ecke verortet, dem aber dennoch kaum zu widersprechen sei. „Er zeigt einmal mehr, dass Thomas Mann immer auch ein romantischer Idealist geblieben ist. Für den Grad der Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen hatte er keine richtige Antenne; und die »Feinheiten« der tschechoslowakischen Demokratie dürften ihm auch verborgen geblieben sein.“ – Auch dies wollen wir ihm verzeihen.

    Zweitens: Unser rühriges Mitglied Jürgen Quasner schickte mir den Link zu einem Welt- Interview mit dem ungarischen Schriftsteller Irme Kertész, darin dessen Begeisterung für unseren Autor: Thomas Mann, keine Frage! 1954 hat Georg Lukácz die ersten Thomas-Mann-Texte nach dem Krieg herausgebracht, die ich verschlang. Das hat mein Leben verändert, „Tod in Venedig“, „Wälsungenblut“…

    https://www.welt.de/welt_print/kultur/literatur/article5116030/Ich-schreibe-keine-Holocaust-Literatur-ich-schreibe-Romane.html

    Und den Ehrenplatz am Ende erhalten die uns wohlbekannten Kataro Fukuma und Michael Fürtjes, die uns im letzten Sommer mit der Konzertlesung „Adorno-Beethoven- Thomas Mann“ begeistert hatten. Sie treten wieder im Woelfl-Haus auf, nicht zu Thomas Mann, sondern mit Ihrer Kreisleriana und zwar schon am 21. August um 18.00 Uhr. Näheres sehen Sie in der Anlage 3. Das wird sicher ein Vergnügen!

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    Anlagen Leserbrief | Fokuma-Fürtjes

    Leserbrief

    Fokuma-Fürtjes

  • Rundbrief Nr. 40 + Anlagen Zauberberg Rezension Pfeifer | Artikel ISOLATED WORLD



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    dieser Rundbrief möge in erster Linie dazu dienen, Sie an unsere Veranstaltung am 20. Juni mit Dr. Tim Lörke zu erinnern. Über einen zahlreichen Besuch Ihrerseits würde ich mich sehr freuen, machen Sie bitte auch Werbung in Ihrem Umfeld. Ich sehe dies nicht nur unter dem kaufmännischen Aspekt des Ausgleichs der Unkosten, die mit der Veranstaltung verbunden sind, sondern auch jenem der Motivation für den Vorstand, sich der Mühe zu unterziehen, weitere Veranstaltungen in die Wege zu leiten. Hier nochmals die kurze Inhaltsangabe zur Veranstaltung, den Flyer finden Sie im Anhang.

    „Ein unvergleichliches Hündchen“

    Thomas Mann und die Anforderungen des Publikums.

    Abstract:

    Schon zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn hatte Thomas Mann ein ausgeprägtes Gespür dafür, wie er sich als Dichter zu inszenieren hatte, um erfolgreich zu sein und beim Publikum den besten Eindruck zu erzielen. Zeitlebens hielt er verschiedene Formen der Publikumssteuerung bei: Durch die Art, wie er sein öffentliches Bild ausgeklügelt entwarf. Der Vortrag zeigt, wie Thomas Mann dieses Bild je nach Zielgruppe anpasste. Deutlich wird dabei, dass Thomas Mann als Dichter auf ein Bild von sich hinauswollte, das er genau mit den Techniken des eigenen literarischen Schreibens abglich – Schreiben und öffentliche Person fallen bei ihm zusammen.

    Eine weitere Veranstaltung sollten Sie sich schon vormerken: Prof. Thomas Wortmann aus Mannheim wird am 8. September im Haus der Schlaraffia zu uns über das Frühwerk Thomas Manns sprechen. Weitere Einzelheiten kann ich vielleicht schon am 20. Juni verkünden, spätestens im nächsten Rundbrief.

    Die Terminierung der Matinee im Museum Koenig mit Tobias Schwartz ist noch in Arbeit

    Von unserem Freund Prof. Susmann aus Nishni Nowgorod erhielt ich nach meinem letzten Rundbrief nette Dankesworte und die Empfehlung, Olga Martynova zu lesen. Sie gewann 2012 den Bachmann-Preis, schreibt Gedichte und Prosa (Roman „Mörikes Schlüsselbein“). Frau Martynova stammt aus Leningrad und lebt seit 1990 in Frankfurt. Dies auch als Anregung für Sie. Ich habe bislang noch nichts von ihr gelesen, will dies im Sommer nachholen.

    Gemeinsam mit Herrn Marcus Pfeifer nahm ich Ende Mai an einer Zoom-Veranstaltung des Thomas-Mann-Forums München teil. Dr. Matthias Stuber sprach unter dem Titel ‚Die Einheit der Welt‘ zum Thema ‚Thomas Mann und Arnold Joseph Toynbee‘, dem englischen Geschichtsphilosophen. Auch wenn sich am Ende der interessanten Ausführungen zeigte, daß ein solches Verhältnis dem Grunde nach nicht bestand, so nahmen wir doch einen wichtigen Hinweis mit: Der Sohn von Arnold Joseph, Philip Toynbee mit Namen, war Journalist und veröffentlichte 1951 in England, Kanada und Israel einen Artikel zu Thomas Mann unter dem Titel „Isolated World Citizen“. Herr Dr. Stubers war so freundlich, uns den Artikel in Kopie und eigener Übersetzung zur Verfügung zu stellen. Sie finden beides im Anhang. Es ist interessant zu lesen, wie die englischsprachige Welt Thomas Mann in der Nachkriegszeit wahrnahm.

    Unser sehr aktives Mitglied Marcus Pfeifer besuchte zudem in Düsseldorf die Inszenierung des „Zauberberg“, oder besser die szenische Umsetzung und Aktualisierung des Romans. Seine wohl ausgewogene Besprechung finden Sie gleichfalls im Anhang.

    Ich traf bei verschiedenen Anlässen mit Vertretern der Görres-Gesellschaft und des Münster-Bauvereins zusammen. Es besteht großes Interesse an unserer Arbeit und auch an projektbezogenen Kooperationen. Ich werde diese Kontakte pflegen.

    Feuilleton

    Im Feuilleton gibt es heute nur einen kurzen Nachtrag zum letzten Rundbrief. Ich hatte Ihnen berichtet von Thomas Manns Nachwort zu Schickeles Roman „Witwe Bosca“. Inzwischen habe ich diesen selbst gelesen und war am Ende sprachlos und mußte erkennen, welch großartiger literarischer Ratgeber Thomas Mann doch ist: Der Roman spielt in Ranas-sur-Mer, das in keiner Landkarte zu finden ist, wohl aber nichts anderes darstellt, als das rückwärts gelesene Sanary ohne ‚Y‘. Ausgelöst durch einen Verkehrsunfall setzt ein zweifacher, miteinander verschlungener Reigen von Liebe und Leid ein, in deren Mitte die herrschsüchtige Witwe und ihre zarte Tochter stehen. Jedes Kapitel wird eingeleitet von einem impressionistisch duftenden Landschafts- und Naturbild, wie es nur Schickele schreiben kann ohne peinlich zu erscheinen. Und in diese Schilderungen ist stets ein Satz eingewoben, der die Verknüpfung zur Erzählung darstellt: Die Jahreszeiten in der Provence wechseln leise in der Nacht… Immer wenn dieser Satz fällt weiß man: jetzt geht wieder etwas gründlich daneben! Und dies auf unvergleichlich humorvolle Art und Weise. Ich gebe eine kurze Kostprobe: „Unterdessen mußte Juliette die Fahrstunden unterbrechen, weil die Regenzeit begann und der Scheibenwischer in seiner provenzalischen Wasserscheu den Dienst versagte, darin heimlich unterstützt vom Fahrlehrer, der es ablehnte, mit der Schülerin auf den glitschigen Straßen ums Leben zu kämpfen. Sie hatte den Mut eines betrunkenen Akrobaten, und er war ein nüchterner Schlosser.“

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    Anlagen Zauberberg Rezension Pfeifer | Artikel ISOLATED WORLD

    Zauberberg Rezension Pfeifer

    (zur aktuellen Inszenierung des „Zauberberg“ am Düsseldorfer Schauspielhaus)

    Man(n) gendert! – Der Zauberberg und der in Bewegung geratene Geschlechterdiskurs

    Es ist schon eine seit vielen Jahren feststellbare Mode, große klassische Romane der deutschen und überhaupt der europäischen Literatur zu Schauspielen umzuarbeiten und dann auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu präsentieren. Man denke etwa an Kafkas „Prozess“, den Dostojewskischen „Idiot“ oder Fontanes „Effie Briest“ – die es bereits in mehreren Versionen auf deutsche Bühnen geschafft hat. Warum das? Ein zentraler Grund für diese mittlerweile etablierte Mode mag es sein, dass diese Vorlagen den Regisseuren eben mehr geben können als das, was die heutigen Bühnenautoren so anzubieten haben in Sachen praller, bühnenwirksamer Geschichten, psychologisch interessanter Charaktere und Konflikte.

    Auch Thomas Mann ist schon längst in die Fänge jener Romanumfunktionierer geraten. John von Düffel etwa, derzeit Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin, brachte schon etliche klassische Romane auf diese Weise auf die Bühne, 2005 erstmals die „Buddenbrooks“, die im Anschluss erfolgreich an mehreren deutschen Bühnen gezeigt wurden, es folgten „Joseph und seine Brüder“, mit wohl etwas weniger durchschlagendem Erfolg.

    Dass man sich bei so einem Unternehmen künstlerische und gestalterische Freiheiten herausnimmt und angesichts der Form auch massive Veränderungen vornehmen muss – nicht zuletzt extreme Kürzungen, liegt in der Natur der Sache. John von Düffels „Buddenbrooks“ etwa fielen – nicht zuletzt, weil die Theaterfassung eines Erzählers ermangelte – eher mit auffällig knappen und lakonisch dahingeworfenen Sprachfetzen auf als mit den typisch Thomas Mannschen verschachtelten, kunstvoll gedrechselten Satzkonstruktionen – die auf der Bühne indessen ja auch sicher einiges undurchschaubarer wirken würden.

    Wie steht es nun mit der Bearbeitung des „Zauberbergs“ für die Bühne? Tatsächlich gibt es in jüngster Zeit sogar zwei Unternehmen dieser Art zu verzeichnen, neben dem Düsseldorfer Projekt auch eines in Dresden. Die Düsseldorfer Fassung wurde vom hauseigenen Ensemblemitglied Wolfgang Michalek und der Dramaturgin Beret Evensen entwickelt. Bei den auf der Bühne Agierenden handelt es sich um die aktuelle Abschlussklasse der Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, die, man darf es vorwegsagen, aus dem Drehbuch das beste herausgeholt, und übrigens mit ihren Leistungen auch allesamt bestanden haben, konnte der Kritiker der Rheinischen Post vermelden.

    Was die Notwendigkeit der Beschränkung betrifft, so reduzierte man in Düsseldorf das Personeninventar des Romans auf acht Personen – ausschließlich Patienten des Sanatoriums auf der Schatzalp in Davos. Auf einen Hofrat Behrens oder dessen ebenso umtriebigen Assistenten Dr. Krokowski sowie untergeordnetes Krankenhauspersonal – wie etwa die mit der Bewirtung beschäftigten „Saaltöchter“ – muss das Düsseldorfer Publikum also leider verzichten.

    Der Einstieg in die Handlung fällt ähnlich aus: Hans Castorp kommt, in Gestalt einer liebenswerten, leicht unbedarft wirkenden und mit Skiern ausgerüsteten Unschuld vom Lande auf der Schatzalp an. Sie bekundet, drei Wochen bleiben zu wollen – und erntet schallendes Gelächter.

    Der aufmerksame Leser wittert zurecht, dass Hans Castorp mitnichten von einem Schauspieler männlichen Geschlechts dargestellt wird, sondern von einer jungen Dame – in Gestalt der talentierten Blanka Winkler. Damit folgt der Regisseur einem weiteren aktuellen Trend an deutschen Bühnen, dem Trend zum Geschlechtertausch nämlich. Bei dieser Düsseldorfer Inszenierung mit einem leichten Frauenüberschuss mag der Geschlechtertausch ein wenig in der Zusammensetzung der Leipziger Abschlussklasse begründet liegen, eigentlich ohne Not ließ man aber hier nicht nur Hans Castorp von einer Frau, sondern auch dessen Geliebte Clawdia Chauchat von einem Mann spielen. Diese Entscheidung kann indessen als originell und gelungen kongenial angesehen werden, weil Thomas Mann in seiner Romanvorlage bei diesen beiden Figuren ja selbst Geschlechtergrenzen transzendiert hatte. Wird sich sein Protagonist Hans Castorp nach den ersten Flirts mit jener zarten und anmutigen asiatischen Erscheinung doch während einer Rast bei einem längeren Spaziergang in freier Natur darüber klar, woher diese Faszination stammt, die ihn so sehr für Chauchat einnimmt. Die traumhafte Erinnerung, in die er dabei ja bekanntlich hinabgleitet, will ihm jedenfalls bewusst machen, dass diese Verliebtheit in direktem Zusammenhang steht mit der einst nur flüchtigen Begegnung mit einem ähnlich anmutigen Jungen slawischer Herkunft im Jugendalter, als ein gewisser Pribislav Hippe ihm einen Bleistift auslieh – und ihn dabei auf magische Weise in seinen Bann zog.

    Im Stück versinnbildlicht nun mit Valentin Stückl ein Schauspieler von ausgesprochen athletischer, dabei graziler Beweglichkeit – der eines gestandenen Balletttänzers, wohl sinnfällig die Aura, von der Hans Castorp sich einst vollkommen verzaubern ließ, lange bevor er sich zu denen droben in Davos begab.

    Ein anderer massiver Eingriff: Das gesamte Bühnenpersonal tritt gleich zu Beginn des Stücks vollzählig auf der Bühne an und bleibt auch bis zum Ende daselbst, sogar ein Mynheer Peeperkorn – der doch im Roman erst viel später auftaucht als Clawdia Chauchat, Ludovico Settembrini oder Leo Naphta. Eine Sensation eigentlich, dass die naive und vergleichsweise unbedeutende Nebenfigur der Ellen Brand – das Medium, das im Roman zur Seherei befähigt ist und auf spiritistischen Sitzungen zur Geisterbeschwörung nutzbar gemacht wird – , ebenfalls das Privileg besitzt, in dieser Bühnenfassung gemeinsam mit anderen wohl schwergewichtigeren Köpfen aufzutreten. Allerdings gibt es für diese Ellen Brand dann noch nicht einmal die Gelegenheit, dieser ihrer Hauptfunktion in der Romanvorlage auch auf der Bühne Genüge zu tun – insbesondere nicht einen toten Joachim Ziemßen herbeizubeschwören, der in dieser Theater-Version ja auch bis zum Schluss quicklebendig mit von der Partie bleibt. Stattdessen steigt diese Bühnen-Ellen quasi zur Gestalt einer mondänen Conférencière durch das gesamte Stück auf (überzeugend gespielt von Caroline Cousin), die sogar als erste Figur auf der Besetzungsliste genannt wird – noch vor Hans Castorp.

    Im Prinzip stellt diese Umsetzung des Romangeschehens dann eine Art durchgehende, lockere Dauerparty im Sanatorium dar, ohne jede Intimität, meistenteils indoors, teilweise aber auch auf den Liegen während der berühmten Zauberbergschen Liegekuren.

    Die präsentierten Gespräche gleichen gelegentlich einer aufgeregten psychoanalytischen Gruppentherapie, sie stellen jedenfalls einen meist aufgeregt hektischen, durcheinander gehenden und oft genug geradezu rüpelhaften Smalltalk dar, bei dem jeder spontane Attacken gegen Gott, die Welt und die anderen Anwesenden loslässt und dabei auch stellenweise Themen der heute aktuellen Tagespolitik aufgreift. Überhaupt scheint man mit all dem nicht zuletzt einer aus den Fugen geratenen Gegenwartskultur den Spiegel vorhalten und etwa zweifelhafte Fernseh-Talk-Shows parodieren zu wollen. Gepflegte Konversationen oder doch zumindest eher dezenter Klatsch unter vorgehaltener Hand, wie sie der Zauberberg kennt, fallen hier weniger auf. Auch höchste Vertreter des Bildungsbürgertums wie Settembrini oder der im Roman doch immer nachdenkliche, ernsthaft aufmerksame und zartfühlende Hans Castorp erleben ab und zu total gestresst ihre Panikattacken und müssen sich dann erst einmal lautstark abreagieren. Mit den Gedanken von Erleuchteten, die vom Davosschen Götterhimmel erhaben über die beschränkte Menschenwelt in der zurückgebliebenen Ebene sinnieren – wie von den verantwortlichen Theatermachern dieses Stücks angedeutet und im Roman wesentlich deutlicher umgesetzt, hat das bei Licht besehen insgesamt denkbar wenig zu tun.

    Und doch, im Laufe der Aufführung kommen schließlich auch die großen Themen des „Zauberberg“ recht deutlich zur Sprache, wenn auch sicher in einer intellektuellen Light-Version: die Relativität des Zeitbegriffs, das Verhältnis zwischen Krankheit und Tod, auch die Veredelung des Menschen durch die Krankheit, ein Prozess, der aber wohlgemerkt nur den Begabten vorbehalten sei. Dumme Menschen kämen nicht in den Genuss dieses Segens, sagt man sich, für die in Buch und ebenso im Schauspiel die Figur der Katharina Stöhr als Beispiel herhält. Diese Apotheose trivialen Halbwissens bekommt passend zum Stil der Bühnenfassung noch einiges mehr an Pointen zugeschustert als die Portion, die Thomas Mann ihr gönnte, und diese Figur wartet also nun des Öfteren mit grandiosen Demonstrationen ihrer genialen Einfältigkeit auf. So darf die Stöhr in Düsseldorf nicht nur von Beethovens [sic:] „Erotica“ schwärmen, wie sie das im Roman kurz nach Ziemßens Tod tat, sondern zudem ihr unsägliches Mitleid bekunden mit einer Ikone des Dauerleidens, einer gewissen kaiserlichen Madame namens Sisi Phuss, oder ihrer mehr oder weniger geneigten Zuhörerschaft den allgemeinen Ratschlag erteilen, man könne der Trübsal des Lebens eigentlich nur entfliehen, wenn man den Weg hin zur Literatur fände, bei einem persönlichen „Gang nach Cabanossi“.

    Ansatzweise authentisch wird auch auf den großen Streit zwischen Lodovico Settembrini und Leo Naphta Bezug genommen, dessen Zeuge Hans Castorp in der Romanvorlage wiederholt wird. Diese beiden, die im Buch ja engagiert als Mentoren Hans Castorps um dessen Aufmerksamkeit und Gunst kämpfen, streiten sich auch im Düsseldorfer Schauspielhaus um die Antwort auf die große Frage „Was ist der Mensch?“ und um die damit verbundene elementare Frage nach den wirklich fundamentalen Idealen der Menschheit. Settembrini beschwört dabei die Individualität des Menschen und die Göttlichkeit menschlichen Gefühls, Naphta geht es um Vernunft, Gehorsam und ggf. um die Rechtfertigung staatlicher Gewalt, wo nicht gar der Herrschaft des Terrors. Dass nun ausgerechnet die Rolle des Settembrini, der, wenn man es so will, ja eher die weiblicheren, jedenfalls die weicheren Ideale vertritt, auch mit einer Schauspielerin besetzt ist, könnte traditionelle Klischeevorstellungen von Frauen eher bestätigen als in Frage zu stellen – wenn man es denn so sehen will.

    Was aber auf sehr erfrischende Weise so einigen intellektuellen Ballast des Zauberbergs ersetzt – und auch anteilmäßig deutlich mehr Raum als im Roman bekommt, ist der Einsatz von Musik und Tanz, nach einer überzeugend gefälligen Choreografie von Bridget Petzold. Diese musikalischen Einlagen vermitteln diesem deutlich ans Boulevard-Theater erinnernden Stück Rhythmus und eine gewisse Eingängigkeit, einen wirksamen Charme sui generis. Mehrmals werden die überaus aggressionsgeladenen Spannungen – so gewollt humorvoll und slapstickartig sie auch präsentiert werden, effektvoll mithilfe der Tanzeinlagen ausgehebelt und auf ästhetisch eindringliche Weise plötzlich überdeckt, so dass man sich als Zuschauer auf einmal auf angenehme Weise mit hineingerissen fühlt in diesen Mahlstrom bürgerlicher Eitelkeit und Überdrehtheit, dem Trieb nach Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Auseinandersetzung – wohingegen es im Roman ja nur einmal – beim Karneval – zur Schilderung einer ansatzweise ausgelassenen Tanzszene kommt.

    Und so tanzt Hans Castorp dann auch im Finale des Stücks nicht etwa ganz alleine symbolisch seinen Todestanz hinein in den Ersten Weltkrieg, um dort schlussendlich unterzugehen, sondern alle auf der Bühne Agierenden tanzen mit ihm – allesamt nun in blutrot verschmierten Gewändern – scheinbar sogar mit einer gewissen Begeisterung am Untergang.

    Der im Anschluss an das Stück noch auf der Bühne ausgegebene Spendenaufruf für die Opfer des Kriegs in der Ukraine erinnerte nur allzu deutlich an die nicht unbedingt grundsätzlich anders gelagerte weltpolitische Lage, in der sich der heutige Zuschauer befindet.

    So manch einer, der den Roman gelesen hat, mag beim Sehen staunen, was umtriebige moderne Theatermacher da aus einer Romanvorlage so zu machen verstehen. Man kann sich darüber köstlich amüsieren oder das als Dreistigkeit empfinden, jedenfalls aber auch die Erinnerung an die eigene Leseerfahrung Revue passieren lassen. Bleibt zu hoffen, dass die Begeisterung, mit der der Schauspielernachwuchs dieses Stück in Düsseldorf auf die Bühne gebracht hat, auch den ein oder anderen neuen Leser für die Lektüre dieses Jahrhundertromans gewinnen wird.

    Artikel ISOLATED WORLD

    Abschrift:

    The Kingston Whig Standard Friday 14.12. 1951

    (Gleiche Textfassung wie Observer, Observer Foreign News Service, No. 5589, 1951 „THE LONELY WORLD-CITIZEN“;

    auch The Jerusalem Post, 28.12.1951, „AN ISOLATED WORLD CITIZEN“

    ISOLATED WORLD CITIZEN

    By Philip Toynbee

    (Special to The Whig-Standard)

    The figure of Thomas Mann has already been an elusive one, impossible to fit into any of the literary or political categories in which our minds rejoice. The frontispiece to a new American symposium shows a rather prim-looking moustached man, sitting upright in a Victorian armchair, a cigar between the fingers, and the two hands disdainfully holding a manuscript in front of his rimless spectacles. This might be a successful product of Harley Street or the City. And in fact Mann is the proud scion of a line of patrician business men from the Hanseatic town of Luebeck, and his first great novel, Buddenbrooks, was written both to honour and obituarize his own family. Not the least bewildering phenomenon about his life is that this mature and epic work was published when its writer was only twenty-five years old. Unlike poets, novelists are almost invariably late to develop, and their early work is usually best forgotten. But Mann’s first novel is comparable in stature to his last one.

    In the literature of this century, Mann has always been a solitary figure, outside the changing fashions. If a contemporary English critic were asked to list the most important novelists of the last fifty years, he would probably mention four or five French names, four or five English ones and two or three Americans. Reminded of Mann, he would flick his fingers in exasperation at his omission, and quickly include him in an honourable position on his list. This is partly due to the very simple fact that Mann is a German. Not only is it true that in the past Germany has produced no novelist of world frame and reputation (unless Goethe be considered a novelist), but also Germany has always been culturally apart from that Mediterranean Europe to which, for cultural purposes, England undoubtedly belongs. (It is significant that Englishmen learn French before they learn German, and that France, not Germany, is the representative European country in the English mind).

    * * *

    For a long time Mann chose to emphasize this cultural isolation. He even rejoiced in it; and during the First World War he wrote a deeply and consciously pamphlet glorifying the cause of the German Empire. And one aspect of that was certainly the 2000-year old conflict between Northern and Southern Europe; between the Teutons and the peoples of the Mediterranean; more specifically, between Kultur and Civilisation. Teutonically enough, Mann describes his literary work during that war in military terms – “I bore the arms of thought for two years” and “returned a disabled veteran”.

    But the stiff and constricting ideology of the German Junkers could not hold him for long; he is a man and writer of expansive spirit, and he was bound to break out of the self-elected bonds of his early nationalism. The rise of the Nazi-Party only hastened a process which was in any case inevitable. From the early twenties onwards Mann was an outspoken and representative figure of the democratic and “Europeanizing” Weimar Republic. He and his family left Germany when Hitler came to power in 1933, and since that time he was a militant opponent of all that his beloved Fatherland had become. Representative now of the “other” Germany, the exiles who had rejected their country’s perversion,

    Mann wandered somewhat disconsolately from Switzerland to Czechoslovakia and back, before settling as last in America. He is now an American citizen, living his resolutely family life in California.

    * * *

    Yet in spite of Mann’s change of heart, in spite of the fact that he has become almost too good to be true in his perfectly genuine role of “world citizen”, Mann remains apart, both in his art and in peculiar atmosphere which surrounds him. His great novels, “The Magic Mountain”, the “Joseph” books, “Lotte in Weimar”, “Dr. Faustus”, are very different from each other. But none of them at all resembles any other novel of our time. He is the heir of Goethe and a writer of such voluminous intensity that more meagre contemporary talents are sometimes overpowered, almost appalled by his controlled exuberance. He cannot of course, be universal, as Goethe was before him, because our modern specialization of knowledge makes true universality impossible. But in his understanding of music and history, of psychology and theology, philosophy and medicine and archaeology, Thomas Mann is the nearest thing we have to a universal writer.

    Yet he remains apart! As this very peculiar and adulatory symposium suggests, he is the God of a cult. Just as Marx was not a Marxist, so Mann is certainly not a Mannite. He is too sardonic to worship at his own shrine. But the members of his cult, often cranky, often hysterical and misguided in their praises, has made a kind of smoke screen round their idol which may easily offend a more cautious approacher. Behind it there sits a figure by no means Olympian; a writer who is often verbose and clumsy; a political moralist who is often platitudinous; but a great and dignified and humourous product of our age.

    (OFNS Copyright)

    Übersetzung Dr. Matthias Stuber, München

    Isolierter Weltbürger – Der einsame Weltbürger – Der isolierte Weltbürger

    Von Philip Toynbee

    (Speziell zu ‘The Whig-Standard‘)

    Die Figur des Thomas Mann war bereits schwer fassbar, unmöglich in eine der literarischen oder politischen Kategorien zu passen, derer sich unser Geist erfreut. Das Titelbild zu einer aktuellen amerikanischen Konferenz zeigt einen eher steif aussehenden Mann mit Schnurrbart, der aufrecht in einem viktorianischen Sessel sitzt, eine Zigarre zwischen den Fingern, und die beiden Hände, die geringschätzig ein Manuskript vor seine randlose Brille halten.

    Dies könnte ein erfolgreiches Produkt von ‚Harley Street‘ oder ‚The City‘ sein. Und tatsächlich ist Thomas Mann der stolze Spross einer Reihe patrizischer Geschäftsleute aus der Hansestadt Lübeck, und sein erster großer Roman, Buddenbrooks, wurde sowohl zu Ehren als auch zum Nachruf seiner eigenen Familie geschrieben. Nicht das am wenigsten verwirrende Phänomen in seinem Leben ist, dass dieses reife und epische Werk veröffentlicht wurde, als sein Autor erst fünfundzwanzig Jahre alt war. Im Gegensatz zu Dichtern entwickeln sich Romanautoren meist immer spät und ihr Frühwerk wird normalerweise am besten vergessen. Aber Thomas Manns erster Roman ist in seiner Gestalt mit seinem letzten vergleichbar.

    In der Literatur dieses Jahrhunderts war Thomas Mann immer eine „solitäre“ Figur, außerhalb der sich ändernden Moden. Wenn ein zeitgenössischer englischer Kritiker gebeten würde, die wichtigsten Romanautoren der letzten fünfzig Jahre aufzulisten, würde er wahrscheinlich vier oder fünf französische Namen nennen, vier oder fünf englische und zwei oder drei Amerikaner. An Thomas Mann erinnert, „schnalzte er verärgert über seine Unterlassung mit den Fingern“ und nahm ihn schnell in eine ehrenvolle Position auf seine Liste. Das liegt zum Teil an der sehr einfachen Tatsache, dass Thomas Mann ein Deutscher ist. Es stimmt nicht nur, dass Deutschland in der Vergangenheit keinen Romanautor von Weltruf und -ansehen hervorgebracht hat (es sei denn, Goethe wird als Romancier betrachtet), sondern Deutschland war auch kulturell immer von jenem mediterranen Europa getrennt, zu dem England für kulturelle Zwecke zweifellos gehört. (Es ist bezeichnend, dass Engländer Französisch lernen, bevor sie Deutsch lernen, und dass Frankreich, nicht Deutschland, das repräsentative europäische Land im englischen Kopf ist).

    Lange Zeit entschied sich Thomas Mann dafür, diese kulturelle Isolation zu betonen. Er freute sich sogar darüber; und während des Ersten Weltkriegs schrieb er eine zutiefst und bewusst konservativen Text, in dem er das Deutschen Reiches glorifiziert. Und ein Aspekt davon war sicherlich der zweitausend Jahre alte Konflikt zwischen Nord- und Südeuropa; zwischen den Germanen und den Völkern des Mittelmeers; genauer gesagt, zwischen „Kultur“ und „Civilization“. Teutonisch genug beschreibt Mann sein literarisches Werk während dieses Krieges in militärischen Begriffen – „Ich trug zwei Jahre lang die Waffen des Denkens“ und „kehrte als versehrter, Veteran zurück“. Aber die strenge und einengende Ideologie der deutschen Junker konnte ihn nicht lange halten; er ist ein Mann und Schriftsteller mit expansivem Geist, und er musste aus den selbstgewählten Fesseln seines frühen Nationalismus ausbrechen. Der Aufstieg der NSDAP beschleunigte nur einen Prozess, der ohnehin unvermeidlich war. Seit den frühen zwanziger Jahren war Thomas Mann eine realistische und repräsentative Persönlichkeit der demokratischen und „europäisierenden“ Weimarer Republik. Er und seine Familie verließen Deutschland, als Hitler 1933 an die Macht kam, und seitdem war er ein militanter Gegner all dessen, was sein geliebtes Vaterland geworden war. Stellvertretend für das „andere“ Deutschland, die Exilanten, die die Perversion ihres Landes abgelehnt hatten, wanderte Thomas Mann etwas untröstlich von der Schweiz in die Tschechoslowakei und zurück, bevor er sich zuletzt in Amerika niederließ. Er ist jetzt amerikanischer Staatsbürger und lebt sein entschiedenes Familienleben in Kalifornien.

    Doch trotz Thomas Manns Sinneswandel, trotz der Tatsache, dass er fast zu gut geworden ist, um in seiner vollkommen authentischen Rolle des „Weltbürgers“ wahr zu sein, bleibt Mann für sich, sowohl in seiner Kunst als auch in der eigentümlichen Atmosphäre, die ihn umgibt. Seine großen Romane „Der Zauberberg“, die „Joseph“-Bücher, „Lotte in Weimar“, „Dr. Faustus“ unterscheiden sich sehr voneinander. Aber keiner von ihnen ähnelt einem anderen Roman unserer Zeit. Er ist der Erbe Goethes und ein Schriftsteller von so umfangreicher Intensität, dass manchmal dürftigere, zeitgenössische Talente überwältigt werden, fast entsetzt sind über seine kontrollierte Ausgelassenheit. Natürlich kann er nicht so universell sein, wie Goethe es vor ihm war, weil unsere moderne Spezialisierung des Wissens wahre Universalität unmöglich macht. Aber in seinem Verständnis von Musik und Geschichte, von Psychologie und Theologie, Philosophie und Medizin und Archäologie kommt Thomas Mann einem Universalschriftsteller am nächsten.

    Doch er bleibt für sich! Wie dieses sehr besondere und lobende Symposium nahelegt, ist er der Gott eines Kultes. So wie Marx kein Marxist war, so ist Thomas Mann sicherlich kein Mannist. Er ist zu „sardonisch“, um ihn in seinem eigenen Schrein anzubeten. Aber die Mitglieder seiner Sekte, oft launisch, oft hysterisch und fehlgeleitet in ihrem Lob, haben eine Art Nebelwand um ihr Idol gemacht, die einen vorsichtigeren Näherkommenden leicht beleidigen könnte. Dahinter sitzt eine Persönlichkeit, keineswegs olympisch; ein Schriftsteller, der oft ausführlich und ungeschickt ist; ein politischer Moralist, der oft platt ist; aber ein großes, würdevolles und humorvolles Produkt unserer Zeit.

    (OFNS Urheberrecht)

  • Rundbrief Nr. 39



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    da ich die ersten beiden Wochen im Mai verreist sind, möchte ich sie noch einmal auf den Stand der Dinge bringen.

    Die Kommunikation mit Interessierten aus Russland läuft mit der gebotenen Vorsicht und daher zögerlich an. Mitglieder unseres Ortsvereins erhielten den Brief eines jungen Wissenschaftlers, der in Bonn studiert hatte. Er ist diesem Rundbrief ohne Namensnennung angehängt. Herr Susmann bedankte sich für den letzten Rundbrief. Wir grüßen auf diesem Wege zurück.

    Zu unseren Veranstaltungen:

    Von der Verantwortlichen für Veranstaltungen im Museum Koenig erhielt ich einen herzlichen Brief, indem sie ihr großes Interesse an der Matinee-Veranstaltung mit Tobias Schwartz zum Ausdruck brachte, aber leider war vor der Sommerpause kein Termin mehr zu finden.

    Auch der Termin mit Prof. Thomas Wortmann aus Mannheim wird in den Spätsommer verschoben. Die vielen Feiertage in Mai und Juni und die frühen Sommerferien machten dies empfehlenswert.

    Wie schon angekündigt, wird Herr Dr. Tim Lörke aus Berlin am 20. Juni zu uns über Thomas Manns Umgang mit den Medien sprechen. Den Titel seines Vortrags lautet nicht mehr: „Hitze und Kälte, Melancholie und Betulichkeit – Thomas Manns produktive Rezeptionssteuerung“ sondern: „Ein unvergleichliches Hündchen“ Thomas Mann und die Anforderungen des Publikums“ Es ist immer wieder hinreißend zu erleben, wie Herr Lörke höchste Wissenschaftlichkeit mit seinem feinen Humor zusammenbringt. Den ‚Abstract‘ zu diesem Vortrag füge ich nun in den Text des Rundbriefs mit ein, sie finden ihn aber auch in dem beigefügten ‚Flyer‘ zu diesem Abend, in dem Sie auch einen Überblick über den wissenschaftlichen Werdegang von Herr Dr. Lörke finden können.

    Nutzen Sie diese Datei, um sie in ihrem Bekanntenkreis zu verteilen:

    „Ein unvergleichliches Hündchen“

    Thomas Mann und die Anforderungen des Publikums.

    Abstract:

    Schon zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn hatte Thomas Mann ein ausgeprägtes Gespür dafür, wie er sich als Dichter zu inszenieren hatte, um erfolgreich zu sein und beim Publikum den besten Eindruck zu erzielen. Zeitlebens hielt er verschiedene Formen der Publikumssteuerung bei: Durch die Art, wie er sein öffentliches Bild ausgeklügelt entwarf. Der Vortrag zeigt, wie Thomas Mann dieses Bild je nach Zielgruppe anpasste. Deutlich wird dabei, dass Thomas Mann als Dichter auf ein Bild von sich hinauswollte, das er genau mit den Techniken des eigenen literarischen Schreibens abglich – Schreiben und öffentliche Person fallen bei ihm zusammen.

    Wie Sie wissen, gibt es in München neben der in Lübeck ansässigen Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft das Thomas Mann Forum, das seinen Mitgliedern an diesem langjährigen Wohnort Thomas Manns ein interessantes Programm bietet. Auch dort bemüht man sich, die Veranstaltungen in einem hybriden Format zu präsentieren, auf die Sie Zugriff haben. Daher habe ich den letzten, lesenswerten Rundbrief gleichfalls angehängt. Sollten Sie an einer dieser Veranstaltungen teilnehmen, bitte ich um einen klei- nen Bericht für die Mitglieder unseres Ortsvereins.

    Leider gibt es wieder eine traurige Nachricht zu vermelden: Am 1. April starb Prof. Bernd Witte. Er war unserem Ortsverein stets zugeneigt, oft bei unseren Veranstaltungen. Als der ausgewiesene Fachmann für deutsch-jüdische Literatur konnte ich ihn so manches Mal um Rat fragen. Zuletzt erschien von ihm die tiefgründige Biographie „Martin Buber und die Deutschen“. Seine Bücher lesend mögen wir seiner gedenken.

    Feuilleton

    Nach Ernst Weiß habe ich mich mit einem anderen Freund und Schriftsteller aus den Exiljahren Thomas Manns beschäftigt – und tue dies nun wiederum: mit René Schickele. 1883 im damals gerade deutschen Elsaß geboren, verstand er sich Zeit Lebens als Grenzgänger, als Vermittler zwischen den beiden großen europäischen Nationen, eine Rolle, zu der Thomas Mann erst beinahe 50 Jahre alt werden mußte, bis er sie für sich fand. So standen die beiden während des Ersten Weltkriegs auch in gegensätzlichen Lagern. René Schickele war Mitarbeiter und einige Jahre auch Herausgeber der pazifistischen Zeitschrift „Weiße Blätter“ und ging darin Thomas Mann scharf an. In den mir vorliegenden Quellen ist davon nichts mehr zu spüren. In den Tagebüchern und Briefen beginnen die Eintragungen im Jahr 1933.

    1925 war René Schickele einer breiteren Leserschaft bekannt geworden mit dem ersten Band der Roman-Trilogie „Das Erbe am Rhein – Maria Capponi“ – im Subtext ein hohes Lied zur Deutsch-Französischen Aussöhnung, ein Roman, den Thomas Mann sicher kannte. Schickele war das Erzählen stets eine hohe Kunst und nie distanzierter Realismus. Er konnte sich in einem wunderschön elegischen Ton ergehen: „Unter dem Blütenfall der Blutjohannisbeere schäumt die japanische Schneekirsche. Von dort fließen Krokusse über den Rasen und bilden einen See, der morgens im Dampfe wogt…“ Die Erzählerfigur Claus, die viele Züge Schickeles trägt, ist ein Mann mittleren Alters, der in den ersten Jahren nach dem damals noch einzigen Weltkrieg zurückblickt auf seine Jugend, aber in den ersten Kapiteln zunächst seine Gegenwart beschreibt im südbadischen Rheintal mit den Vogesen leuchtend in der Abendsonne. Claus hat einen heißgeliebten kleinen Sohn namens Jacquot, mit dem er sich auf den Weg macht zu den Großeltern im Elsaß: „Zehn, vielleicht auch zwanzig Millionen Männer waren eines gewaltsamen Todes gestorben, damit dieser Familienvater mit der grünen Mütze Jacquots Taschen nach Schokolade durchsuchte. Jacquot hatte den Hut voll davon. Der Familienvater mit der grünen Mütze fand keine Schokolade.“ Dies als Beleg für den heiter-ironisch und stets auch politischen Ton der Erzählung.

    Schickele liefert dann noch einen erzählerischen Abriß der wechselvollen Geschichte von Baden und Elsaß, bei der Napoleon im Zentrum steht („Gottvater hat einen Sohn, / Und der heißt Napoleon.“) bevor die große Rückschau beginnt, die Liebesgeschichte, die Amour fou zu Maria, die sich zum einen unter dem blauen Himmel der Provence abspielt, zum andern in der morbid-schönen Kulisse von Venedig. Erinnerungen an Thomas Manns Novelle sind unausweichlich, und – wer weiß – vielleicht sogar intendiert. Im Juli ‘33 notierte Thomas Mann in seinem Tagebuch, er „lauschte der melodiösen Prosa mit Vergnügen“ – womit er das Schrei- ben Schickeles in kürzester Form auf den Punkt bringt.

    Hier ein Blick auf den Leinenein- band von Maria Capponi: Kann mir jemand diese beiden mitein- ander verknüpften Wappen entschlüsseln?

    Der erste mir vorliegende Brief Thomas Manns an Schickele stammt aus dem April ‘33, zum Beginn seines Exils. Er wohnt mit seiner Familie in Lugano. Schickele hatte sich schon 1932 in Sanary sur mer niedergelassen und unterstützt die Familie Mann bei der Quartiersuche nach Kräften. Die gut vernetzte Schriftstellergemeinde verdankt es offenbar der „Vorhut“ Schickele, daß sich in diesem nicht gerade schönsten oder bekanntesten Bade- und Fischerdorf an der französischen Riviera eine deutsche Künstlersiedlung entwickelte. Der Ton des Briefes macht deutlich, daß sie sich schon länger kannten und schätzten. In den Monaten in Sanary (Mai bis September ‘33) treffen sich die Familien fast täglich, wie den Tagebüchern zu entnehmen ist, machen gemeinsame Ausfahrten, treffen sich zum Tee. Es gibt eine tiefe Übereinstimmung in persönlichen, politischen und künstlerischen Dingen. Nach der Rückkehr der Familie Mann in die Schweiz nach Küsnacht tauscht man lange, illusionslose Briefe aus. Mann schreibt am 2. April 1934:

    „…Oder glauben Sie an einen Zusammenbruch zu meinen, oder zu ihren Lebzeiten? … Aber das deutsche Volk ist stark im Hinnehmen, und da es die Freiheit nicht liebt, sondern sie als Verwahrlosung empfindet, … , so wird es trotz schweren Desillusionierungen sich unter der neuen, roh-disziplinären Verfassung immer noch besser und richtiger in Form fühlen, immer noch „glücklicher“ sein als unter der Republik.“

    Am 16. Juni ’34 bedankt sich Thomas Mann für die freundlichen Worte, die Schickele zu seinem Joseph gefunden hatte, lobt dessen „französische Sensibilität für Dinge der Prosa“, die „für deutsche Ohren einfach in den Wind getan ist… (ausgenommen natürlich die Juden, deren Freunde und Dankbarkeit ergreifend sind)“

    Im Oktober ’34 genießt er Schickeles neusten Roman „Liebe und Ärgernis des D.H. Lawrence“, nennt ihn „antideutsch in seiner Anmut“ und „ein Stück Literatur, wie es in dem jammervollen Kerker, der heute Deutschland heißt, einfach nicht wachsen kann … und [man] lacht sich ins Fäustchen, daß es den Macht-Eseln nie, nie, niemals gelingen wird, das Deutsche im Politisch-Totalitären einzufangen. Zu viel ist ihnen schon entschlüpft.“ Analogien zum heutigen Russland drängen sich auf.

    Aufhorchen ließ mich ein Zitat aus einem Brief an Schickele vom Oktober 1935: „Da lobe ich mir den alten Churchill und seine goldenen Worte im Strand-Magazine. Der reine Lichtblick.“ Fürwahr, ein höchst lesenswerter Artikel: „The trouth about Hitler“, reich bebildert, voller Sprachmacht, der im Netz leicht zu finden ist.

    1939 verfaßt Thomas Mann für die französische Ausgabe von Schickeles Roman „Witwe Bosca“ ein einfühlsames Vorwort, stellte dabei den Franzosen den so französisch empfindenden und deutsch schreibenden Elsässer vor. Ein Dienst am Freund, der im Jahr darauf allzu jung sterben sollte. Thomas Mann erreicht die Todesnachricht am 5. Februar 1940 in Princeton, am 12.Februar trifft noch ein Brief von Schickele ein mit viel Lob für die „Lotte in Weimar“. „…die unheimliche Unmöglichkeit, ihm auf seinen Brief dankbar zu erwidern…“ empfindet Thomas Mann sehr schmerzhaft.

    In Erinnerung an den Autor wurde nach dem Kriege von verschiedenen Verlagen und Privatpersonen der René-Schickele-Preis ausgelobt; Hermann Kesten, Thomas Mann und Alfred Neumann als Preisrichter gewonnen. Am meisten Eindruck machte Hans Werner Richters Roman ‚Sie fielen aus Gottes Hand‘. Der etwas pathetische Titel ist mithin einer der letzten Sätze des Romans, einem Rabbiner in den Mund gelegt, der gerade sein Kaddisch auf einen kleinen Judenjungen gesungen hatte, dessen unglückliches Leben Richter verfolgt in den Jahren 1939 bis 1949. Aber neben dem Schusterjungen Slomon hat er auch einen Hauptmann aus Estland, eine Studentin aus Krakau, einen Schmuggler aus Ägypten, eine Bardame aus Lettland, einen Koch und SS-Mann aus Luxemburg, insgesamt ein dutzend Figuren im Blick, deren Leben er in kurzen, filmischen Szenen durch die Jahre verfolgt, aneinandergereihte Kurzgeschichten. Es sind samt und sonders gebrochene Heldenfiguren, die nur in ihren Schwächen glänzen. Richter hatte fünf Jahre lang ‚gedient‘, er wußte, wovon er schreibt – und gerade das mißfiel Thomas Mann bei aller Anerkenntnis der erzählerischen Meisterleistung. Die Wehrmacht wird als Teil des Dramas dargestellt, nie als deren Auslöser explizit benannt. Lange wird über den Fall diskutiert, bis Thomas Mann am 13. Dezember 1951 an Hermann Kesten schreibt: „Rufen wir H.W. Richter zum Schützenkönig aus, zur Not erhält er den Schickele-Preis…“

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

  • Rundbrief Nr. 38 + Korrektur  Anlagen Thomas Mann an Ernst Weiß | Xaver Frühbeis



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    fast 100 Jahre ist es her, daß Thomas Mann 1924 – die Nachbeben des Krieges waren noch zu spüren – in Amsterdam eine Tischrede hielt: „Der Schriftsteller, der Dichter ist ja ein irritabilis vates; Talent ist im wesentlichen Sensitivität, Empfindlichkeit für Zukunftsnotwendigkeiten. (…) Der Dichter, der in einer geschichtlichen Stunde, wie der gegenwärtigen, nicht die Partei des Lebens ergriffe, wäre wahrhaftig nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.“

    Der aktuelle Krieg, da können wir nicht umhin, wird eine wesentliche Rolle unserer zukünftigen Arbeit spielen und auch bei unserem „hybriden“ Stammtisch am 28. März nahm er breiten Raum ein. In meinem Büro, dem ‚Sitz‘ unseres Ortsvereins, hatten wir uns in nur kleiner Runde (fünf Personen) getroffen, online zugeschaltet waren weitere acht Mitglieder. Ganz besonders erfreut war ich, daß wir Frau Ekaterine Horn in unserer Runde begrüßen durften. (Beim letzten Rundbrief hatte ich fälschlicherweise ihren Vornamen am Ende mit einem ‚a‘ geschrieben, wofür ich mich schon entschuldigte.) Aus Georgien, dem Nachbarland der Ukraine stammend, schilderte sie uns ihre Empfindungen angesichts der schrecklichen Bilder des Krieges und der aus ihrer Sicht nach wie vor als etwas lau empfundenen Reaktionen des Westens. Trotz Ihrer Liebe zur russischen Literatur fällt es ihr heute schwer, einen Roman von Dostojewski in die Hand zu nehmen. Wir bekamen einen Eindruck von den Verwerfungen, die dieser Krieg auslöst, und eine Ahnung davon, wie lange es dauern wird, bis die Völker, bis die Bürger dieser Länder sich wieder die Hände reichen können.

    Und dennoch begrüßte sie, wie die gesamte Runde, unsere Patenschafts-Initiative für alle Interessierten aus den östlichen Ländern, gehen wir doch alle davon aus, daß Liebhaber der Literatur Thomas Manns nicht der Barbarei des Krieges das Wort reden können. Professor Valerij Susmann aus Nishni Nowgorod bedankte sich jedenfalls die Anregung und ich stellte mich sogleich als sein ‚Pate‘ zur Verfügung; seine Frau Natascha, eine Ukrainerin, will auch gerne die Patenschaft ihrer Freundin Margit Haider-Dechant annehmen.

    Auch im Vorstand unserer Gesellschaft wird diese Initiative sehr begrüßt, man ist gespannt auf Echo und Erfolg. Nach einer ausführlichen Beratschlagung mit Lübeck sollten die Beiträge für die Patenschaften als „Spende Patenschaft“ auf das Konto unseres Ortsvereins eingezahlt und nicht nach Lübeck überwiesen werden.

    Doch bevor wir Gelder einsammeln und vereinsrechtliche Dinge im Detail klären, müssen wir Kontakte knüpfen. Den von mir hoch geschätzten, in Salzburg lebenden, deutsch-russisch-jüdischen Autor Vladimir Vertlib habe ich hierzu auch um Unterstützung gebeten. Die Kommunikationswege werden immer schwieriger. Herr Susmann hat seit drei Wochen auf eine Anfrage meinerseits noch nicht reagiert. Frau Horn wird Kontakte in ihre Heimat aktivieren, anfragen, ob Interesse besteht an einer Mitgliedschaft in der Thomas Mann-Gesellschaft. Sie hatte uns eine Liste georgischer Publikationen zu Thomas Mann zur Verfügung gestellt. In einem zweiten Schritt will sie nun Zusammenfassungen der wichtigsten Schriften nachliefern, damit wir entscheiden können, welche Beiträge für eine Publikation – finanziert aus Patenschaftsmitteln – in Frage kommen.

    Der Blick von außen auf ‚unseren‘ Dichter wird auch unseren Horizont erweitern.

    Zurück zu unserem Stammtisch: Man ermunterte mich, alle angedachten Veranstaltungen für die Sommermonate in Angriff zu nehmen. Es besteht ein großes Bedürfnis nach Präsenzveranstaltungen, was auch an der Auslastung von Opern und Konzerthäusern ablesbar ist. Jeder muß für sich Vorsorge treffen per Impfung, Maske etc.

    Die Veranstaltung mit Herrn Tobias Schwartz im Museum Koenig konnte ich aufgrund verschiedenster Quarantäne- und Home-Office-Umstände im Museum noch nicht fixieren. Wer Tobias Schwartz allerdings vorab schon kennenlernen will, kann dies am 14. Juni in der Buchhandlung Böttger tun (Anmeldung erforderlich). Er wird dort über seine Übersetzertätigkeit für den Aviva-Verlag und seine im Elfenbein Verlag erschienen Romane berichten. Der Vortrag zu seinem Verhältnis zu Thomas Mann, das insbesondere im Roman „Morpho Peleides“ aufscheint, liegt bereits fertig in seiner Schublade. Hoffen wir, daß die Schmetterlinge sich bald entpuppen können.

    Mit Prof. Thomas Wortmann stehen wir kurz vor einer Terminvereinbarung für seinen Vortrag in der Schlaraffia. Bei der Dichte der Feiertage in Mai und Juni und den frühen Sommerferien, ist dies kein leichtes Unterfangen.

    Im Juni konnte ich einen Termin fixieren: Am 14. Juni wird Dr. Tim Lörke aus Berlin zu uns über Thomas Manns Umgang mit den Medien sprechen, und zwar im Saal des Verwaltungsverbands der evangelischen Kirche in der Adenauerallee, wo die Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft nach wie vor ihren Sitz hat, auch wenn sie dort kein Restaurant mehr betreibt. Daher wird die LESE auch partnerschaftlich für uns in ihren Kreisen die Werbetrommel rühren. Eine ausführliche Einladung zu diesem Abend erhalten Sie noch in getrennter Post – halten Sie sich den Abend schon mal frei!

    Mit zwei traurigen Meldungen muß ich den ersten Teil des Rundbriefs abschließen:

    Unser langjähriges Mitglied Frau Dorothee Kross aus Bonn ist vorvergangene Woche verstorben. Die Familie Kross teilte dies Frau Martin in Lübeck mit. Die Anteilnahme der Mitgliederschaft der Thomas Mann-Gesellschaft wurde auf diesem Wege bekundet.

    Am gestrigen Samstag mußte ich im WDR 3 Klassik Forum mit Erschütterung erfahren, daß Xaver Frühbeis diese Woche mit nur 64 Jahren gestorben ist. Wie gerne lauschte ich seinen Moderationen mit bayrisch rollendem „R“, seinem kenntnisreichen Witz, seiner Leidenschaft für die liberalen, offenen Seiten klassischer Musik, seinem nie unpolitischen Denken. Im letzten Jahr hatte er uns seinen Moderationstext zu Schuberts Lindenbaum zur Verfügung gestellt. In Vorbereitung meines damaligen Rundbriefs (Nr. 26) stimmte ich meinen Text mit ihm ab. Seinen sehr freundlichen Antwortbrief habe ich angehängt – denken Sie sich beim Lesen seinen knarzig-münchner Ton hinzu.

    Feuilleton

    Ich habe mich in den letzten Wochen mit einem weiteren Briefpartner von Thomas Mann befaßt: mit Ernst Weiß. Zunächst mit seinem letzten Roman „Ich, der Augenzeuge“ – verfaßt 1939 in Paris, ein Jahr vor seinem Freitod, ein Jahr vor dem Einzug Hitlers in Weiß‘ neuer Heimat. Auf atemberaubende Weise rechnet darin der Dichter mit dem Diktator ab. Es sind viele autobiografische Züge erkennbar, aber der jüdische Dichter wählt einen Christen, einen Sohn antisemitisch, rechtsnationaler Eltern zum Ich-Er- zähler, der sich eine Jüdin zur Frau nimmt. Dies ist der eine Spannungsbogen. Der andere: Der Erzähler dient im ersten Weltkrieg, als Arzt hinter der Front – wie der Autor – und dieser Arzt wird zu Kriegsende mit einem hysterisch-blinden Patienten konfrontiert, den er heilt, mit A. H. Der gekürzte Führername erscheint erstmals exakt in der Mitte des Romans, und es folgt ein erzähltes Psychogramm dieses Unmenschen, wie ich es noch nie gelesen habe. Danach der weitere Lebenslauf dieses empfindsamen und rücksichtslos ehrlichen Erzählers, zwischen der Schuld die Bestie geheilt zu haben, der bedingungslosen Liebe zu seinen egomanischen Eltern und den sich aufbauenden Zweifeln an der Unschuldigsten der ganzen Geschichte, an seiner jüdischen Frau. Kristallklar und beklemmend.

    Thomas Mann hat diesen Roman nicht mehr kennengelernt. Anfang der 60er Jahre wurde der Text eher zufällig in New York entdeckt, wohin Weiß ihn zu einem Literaturwettbewerb geschickt hatte. 1963 wurde er von Hermann Kesten herausgegeben und mit einem Vorwort versehen.

    Ein Jahr vor „Der Augenzeuge“, 1938, erschien noch in Zürich der Roman „Der Verführer“, den Ernst Weiß Thomas Mann gewidmet hatte, der diesen an den Vorweihnachtstagen 1937 schon lesen durfte und ähnlich gefesselt war, wie ich es gewesen bin. Seinem Brief an Ernst Weiß vom 22.12.37 fehlt es dennoch nicht an einer dezenten Doppelbödigkeit. Thomas Mann scheint sich überrumpelt gefühlt zu haben von der Widmung des Romans an ihn. Den Text als fesselnd zu beschreiben, ihn mit der Vokabel ‚interessant‘ zu belegen, besagt noch lange nicht, daß er ihn wirklich gut fand. Er erkennt die distanzierte ‚Objektivation‘ von Weiß als Qualität an, obwohl sie seinem Schreiben fern ist. Er spricht nicht aus, was augenfällig ist: Weiß verwendet fraglos bewußt Thomas Mann‘sche Motive: allzu sehr ist man an die jungen Jahre des Felix Krull erinnert und auch an die Figur des Castorp im Zauberberg. Das Duell kommt hinzu, auch der finale Zug in den Krieg, den wir heute den Ersten nennen in der Hoffnung, daß es zu keinem Dritten kommt. Kurz: Mir scheint der Roman überfrachtet, auch enttäuschend fern jeglicher Politik – wir schreiben das Jahr 1937! Es finden weder Nationalismus noch Antisemitismus statt. Warum? Hatte er ernsthaft Hoffnung, dadurch eine breitere Leserschaft in der Schweiz zu gewinnen? Spekulationen – sollte man unterlassen.

    Seinen letzten Roman ‚Der Augenzeuge‘ kann ich allerdings rückhaltlos empfehlen.

    Am Ende komme ich auf das Thema Rußland zurück: 1922 spricht Thomas Mann in München zur Eröffnung der Ausstellung „Russische Dichtergalerie“. Er hebt seine Hochachtung vor den großen Dichtern dieses Landes hervor. Gegen Ende lesen wir folgende Sätze: „Es sind jetzt viele Russen, unser verworrenes Leben teilend, bei uns in Deutsch- land (…)“ und unter Bezugnahme auf Goethe etwas später: „(…) ist uns Gewähr, daß wir von Rußland nicht nur zu nehmen, daß auch wir, wenn es empfangen kann – und wie sollte sein weicher, hochherziger Sinn es nicht können -, ihm zu geben haben.“

    Er konnte nicht ahnen, daß die Bolschewiken und ihre nationalistischen Nachfolger noch 100 Jahre später das Land im Griff haben würden, um es dann aus der Reihe der zivilisierten Staaten hinaus zu bomben. Dennoch sollten wir versuchen, uns an die Seite der bürgerlich liberalen Menschen dieses Landes zu stellen, so wenig dies auch sein mögen.

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    PS: Herr Pfeifer macht aufmerksam, daß im Kleinen Haus des Schauspielhauses Düsseldorf gerade der Zauberberg gezeigt wird: https://www.dhaus.de/en/programme/a-z/der-zauberberg/

    Korrektur  Anlagen Thomas Mann an Ernst Weiß | Xaver Frühbeis

    Thomas Mann an Ernst Weiß

    Ernst Weiß und Thomas Mann

    Thomas Mann an Ernst Weiß zum Roman „Der Verführer“

    (Küssnacht, 22.XII.1937)

    Lieber Herr Ernst Weiß,

    über den mannigfaltigen Ansprüchen, die der Tag mit sich bringt, bin ich immer erst nachts vor dem Einschlafen (es wurde manchmal recht spät dabei, gestern, beim Endspurt, halb 2 Uhr) dazu gekommen, Ihren Roman zu lesen. So hat es länger damit gedauert, als ich dachte; aber nun habe ich das reiche Werk auch wirklich aufgenommen und kann Ihnen, nachdem ich es erworben, um es zu besitzen, noch einmal in vollerem Sinne dafür danken als beim Empfang. Von einer Überraschung kann ich nicht sprechen, eigentlich, denn ich kannte Sie längst in Ihrer erzählerischen Eigenart und wußte im Wesentlichen, was ich zu erwarten und worauf ich mich zu freuen hatte. Aber „Der Verführer“ ist doch wieder eine so neue und merkwürdige Kundgebung und „Objektivation“ dieser Eigenart, daß man dennoch von Überraschung reden möchte, in dem Sinne einfach, wie das Gute und Originale immer wieder überrascht – aus dem wiederum sehr einfachen Grunde, weil es selten ist, und man es mit so viel Durchschnittlichem und Uneigentlichem zu tun hat, daß man schließlich schon beinahe vergessen hat, wie das Gute und Merkwürdige aussieht. – Nun, so sieht es aus. Und was interessant ist, weiß man nun wieder. Interessantheit ist gewiß die erste und vielleicht einzige an einen Erzähler zu stellende Forderung, das Kriterium seines Talents, viel mehr als beim Lyriker oder Dramatiker. Denn wenn man einem zuhören soll, und zwar lange zuhören soll, so muß er eben interessant sein – eine freilich mysteriöse und kaum zu definierende Eigenschaft; aber dieses Geheimnis und das Undefinierbare haben Sie, und es macht Sie zu einem – soll ich sagen: großen? – aber was soll das Beiwort? -, es macht Sie ganz einfach zu einem Erzähler.

    Das Buch gehört zu dem Allerinteressantesten, das mir in Jahren vorgekommen, und während ich las, blätterte ich öfter zurück zur Widmung und freute mich, daß es mir gehört. Das Interessante aber, an und für sich rätselhafte, kann auch wohl inhaltlich-sachlich eines rätselhaften Einschlages nicht entbehren – man zerbricht sich den Kopf, man schüttelt ihn auch wohl, was ist das für ein Buch, was für ein Autor, was für ein Held, wie kommt der Autor zu diesem kühlen, kühnen, erfolgreichen Helden, wie weit ist er mit ihm identisch? Sehr weit offenbar, denn kühl, kühn und erfolgreich, innerlich erfolgreich ist auch der Erzähler, der hier erzählen läßt, aber auch wieder selbst erzählt, ein Leben, eine Jugend, die in dieser Form wohl kaum die seine ist, ein Wunsch- und Schmerzensleben, das er mit so viel Kühle, Kühnheit und Erfolg zu realisieren weiß, daß es seines ist, sein zweites Leben, seine zweite Jugend.

    Der Erfolg, das Gelingen ist wirklich außerordentlich. Wie alles real gemacht ist, zur entschiedensten Autobiographie, zum eigentümlichsten Leben wird, ist erstaunlich. […] das Duell, noch einmal ein Roman-Duell, aber eben kein Roman-Duell, sondern ganz neu und lebenseinmalig „so war es“. Es ist vorzüglich.

    Man ist angefüllt mit Eindrücken, erregt und okkupiert von sonderbar existenten, aber unvergeßlich geprägten Bildern, Menschen und Geschehnissen. – Übrigens ist das Ganze sehr österreicherisch, wenigstens was einen gewissen Hauch von Gesellschaftlichkeit, Mondänität betrifft. Dabei diese Einsamkeit – bis zur Kälte. Sehr, sehr beschäftigend und ergreifend.

    Seien Sie beglückwünscht und nehmen Sie weihnachtliche Grüße. Ihr ergebener

    Thomas Mann

    Xaver Frühbeis

    Lieber Herr Baumgärtner,

    ich habe Ihren Text grade gelesen und fühle mich sehr geehrt. Und ich bin gespannt, was Ihren Lesern dazu einfallen wird. Vielleicht noch ein zwei kleine Anmerkungen.

    • Einmal hat sich in ihrem Text eine „Oper“ in einen „Ober“ verwandelt.
    • Was den Anfang meines Moderationszitats angeht:

    Beim „Lindenbaum“ ist das auch so, und: hier ist aber auch noch die Struktur des Lieds „Am Brunnen vor dem Tore“ eine ganz andere als die im Kunstlied von Schubert.

    • Das „hier“ macht hier nur Sinn, wenn man in der Sendung zuvor die Silchersche Volksliedversion gehört hat. Auf die sich das „hier“ bezieht. Ohne die Musik davor ist das „hier“ ohne Bezug. Vielleicht sollten Sie das noch einfügen …
    • Ein Gedanke noch, den ich in der Sendung nicht untergebracht habe. Ich bin der Meinung, daß die Müllerschen Leser und die Schubertschen Sänger und Zuhörer ganz selbstverständlich diese Botschaften zwischen den Zeilen verstehen konnten. Anders als wir heute. „Zwischen den Zeilen“ war ja das einzige, wie man solche subversiven Botschaften in der Spitzel- und Zensurzeit an den Mann bringen konnte. (Das war damals nicht anders als später in den Diktaturen von Hitler und Stalin.) Als Leser und Hörer war man gewohnt, Bilder und Allegorien zu deuten. Sobald dieser Zusammenhang jedoch entfällt, weil die Zensur nicht mehr existiert, wird der Leser/Hörer späterer Zeit diese Fähigkeit wieder verlieren. Deswegen tun wir Heutigen uns da ohne Anleitung so schwer.

    Man kann sich übrigens auch Zeilen in anderen Winterreise-Liedern unter diesem Aspekt betrachten. „Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten.

    Es schlafen die Menschen in ihren Betten, Träumen sich manches, was sie nicht haben.“ – Es ist nicht schwer sich vorzustellen, was Müller und seinen Zeitgenossen da in den Sinn gekommen ist: Freiheit. Freiheit des Worts und des Gedankens.

    Ich freue mich auf weitere Nachrichten von Ihnen. Beste Grüße

    Xaver Frühbeis

  • Rundbrief Nr. 37 + Anlagen  E. Horn: Liste Publikationen | M. Pfeifer: Betrachtungen



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, diesem Rundbrief ist das Protokoll unserer Jahresmitgliederversammlung angeheftet, das Sie,

    liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    nicht zu lesen bekommen – aber das können Sie ja zukünftig ändern.

    Bei unserer Jahresversammlung wurde ich gebeten, bei meinen zukünftigen Rundbriefen den redaktionellen Teil, in dem ich über Aktuelles und Organisatorisches unseres Ortsvereins berichte, vom feuilletonistischen Teil zu trennen, in dem ich über alte und neue Erscheinungen von, um und zu Thomas Mann berichte. Dies will ich auch sogleich beherzigen, wenngleich es dem Wesen einer literarischen Gesellschaft entspricht, daß sich diese Bereiche zuweilen überschneiden.

    Die im Protokoll ausführlich geschilderten geplanten Vorträge für dieses Jahr, hatte ich in den vergangenen Rundbriefen bereits angekündigt. Die große Zuversicht auf unserer Versammlung war auch getragen von den sinkenden Corona-Zahlen – inzwischen sieht es wieder komisch aus. Wir werden sehen und kämpfen, um die Vorträge terminieren zu können.

    Über die bedauerliche Abwesenheit des Herrn Professor Valerij Susmann bei unserer Jahresversammlung habe ich im Protokoll berichtet. Über die Wichtigkeit, mit Künstlern und Kulturschaffenden aus östlichen Ländern in Kontakt zu bleiben, sprachen wir noch im Nachgang. Die großen Hoffnungen zum Siegeszug der Demokratie als Staatsform, die wir vor 30 Jahren im Zuge der Perestroika hatten, sind spätestens seit zwei Wochen zerstoben. Die Texte von Thomas Mann zur Demokratie, zum Kampf gegen Autokraten, zum Krieg für die Freiheit sind aktueller denn je. Daher wollen wir Herrn Susmann sowie seine Freunde und Kollegen dazu anregen, in Nishni Nowgorod einen Thomas- Mann-Freundeskreis einzurichten. Sie würden Teil der Thomas-Mann-Gesellschaft, wobei ihre Mitgliedsbeiträge von ‚Paten‘ aus unserem Ortsverein übernommen würden. Diese dadurch gewonnenen Mitgliedsbeiträge sollten dann auf ein Sonderkonto fließen, aus dem wir junge Wissenschaftler aus dem Osten bei Publikationen, Vorträgen oder ähnlichen Dingen unterstützen. Über dieses Vorhaben würde ich gerne mit Ihnen bei unserem ersten Stammtisch beraten – neben vielen anderen Themen. Zu einem ersten Termin des Stammtischs stellt Herr Schlegel sein Wohnzimmer in Bonn Röttgen (An den Eichen 33) zur Verfügung und zwar am Montag, den 28. März um 18:00 Uhr. Da die – coronakonformen – Platzkapazitäten dort beschränkt sind, bitte ich alle daran Interessierten sich kurzfristig bei mir zu melden. Erste Meldungen werden bevorzugt berücksichtigt.

    Im Zusammenhang mit den östlichen Nachbarn unseres Landes darf ich auch auf unser neues Mitglied, auf die Germanistin Frau Ekaterina Horn hinweisen, die selbst aus Georgien stammt. Freundlicherweise stellte sie mir eine Liste von Publikationen zu Thomas Mann zusammen, die von ihren Landsleuten verfaßt wurden. Sie finden diese Liste im Anhang. Die Titel lesen sich sehr spannend – es gibt vieles zu entdecken. Ich frage schon auf diesem Wege bei Frau Horn an, ob sie uns bei einem Stammtisch von der Rezeption Thomas Manns in ihrer Heimat berichten könnte, mit der Perspektive, auch Vorträgen von dieser Seite ins Auge zu fassen.

    Feuilleton

    Den Text von unserem Mitglied Markus Pfeifer habe ich im Protokoll angekündigt. Während der Korrespondenz mit Herrn Pfeifer begann ich mich mit einem der wenigen Menschen zu befassen, die sowohl mit Thomas Mann als auch mit Bert Brecht befreundet waren. Hierzu besorgte ich mir das wohl einzige als Biographie anzusprechende Buch, das über Therese Giehse erschienen ist. Es wurde 1973 bei Bertelsmann von Monika Sperr herausgegeben und trägt den ebenso bayrischen wie unwahren Titel: „Ich hab nichts zum sagen“. Als Jüdin in München aufgewachsen, wurde sie früh mit Erika und Klaus Mann bekannt und wurde dann tragendes Mitglied der Züricher Pfeffermühle. In diesen ersten Jahren des Exils war sie sehr häufig bei der Familie Mann zu Gast, wo man sie als Schauspielerin bewunderte und als Person sehr schätzte. Dies blieb auch nach dem Kriege so, nachdem man sie, wie Erika sich ausdrückte, „an Brecht verloren“ hatte. Schon bei seinem ersten Europabesuch 1947 bewundert sie Thomas Mann als Madame Storch in Nestroys „Das Mädel aus der Vorstadt“ im Züricher Schauspielhaus und freut sich, daß die Theres‘ wieder bei der Familie am Tisch sitzt.

    Aus gegebenem Anlaß zeige ich ihnen hier ein Bild von Therese Giehse bei einem Auftritt in der Pfeffer- mühle beim Vortrag des Liedes von der Dummheit, ihrer finsteren Glanznummer, wie Erika Mann sich erinnert:

    „Im wallenden Ballkleid (rosa) und flachsiger Perücke (schulterlang) stand die Giehse auf rundem Postament (denkmalgleich) und kündete gereimt von sich und ihrer Allmacht: sie prahlte, schäkerte und drohte. Dann wieder erschrak sie jählings vor sich selbst, erstarrte zur Bildsäule und zum Prosa- Refrain: »Ja, um Gottes willen, bin ich dumm!«“

    An so etwas hatte Thomas Mann größtes Vergnügen, Erika weiter:

    „Es war der großartige Eugen Auerbach (im Jahre 1940 in Paris geschnappt und vergast), Freund und Klavierbegleiter von Karl Kraus, der die Giehse- Nummer komponierte und sich so den Märtyrertod verdiente, der freilich dem Juden ohnehin zustand.“

    So weit die harten Worte der lebenstauglichen Erika, so weit auch mein Rundbrief. Fürchte, auch wir werden noch allerhand Härten ertragen müssen in dieser Zeit.

    Seien Sie dennoch herzlich gegrüßt. Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    Anlagen  E. Horn: Liste Publikationen | M. Pfeifer: Betrachtungen

    E. Horn: Liste Publikationen

    Liste der Publikationen

    • Nasaridze: Natia: Goethe und Wagner-Rezeption in Thomas Manns Essaystik. Kutaissi 2005 (Monographie)
    • Nassaridze, Natia: Goethe-Rezeption in Thomas Manns Essay „Goethe und Tolstoi“. In: Beiträge der Fakultät der Europäischen Sprachen und Literatur. Kutaissi 2001, Bd. II, S. 74-80
    • Nassaridze, Natia: Wagner-Rezeption in Thomas Manns Essay „Leiden und Größe Richard Wagners“. In: Beiträge der Fakultät der Europäischen Sprachen und Literatur. Kutaissi 2003, Bd. IV, S. 3-7
    • Nasaridze: Natia: Zum Verständnis von „Artefakt“ in Thomas Manns Essay „Geist und Kunst.“ In: Beiträge der Fakultät der Europäischen Sprachen und Literatur. Kutaissi 2004, Bd. V, S. 25-28
    • Nasaridze: Natia: Goethe und Wagner-Rezeption in Thomas Manns Essaystik. In: Beiträge der historischen und philologischen Reihe. Kutaissi 2004, Bd. IV, S. 145-152
    • Nasaridze: Natia: Goethe-Bild in Thomas Manns Essays „Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters“ und „Goethes Laufbahn als Schriftsteller.“ In: Beiträge der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Kutaissi 2005, Bd. VII (II), S. 201-206
    • Nasaridze: Natia: Goethe-Bild in Thomas Manns Essays in den Jahren 1934- 1955. In: Beiträge der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Kutaissi 2005, Bd. VII (II), S. 207-215
    • Nasaridze: Natia: Beiträge der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Kutaissi 2008, Bd. X, S. 146-150
    • Nasaridze: Natia: Goethe-Bild in Thomas Manns Tagebüchern und Essays in den frühen Jahren. In: Beiträge der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Kutaissi 2007, Bd. IX, S.
    • Nasaridze: Natia: Das Wagner-Bild in Thomas Manns Essay „Phantasie über Goethe“. In: Goethe-Tage 2008. Hg. v. N. Kakauridze und D. Schäf. Kutaissi 2008, S. 23-27
    • Nasaridze: Natia: Zu Thomas Manns Demokratiebrief („Betrachtungen eines Unpolitischen“, „Von deutscher Republik“, „Deutschland und Demokratie“). In: Goethe-Tage 2011. Hg. v. N. Kakauridze und R. Ziller. Kutaissi 2011, S. 48-55
    • Tcholadze, Natia: Modulationen der abstrakten Themen-Motive im Zauberberg von Thomas Mann. In: “). In: Goethe-Tage 2021. Hg. v. N. Kakauridze und M. Bornmann. Kutaissi 2021, S. 134-151
    • Tcholadze, Natia: Die sinfonische Architektonik von Thomas Manns Der Zauberberg. In: Goethe-Tage 2021. Hg. v. N. Kakauridze und M. Bornmann. Kutaissi 2021, S. 152-161
    • Anna Khukhua: Die Funktion des „inneren Monologs“ in Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“. In: Goethe 250. Wissenschaftliche Konferenz des Rustaveli-Instituts für georgische Literatur. Merani-Verlag. Tbilissi 2001, S. 78- 83
    • Anna Khukhua: Goethe und Deutschland in Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“. In: Beiträge der Fakultät der Europäischen Sprachen und Literatur. Kutaissi 2004, Bd. V, S.337-343
    • Anna Khukhua: Die Authentizität eines Goethe-Zitats in Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“. In: Beiträge der Fakultät der Europäischen Sprachen und Literatur. Kutaissi 2004, Bd. V, S.333-341
    • Anna Khukhua: Historischer, biographischer und literarischer Kontext in Thomas Manns Essay „Goethe und Tolstoi“. In: In: Goethe-Tage 2008. Hg. v. N. Kakauridze und D. Schäf. Kutaissi 2008, S. 18-23

    M. Pfeifer: Betrachtungen

    Der Prolet und der „Stehkragen“ –
    Vergleichende Betrachtungen zu Bertolt Brecht und Thomas Mann

    Sehr verehrte Mitglieder des Ortsvereins BonnKöln der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft!

    Am 21.10. vergangenen Jahres hielt Herr Prof. Dr. Norbert Oellers einen schon lange zuvor geplanten Vortrag mit dem Titel „Bert Brecht und Thomas Mann“, der Corona-bedingt dann mehrmals verschoben -werden musste. Eine zentrale Tendenz dieses Vortrags von Professor Oellers, wie im Rundbrief Nr. 34 des Ortsvereins hervorgehoben wurde, war es dann, ein „Nicht-Verhältnis“ zwischen beiden zu konstatieren, eine Behauptung, der hier deutlich widersprochen werden soll.

    Herr Prof. Oellers beschränkte sich im Wesentlichen darauf, jeweils zwei Werke der beiden Autoren aus etwa der gleichen Entstehungszeit einander gegenüberzustellen, einmal aus der Zeit um 1930 „Mario und der Zauberer“ und „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“, aus der Zeit gegen Kriegsende dann

    „Doktor Faustus“ und „Das Leben des Galileo Galilei“ – wobei ggf. zu ergänzen wäre, dass Brecht seinen

    „Galilei“ schon zu Kriegsbeginn im dänischen Exil begann, 1943 uraufführen ließ, ihn unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki aber noch einmal aus der Schublade holte und ergänzte.

    Es hatte dabei deutlich den Anschein, dass Herr Professor Oellers die jeweils behandelten Werke ganz für sich sprechen lassen wollte, wie dies auch heutzutage hier und da in der Literaturwissenschaft betrieben und zum Prinzip erhoben wird. Aber daraus dann die These abzuleiten, Thomas Mann und Bertolt Brecht hätten untereinander grundsätzlich keinerlei Verhältnis zueinander gehabt, noch dazu kein persönliches, soll im Folgenden deutlich widersprochen werden. Denn auch ein distanziertes, kritisches Verhältnis zueinander wäre ja eines, das näher zu beschreiben wäre.

    Gerne bekunde ich in diesem Zusammenhang, dass ich als Geschichtslehrer und Nicht-Germanist mindestens ebenso sehr, wenn nicht noch stärker am Auftreten und Wirken von Schriftstellern in der Öffentlichkeit interessiert bin als an deren Werken, und demgemäß möchte ich hier also nun einige Ausführungen folgen lassen, die ganz überwiegend biografischen Darstellungen entstammen, auch was Originalzitate betrifft.1 Es sei hier auch ausdrücklich betont, dass dieser Text kein umfassend wissenschaftlicher zu sein trachtet, mir fehlt der Überblick eines echten Kenners des gesamten Schaffens der beiden und ein Überblick über einschlägige Sekundärliteratur; gleichwohl deute ich an, was bei einem solchen Vortrag für meine Begriffe zumindest hier und da wünschenswerterweise mit zu berücksichtigen gewesen wäre, und ich wurde in dem Eindruck bestärkt, dass einige andere ähnlich gedacht haben. Ausdrücklich also dazu ermuntert, diesen Text zu schreiben, hoffe ich, dass der geneigte Leser ihn zumindest bis zu einem gewissen Grad informativ und vielleicht hier und da auch unterhaltsam finden wird.

    Mann und Brecht – von denen im Übrigen gesagt wird, sie seien die bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts2 – standen über weite Teile ihrer schriftstellerischen Karriere zeit- gleich im Rampenlicht der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Allein aufgrund dieser Tatsache ist anzunehmen, dass die beiden sich zumindest von Ferne stets wahrnahmen und ggf. als Konkurrenten oder als Vertreter gleicher oder unterschiedlicher literaturästhetischer oder weltanschaulicher Positionen kritisch beäugten. Zudem darf man beiden allein deswegen zunächst ziemlich konträre Weltauffassungen unterstellen, wenn man einerseits die großbürgerliche Herkunft Thomas Manns in Betracht zieht, andererseits das dezidiert linke Image des Bertolt Brecht, der sich selbst gelegentlich wörtlich einen

    „Proletarier“3 nannte. Doch trennten die beiden Schriftsteller, die beide nicht zuletzt auch als Meinungsführer in der deutschen und später auch in der internationalen Öffentlichkeit auftraten, denn wirklich etwa in politischer Hinsicht zeitlebens Welten? Ob die beiden tatsächlich keinerlei Wert auf eine gegenseitige persönliche Bekanntschaft legten, ob die beiden sich grundsätzlich geflissentlich aus dem Wege gingen, auch diesen Fragen soll im Folgenden zumindest etwas intensiver nachgegangen werden als in Prof. Oellers‘ Vortrag.

    1 Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die Thomas Mann-Biografie von Klaus Harpprecht und die beiden Brecht-Monografi- en von Marianne Kesting (1959) und von Reinhold Jaretzky (2006).

    2 Zu einem solchen Ergebnis kam jedenfalls eine Umfrage des Allensbach-Instituts Ende der 1980er Jahre. Vgl. Harpprecht, S.17.

    3 S. Jaretzky, S.7.

    Thomas Mann, das muss eingangs zunächst hervorgehoben werden, erschien viel früher auf der literarischen Weltbühne als Brecht. Neben seinen klassischen Novellen und insbesondere den „Buddenbrooks“ machte Thomas Mann dabei nicht zuletzt mit großprotzig wilhelminischen und zudem demokratiefeindlichen und antiwestlichen Ausfällen auf sich aufmerksam, insbesondere in den während des Ersten Weltkriegs erschienenen „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Doch ging Mann nach Kriegsende bekanntlich mit der Zeit und machte eine markante weltanschauliche Kehrtwende. 1922 legte er mit einer anlässlich des 60. Geburtstags von Gerhart Hauptmann gehaltenen Rede „Von deutscher Republik“ öffentlich ein gründliches Bekenntnis zur neuen republikanischen Verfassung Deutschlands ab, ein literarisch-politisches Ereignis, dessen 100. Jahrestag ja in diesem Jahr begangen werden kann.

    Bertolt Brecht – wirklich ein Marxist?

    In dieser Zeit – also der Anfangsphase der Weimarer Republik – hatte Bertolt Brecht seinerseits auch bereits die Bühne des deutschen Kulturlebens betreten. Thomas Mann äußerte sich über diesen neuen Stern am literarischen Firmament zunächst verhalten respektvoll, indem er Brecht immerhin bescheinigte, er sei ein „starkes, aber einigermaßen nachlässiges Talent“, erst viel später sollte er dessen Kunst als „intellektualistisch“ und „bolschewistisch“ verschmähen4.

    Dabei ist Bertolt Brecht, das sei hier hervorgehoben, alles andere als ein Proletarierkind aus dem Arbeitermilieu – wie so mancher Zeitgenosse es sich vielleicht denken mag. Ganz im Gegenteil! Bertolt Brechts Vater selbst stammte zwar aus einfachen Verhältnissen und konnte nur einen Volksschulabschluss vorweisen, aber er entpuppte sich als Aufsteiger par excellence: Es sollte ihm eine beeindruckende Karriere gelingen, während der er bis zum Direktor einer Druckerei aufstieg, und in seines Vaters Sechs-Zimmer-Dienstwohnung konnte Brecht eine ziemlich privilegierte Jugend verbringen. Die Originalfassung des Brechtschen Dramenerstlings „Baal“, in seiner Zeit durchaus allgemein als anstößig angesehen, wurde auf väterliches Geheiß von einer Sekretärin der Augsburger Druckerei Haindl ins Reine getippt.5 Es mag ergänzt werden, dass Brecht auch der deutschen Novemberrevolution 1918 kritisch gegenüberstand. Den daran beteiligten roten Revolutionären warf er vor, „mit blutbefleckten, leeren Händen“ dazustehen.6

    Seinen eigenen Namen begehrte Brecht quasi kapitalismuskonform wie ein Firmenlogo zu vermarkten, und nach dem ersten literarischen Ruhm und der Publikation eines Gedichts namens „Singende Steyrwagen“ gelang es ihm doch tatsächlich, von jenem Autohersteller zu PR-Zwecken einen fabrikneuen Wagen gestellt zu bekommen. Geboren als Berthold Brecht, wandelte er seinen Vornamen in Bertolt um, um ihn in formale Übereinstimmung mit dem Vornamen Arnolt Bronnens zu bringen, seinem in jener Zeit engsten Freund und Famulus,7 einen Schritt, den Brecht vielleicht später angesichts der zweifelhaften Karriere des Herrn Bronnen bereut haben mag. Die einfache Nickelbrille, ein weiteres seiner Markenzeichen, ließ Brecht aus Titan anfertigen, seine für ihn typischen schlichten, mausgrauen Arbeiterhosen waren aus Seide gefertigt.8

    4 S. Jaretzky, S.44. 5 S. Jaretzky, S.11f. 6 S. Jaretzky, S.20. 7 S. Jaretzky, S.32. 8 S. Jaretzky, S.7.

    Insgesamt mag sich da also der Eindruck einstellen, dass Brecht jemand war, der aus der literarischen Darstellung von kapitalistischer Ausbeutung selbst Profit schlagen und nicht unbedingt an deren Beseitigung mitarbeiten wollte. Das wäre aber sicher auch ein unfaires Urteil. Zwar trat er in seinem Leben niemals der Kommunistischen Partei bei, aber wenn so viele Texte Brechts eben doch eindeutig marxistischen Geist verströmen, so liegt das nicht zuletzt daran, dass er sich spätestens etwa seit 1926 intensiv mit der marxistischen Lehre auseinandersetzte und zu diesem Zweck auch eine entsprechende Bibliothek einrichtete. Ein Besuch im stalinistischen Russland 1935 ließ ihn tief beeindruckt in die Heimat zurückkehren. 1941, auf der Durchreise durch die UdSSR, charakterisierte er die Elite der Sowjetunion indessen als „verbrecherische Clique, die eine Diktatur ‚über‘ das Proletariat “ errichtet habe.9

    Rezeption in der Sowjetunion – anders als man denken mag

    Eine Ironie der Literaturgeschichte besteht nun darin, dass die 1934 von sowjetischer Seite verordnete sogenannte Realismus-Doktrin die Romane Thomas Manns in ihren verbindlichen Kanon ausdrücklich mit aufnahm, wohingegen Bertolt Brecht darin gänzlich unerwähnt blieb, was den schmählich Vernachlässigten durchaus sehr gekränkt hat. Ohne öffentlich in dieser Sache aufzutreten, entwickelte Brecht im Privaten eine Gegenposition zu dieser sowjetischen Doktrin.10 Als Mastermind hinter dieser marxistischen Literaturtheorie kann übrigens der ungarische Literaturwissenschaftler Georg Lukacs verortet werden,11 von dessen Physiognomie kolportiert wird, sie sei Vorbild für den Leo Naphta im „Zauberberg“. War hier also der „Zauberberg“ der entscheidende Grund – bzw. war gar mehr oder weniger bewusst auch persönlicher Dank im Spiel?12

    Von der unterschiedlichen Art, Texte unterschiedlicher Art zu produzieren

    Wenn man sich nun einmal vergleichend einen allgemeinen Eindruck von der Art der jeweiligen schriftstellerischen Produktion der beiden verschafft, kann einerseits festgestellt werden, dass Thomas Manns Hauptwerke ganz überwiegend dem Genre des Romans und der Erzählung angehören, während Brechts Schwerpunkte bekanntermaßen auf dem Drama und der Lyrik liegen, so dass beide sich eigentlich gar nicht als direkte Konkurrenten auffassen mussten.

    Auch die Art des jeweiligen Schaffensprozesses unterscheidet sich deutlich: Thomas Mann zog sich stets in sein außerordentlich luxuriös ausgestattetes Arbeitszimmer zurück, um an seinen Texten zu arbeiten, bis er ihnen schließlich den idealen finalen Schliff zu geben vermochte – seinen Familienangehörigen und Bediensteten war eine Störung dieses Arbeitsprozesses strengstens verboten. Demgegenüber war der Schreibprozess Brechts sehr regelmäßig ein kollaborativer, ja er entwickelte viele seiner Texte im Freundeskreis auch mithilfe von spontanen Ideen seiner Freunde und Gäste – und so manches seiner Werke steht bekanntlich sogar im Ruf, von der einen oder anderen Lebensgefährtin zu nicht unbedeutenden Anteilen fertiggestellt worden zu sein. Als ein besonders extremes Beispiel mag das Stück

    „Happy End“ dienen: Eine Art Nachfolgewerk im Stil der weltweit erfolgreichen „Dreigroschenoper“, schrieb Brechts Lebensgefährtin Elisabeth Hauptmann dies quasi in dessen Auftrag, Brecht steuerte lediglich einige Songtexte dazu bei, die allerdings immerhin ihrerseits einen legendären Ruf genießen, etwa das vom Surabaya-Johnny. Gleichviel, das gesamte Werk wird bis heute insgesamt als das seinige betrachtet.13

    Wie Brecht trug übrigens auch Thomas Mann – das sei kurz ergänzt – von seinen im Entstehen begriffenen Texten bereits vor der Veröffentlichung weitgehend fertige Passagen im privaten Kreis vor, allerdings war der kreative Prozess dann in der Regel schon weitgehend abgeschlossen, und Thomas Manns Publikum bestand dabei – ganz im Gegensatz zu dem Brechts – nur aus seinem engsten Familienkreis, dessen spontane Reaktionen Thomas Mann – ein talentierter Vorleser – dabei gerne austestete.

    9 S. Jaretzky, S.66, S.83f., 102.

    10 S. Jaretzky, S.94.

    11 Ebd.

    12 S. A. Grenville: “Linke Leute von rechts“; in: Hans Rudolf Vaget (Hg.): „Thomas Mann’s Magic Mountain“ , London 2008, S.145.

    13 S. Jaretzky, S.59.

    Persönliche Bekanntschaft, Erfolg und Misserfolg im Exil

    Was persönliche Kontakte zwischen Bertolt Brecht und Thomas Mann betrifft, so vermerkt Klaus Harpprecht, Verfasser einer der ausführlichsten Biografien über Thomas Mann, keinerlei Anekdote von einer etwaigen persönlichen Begegnung beider während der Zeit der Weimarer Republik – etwa in München, obwohl beide doch dort ja zeitgleich eine gewisse Zeitlang lebten bzw. arbeiteten. Zweifellos ergaben sich dort aber bedeutende persönliche Bekanntschaften im persönlichen Umfeld beider, das prominenteste Beispiel wohl die persönliche Freundschaft zwischen Therese Giehse und Erika Mann. Die Giehse wirkte seit Ende der Zwanziger Jahre unter Brechts Regie in der Dreigroschenoper mit und war ihm ihr Leben lang verbunden, und andererseits betrieben die Giehse, Erika und Klaus Mann einige Jahre lang das Münchener Kabarett der Pfeffermühle, mit dem man aber schon kurz nach dessen Gründung 1933 gemeinsam ins Schweizer Exil umziehen musste. Auch Erika Mann und Therese Giehse blieben sich ihr Leben lang eng verbunden. Nachgewiesenermaßen kam es aber auch zwischen Thomas Mann und Bertolt Brecht selbst zu privaten Kontakten bis hin zur persönlichen Bekanntschaft, die sich im amerikanischen Exil ergaben. Förderlich dafür war, dass beide in unmittelbarer Nachbarschaft in Los Angeles lebten.

    Beide hatten sich zuvor dezidiert gegen Hitler positioniert, Brecht floh am 28.2.1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, ins Ausland, zunächst nach Dänemark, und er gelangte nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges über die UdSSR 1942 nach Amerika. Thomas Mann warb seinerseits gegen Ende der Weimarer Republik noch lautstark für die Demokratie, etwa 1930 in seiner vielbeachteten Rede

    „Appell an die Vernunft“. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten überraschte ihn dann während einer Vortragsreise durch die Schweiz, wo er sich dann einige Jahre in Küsnacht bei Zürich niederließ, bis die Manns 1938 endgültig in die USA auswanderten.

    Während Thomas Mann sich dabei schließlich im vornehmen Stadtteil Pacific Palisades niederließ, wo er sich scheinbar relativ unbefangen seiner Schriftstellerexistenz widmen konnte, suchte Bertolt Brecht stets die Nähe der Filmstudios von Hollywood, um dort etwa Aufträge für Drehbücher zu erhaschen. Ihm sollte dabei nur bescränkter Erfolg beschieden sein. „Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen, gehe ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden. Hoffnungsvoll reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer.“ Immerhin gelang Brecht ein Publikumserfolg mit der Drehbuchvorlage zum Film „Hangmen also die“, der auf die Ermordung von Reinhard Heydrich in Prag anspielt, Stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren und Leiter der Wannsee-Konferenz. Weiterer finanzieller Erfolg war Brecht durch die gelegentliche Mitarbeit mit Lion Feuchtwanger beschieden. Brecht durfte sich so schließlich auch Besitzer eines kleinen Hauses nennen und konnte sich einige Reisen nach New York leisten.14 Marianne Kesting berichtet in ihrer bereits gegen Ende der 50er Jahre erschienenen Biografie nun von einem Lese-Club, zu dessen regelmäßigen Teilnehmern neben Thomas und Heinrich Mann und etwa Franz Werfel auch Bertolt Brecht gehört habe.15 Unter diesen deutschen Exilanten in Kalifornien soll aber nicht immer unbedingt eine Atmosphäre einträchtiger Harmonie und Solidarität geherrscht haben. Der Brecht-Biograf Reinhard Jaretzky spricht jedenfalls von erheblichen Spannungen und einem

    „Markt bösartiger Anfeindungen“, auf dem die Kreativen sich gegeneinander zu behaupten und ihr jeweils eigenes Profil zu schärfen suchten: Nicht zuletzt nahm auch Brecht aktiv seinen Anteil daran. So war er sich nicht zu fein, gegen die dem Marxismus durchaus nahestehende, aber äußerst wohlbetuchte Mannschaft des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“ zu sticheln. Und auch über Thomas Mann mokiert sich Brecht, der seinen eigenen Bruder Heinrich hungern lasse, während der jüngere Bruder Thomas sich einen aus mehreren Wagen bestehenden Fuhrpark leiste.16

    14 S. Jaretzky, S.118f.

    15 S. Kesting, S.109.

    16 S. Harpprecht, S.1360.

    Dass Thomas Mann im Exil in der Tat in finanzieller Hinsicht deutlich besser dastand als sein Bruder Heinrich und auch als Brecht, lag zum einen sicher am Ruhm, der sich aus seinem Nobelpreis ergab, und der eher bürgerlichen Ausrichtung seiner Schriften. Und dass der von Brecht bemitleidete Heinrich Mann quasi am finanziellen Tropf seines jüngeren Bruders hing, lag zum Beispiel daran, dass Heinrich Mann, dessen Bücher sich insbesondere in der Sowjetunion durchaus gut verkauften, von dort nicht angemessen entlohnt wurde, denn die zuständigen Stellen in der UdSSR zeigten sich sehr zögerlich, Devisen zu überweisen, auch nachdem Thomas Mann bei sowjetischen Stellen für seinen Bruder vorstellig wurde. 17

    Thomas Mann hingegen bezog sogar zumindest zu Beginn der NS-Zeit weiterhin Tantiemen aus Deutschland, wenn auch in eher bescheidenem Umfang, vor allem aber gelang es ihm, in den USA schnell zu einer von der Öffentlichkeit stark wahrgenommenen Figur aufzusteigen und sich selbst quasi in der Nachfolge Goethes als eigentlicher Repräsentant deutscher Kultur zu inszenieren, frei nach dem bekanntermaßen effektvoll vermarkteten Motto „Wo ich bin, ist Deutschland!“18 Doch gelang ihm der Aufbau eines solchen öffentlichen Images freilich nicht ganz von allein. Protegiert und bei weitem nicht nur in finanzieller Hinsicht massiv unterstützt wurde Mann in den USA von einer gewissen Agnes Meyer, einer begeisterten Leserin der „Buddenbrooks“, die selbst Tochter von Einwandern aus Deutschland war, aber zudem und vor allem auch Gattin des Besitzers der Washington Post, einer der renommiertesten Tageszeitungen der USA. Agnes Meyer war maßgeblich daran beteiligt, Thomas Mann lukrative Angebote für öffentliche Gastvorträge etwa an namhaften Universitäten zuzuschanzen. Nicht zuletzt durch die auf diese Weise gewonnenen Kontakte wurde Mann auch zweimal ins Weiße Haus geladen, er begegnete dabei jeweils Präsident Roosevelt persönlich. Außerdem vermittelte man ihm einen lukrativen Posten an der Library of Congress in Washington, wo er dann in der Öffentlichkeit vielbeachtete jährliche Vorträge zu halten hatte. Dieser Aufgabe widmete er sich bis 1952. 19 In diesem Rahmen konnte er zum Beispiel sein eigenes, im Exil entstandenes Werk „Joseph und seine Brüder“ der Öffentlichkeit vorstellen (1942), unmittelbar nach der deutschen Kapitulation hielt er seinen wegweisenden Vortrag „Deutschland und die Deutschen“ und 1949 sprach er zum Thema „Goethe und die Demokratie“.20 – Ja, Mann galt schließlich in den USA als so objektive Autorität in Sachen Deutschtum, dass Auszüge aus der ebenfalls im Exil entstandenen „Lotte in Weimar“, insbesondere Goethe in den Mund gelegte, abfällige Äußerungen über die Mentalität der Deutschen, irrtümlicherweise als Goethes Originalzitate aufgefasst, als Beweismaterial bei den Nürnberger Prozessen eingesetzt wurden.21

    Im Angesicht der nahenden Kapitulation Deutschlands und angesichts der Gewissheit über die bestialischen Gewaltakte der Deutschen in Kriegsgebieten und Konzentrationslagern hatte Mann indessen an – dere Landsleute aufwühlende, vor den Kopf stoßende Phantasmagorien über notwendige Strafgerichte an den Deutschen formuliert. Brecht notierte dazu: „Als Thomas Mann vorigen Sonntag, die Hände im Schoß, zurückgelehnt sagte: ‚Ja, eine halbe Million muss getötet werden in Deutschland‘, klang das ganz und gar bestialisch. Der Stehkragen sprach.“22 Harpprecht macht in Thomas Manns Tagebüchern und seinem öffentlichen Gebaren dieser Zeit immer wieder widersprüchliche Tendenzen und makabre Gewaltphantasien aus.

    17 S. Harpprecht, S.1240-42.

    18 S. https://www.deutschlandfunk.de/wo-ich-bin-ist-deutschland-100.html

    19 S. Harpprecht, S.2239f. (Namensverzeichnis)

    20 S. https://blogs.loc.gov/international-collections/2020/12/thomas-mann-and-the-library-of-congress/

    21 S. Harpprecht, S.1577.

    22 S. Harpprecht, 1360.

    Herr Baumgärtner wies in seinem Rundbrief Nr. 34 seinerseits ja bereits auf unsensible Äußerungen Thomas Manns über die innerdeutsche Opposition gegen Hitler hin, etwa was den Münsteraner Bischof und Kardinal Clemens August von Galen betrifft. – In einem sicherlich gleicher – maßen fragwürdigen rhetorischen Ausfall seinerseits beklagte Bertolt Brecht nun, dass das deutsche Volk „nicht nur die Untaten des Hitler-Regimes, sondern auch die Romane des Herrn Mann geduldet“ habe,23 Manns Roman „Joseph und seine Brüder“ bezeichnet Brecht als eine „enzyklopädie des bildungsspießers“.24

    Derlei überspannt zynische Rhetorik darf sicher als unfair eingestuft werden, bemühte sich doch Thomas Mann beispielsweise Ende der dreißiger Jahre mit anderen darum, Bertolt Brechts ehemalige Geliebte, die Schauspielerin Carola Neher, aus einem sowjetischen Gulag zu befreien, wenn auch letztlich erfolglos. Andere Versuche Thomas Manns, sich schriftlich oder mit Geldbeträgen um Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland zu bemühen, waren indessen Legion. Katia Mann half engagiert dabei mit.

    Überhaupt ist die ideologische Distanz zwischen Mann und Brecht zumindest in dieser Zeit als deutlich geringer anzusehen als viele mutmaßen mögen. Denn trotz seines auch in den USA großbürgerlichen Lebensstils und Auftretens ist Thomas Mann eben doch auch unbedingt wirklich als ein ernsthafter Verehrer des ziemlich fortschrittlich eingestellten US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt anzusehen, insbesondere lobte er dessen wegweisende Sozialgesetzgebung im Rahmen dessen Regierungsprogramms des New Deal. Im Jahre 1943 warb Thomas Mann in seiner ebenfalls in der Library of Congress gehaltenen Rede „The War and the Future“ zudem sogar explizit für einen Ausgleich zwischen den Ideologien und des Westens und der Sowjetunion.25

    Da mag man sich dann eigentlich wundern, warum sich Thomas Mann kurz zuvor im Sommer 1943 denn geweigert hatte, eine Erklärung über eine nach dem Kriege zu erhoffende Demokratisierung Deutschlands zu unterzeichnen, die vom Moskauer Nationalkonvent „Freies Deutschland“ entworfen worden war, worauf Herr Baumgärtner in seinem Rundbrief auch hinwies. Diese Weigerung stieß insbesondere Brecht vor den Kopf, zumal er sich darüber im Klaren war, dass Thomas Mann sich bei anderer Gelegenheit durchaus auch von den Sowjets gerne hofieren ließ, so dass die von Thomas Mann kolportierte Meinung, man dürfe die westlichen Alliierten mit so einer Moskauer Erklärung nicht vor den Kopf stoßen, Brecht als wenig glaubwürdig erscheinen musste.26 Hier muss wohl Thomas Manns persönliche Eitelkeit als Großschriftsteller eine zentrale Rolle gespielt haben, eine Art Singularitäts- bzw. Alleinvertretungsanspruch, was deutsche Belange anbetrifft, so dass er sich einfach nicht einreihen wollte in eine Gruppe von seiner Einschätzung nach weniger namhaften Kollegen seiner Zunft.

    Hadern mit Amerika

    Nach des Präsidenten Tod im April 1945 jedenfalls, insbesondere seit Beginn der systematischen Kommunistenhatz unter Führung des republikanischen Senators Joseph McCarthy, kühlt Thomas Manns Begeisterung für die USA in sehr ähnlicher Weise ab wie die Bertolt Brechts. Im Familienkreis, in dem Erika Mann in dieser Zeit praktisch die Funktion der Privatsekretärin ihres Vaters eingenommen hat, wird beraten, ob man allzu aggressive Spitzen aus den Manuskripten zu öffentlichen Verlautbarungen streicht oder eine Veröffentlichung sogar ganz unterlässt, um diensteifrig Wogen zu glätten bzw. um etwaige Aufregungen zum eigenen Schaden zu vermeiden.27

    23 S. Jaretzky, S.123.

    24 S. Harpprecht, S.1360.

    25 S. https://blogs.loc.gov/international-collections/2020/12/thomas-mann-and-the-library-of-congress/

    26 S. Harpprecht, S. 1359.

    27 S. z.B. Harpprecht, S.1774-78.

    Bertolt Brecht bekommt den sich im Zeichen des bald angebrochenen Kalten Krieges schnell breitmachenden extrem antikommunistischen Zeitgeist eher und deutlich stärker zu spüren als Mann selbst: Brecht musste sich nämlich bereits 1947 einem gefürchteten öffentlichen Hearing des Ausschusses für unamerikanische Umtriebe stellen – wobei er sich übrigens recht schlagfertig und rhetorisch geschickt aus der Affäre ziehen konnte. Doch wenn ihm selbst so etwas zwar auch erspart bleibt, so musste sich Thomas Mann doch letztlich ganz ähnlich angegriffen fühlen, als er 1951 im US-Repräsentantenhaus öffentlich als „einer der weltweit bedeutendsten Verteidiger von Stalin und Genossen“ denunziert wur- de, indem man z.B. auf seine Äußerungen von 1943 in seiner Rede „The War and the Future“ verwies.28

    So kehren Bertolt Brecht und Thomas Mann letztlich gleichermaßen desillusioniert aus den USA nach Europa zurück, Bertolt Brecht früher als Mann, der schon Ende der 40er Jahre ausreist. Nicht zuletzt aufgrund mangelnder Alternativen lässt er sich in Ost-Berlin nieder, übrigens als österreichischer Staatsbürger, einen Status, den er aufgrund Helene Weigels Wiener Herkunft ergattern konnte und mit dem er anscheinend ein Gefühl zusätzlicher persönlicher Sicherheit verband. Er schließt seinen Frieden mit der DDR-Führung und wird 1954 schließlich Chef des Berliner Ensembles, wo man ihm vergleichsweise viele Freiheiten lässt. Mit diesem Team heimste er auch in den letzten zwei Jahren seines Lebens noch internationale Erfolge ein, etwa mit einer Inszenierung der „Mutter Courage“, für die man ihm beim Festival de Paris den ersten Preis verlieh. 1955 nahm er noch – wohl oder übel – den von Stalin gestifteten Internationalen Friedenspreis an, nachdem sich Thomas Mann dann doch geziert hatte, eine solche Auszeichnung anzunehmen. Loyal gegenüber der DDR-Führung verhält sich Brecht auch nach dem 17. Juni 1953. Er hatte sein Berliner Ensemble zwar auf solidarische Gesten mit den Aufständischen eingestimmt, die aber weitgehend ungehört verhallten. Seine Hoffnung auf ein ideologisches Um – denken der Staatsführung sollte sich zu seinen Lebzeiten nicht mehr erfüllen.29

    Thomas Mann seinerseits war endgültig erst 1952 wieder in die Schweiz zurückgekehrt. Doch zuvor hatte er bereits 1949 eine öffentliches Aufsehen erregende Reise in sein ursprüngliches Heimatland unternommen, die vor allem im Zeichen des 200. Goethe-Geburtstags stand. Bei vielen Westdeutschen setzte er sich indessen nun damit in die Nesseln, dass er nicht nur in Frankfurt, sondern eben auch im ostdeutschen Weimar an den Goethe-Feierlichkeiten teilnahm und damit auch hier implizit für eine Wiederannäherung der beiden Machtblöcke vor dem Hintergrund des sich ausbreitenden Kalten Krieges warb. Doch sollten auch Thomas Manns diesbezügliche Wünsche zu Lebzeiten nicht in Erfüllung gehen. Ziemlich genau ein Jahr vor Brecht schied er 1955 in Kilchberg bei Zürich aus dem Leben.

    So musste beider Leben in tiefer Enttäuschung und Desillusionierung enden, was die Entwicklung der weltpolitischen Lage betrifft. Brechts Zwangslage, sich einerseits mit seiner Staatsführung, die ihm immerhin einiges an Privilegien eingeräumt hatte, arrangieren zu müssen, andererseits damit aber seine intellektuelle und moralische Unabhängigkeit insbesondere nach 1953 zu kompromittieren, muss gegen Ende seines Lebens stark an ihm genagt haben. Thomas Mann mit seinem so manches Mal anmaßend penetranten Autoritätsdünkel muss seinerseits darunter gelitten haben, dass, wenn auch seine Anhängerschaft in beiden Teilen Deutschlands weiterhin bedeutend gewesen sein mag – wie bei seinem Deutschland-Besuch 1949 überdeutlich wurde, seine moralische Autorität in politischen Fragen in einem Deutschland der Kalten Krieger eben doch ein politischer Mainstream in Frage stellte – wobei nicht wenige noch nicht einmal bereit waren, ihm sein Renegatentum in der NS-Zeit zu vergeben.

    In weltanschaulicher Hinsicht eigentlich gar nicht so weit auseinander, hätte aber sicherlich auch ein stärkeres Aufeinanderzugehen oder gar gemeinsames Auftreten beider in der Öffentlichkeit wenig bewirkt – angesichts des weltpolitischen Szenarios, in dem diese beiden Deutschen keine durchschlagende Rolle mehr zu spielen hatten.                                                                       

    Marcus Pfeifer

    28 S. https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/1085322; Vgl.. auch https://blogs.loc.gov/international-collections/2020/12/tho- mas-mann-and-the-library-of-congress/

    29 S. Jaretzky, S.135-141, KestingS.160.

  • Rundbrief Nr. 36



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    ich sehne den Tag herbei, an dem ich meine Rundbriefe nicht mehr mit dem Thema Corona beginnen muß. Vielfältige Vortragsprojekte haben sich angesammelt, aber ich wage es noch nicht, konkrete Raum- und Terminfestlegungen zu treffen. Auf die Projekte gehe ich später im Einzelnen ein, zunächst müssen wir Administratives ins Auge fassen: Eine Jahresmitgliederversammlung steht an. Die Kassenprüfung haben dankenswerterweise wieder Dr. Agnes und Axel Volhard übernommen und mir eine ordnungsgemäße Abrechnung bescheinigt. Die Versammlung werden wir hybrid abwickeln müssen. Ein kleiner Kreis (Vorstand, Protokollführer, einige Mitglieder) wird sich in meinem Büro oder im Haus der Schlaraffia treffen und von dort die Online-Konferenz leiten. Frau Kirsten Huppertz wird die entsprechende Einladung vorbereiten, vorab machen wir einen Probelauf, damit die Sache dann auch glatt läuft. Aus privaten Gründen meinerseits wird die Veranstaltung erst Mitte / Ende Februar stattfinden können. Es sind eine ganze Reihe von Dingen zu besprechen, daher wäre eine große Teilnehmerzahl erfreulich. Meine Fragen im Vorfeld mit der Bitte um Rückmeldungen: Haben Sie bereits Erfahrungen mit dieser Form von Online-Sitzungen? Würden Sie an der Jahresversammlung in dieser Form teilnehmen? Ich kann Ihnen versichern: Es ist ungewohnt aber es funktioniert recht gut. Die Vorstandssitzungen unserer Gesellschaft finden seit fast zwei Jahren in dieser Form statt und haben ihr schon viele Reisespesen erspart. (Daß ich die Reisekosten liebend gerne selbst übernähme und mit den Kollegen im Anschluß an die Sitzung noch gerne ein Bier trinken würde, steht auf einem anderen Blatt.)

    Nun zu erfreulicheren Dingen: Ich hatte im letzten Brief meine Teilnahme an der Tagung in der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg angekündigt, die unter dem Titel

    MannsBilder – Mediale Darstellung und Wahrnehmung der Familie Mann

    dort stattfand. Von unseren Mitgliedern war auch Frau Dr. Reinhard zugegen. Sie ist eine erfahrene Kursteilnehmerin der Thomas-Morus-Akademie, einem perfekt ausgestatteten Tagungshaus mit modernen Hotelzimmern, einer prächtigen Sicht auf Köln und einem ordentlichen Restaurant, in dem ein strenges Corona-Lüftungs-Regiment gepflegt wurde, weshalb wir zum Frühstück dann im Mantel erschienen. Wie dem auch sei: Erkundigen Sie sich nach deren Kursprogramm – es lohnt sich.

    Zwei Vorträge möchte ich hervorheben:

    Zum einen jenen des noch recht jungen Professors Dr. Thomas Wortmann. Er berichtete über die Statussymbole von Thomas Mann und machte dies fest an der frühen Erzählung ‚Eisenbahnunglück‘, die einen weit weniger dramatischen Verlauf nimmt, als der Titel vermuten läßt, schildert sie doch eine Begebenheit, die TM 1906 selbst erlebt hatte. Herr Wortmann, in Mannheim lehrend aber aus dem Rheinland stammend, ist bei aller Wissenschaftlichkeit mit einem humorvollen Redefluß gesegnet. Es war erstaunlich, wie er mit seinem germanistischen Analysebesteck diesen kurzen Text zergliederte und erstaunliche Erkenntnisse zutage förderte. Im Nachhinein fragte ich ihn, ob er bereit sei, diesen Vortrag auch in Bonn zu halten und er stimmte sofort zu.

    Zum anderen war uns aus Berlin Dr. Tim Lörke überlebensgroß auf der Leinwand zugeschaltet. Er ist dem einen oder der anderen sicher von den Thomas-Mann-Tagungen bekannt. Sein Vortrag beleuchtete das Tagungsthema am umfassendsten: Wie Thomas Mann mit den Medien umging, sich ihrer bediente zum eigenen Zwecke, zur Darstellung seiner selbst. Es gelang ihm vorzüglich, Thomas Manns Spagat zwischen Bürger- und Künstlertum zu schildern, seinen Anspruch ‚Avantgarde‘ sein zu wollen und zugleich vom breiten Volk gelesen zu werden; er wollte ökonomisch erfolgreich sein und zugleich anerkannt in literarischen Kreisen. Hierbei legte er immer Wert darauf, in den Journalen korrekt abgebildet zu werden. Der Saal war begeistert (ca. 40 Teilnehmer) und auch hier mußte ich beim Referenten natürlich die Frage loswerden, ob er im Sommer denn mal aus Berlin in die alte Hauptstadt kommen wolle – und auch Tim Lörke stimmte sofort zu. Er will auch meiner Bitte entsprechen, für seinen Vortrag einen anderen Titel zu finden: „Hitze und Kälte, Melancholie und Betulichkeit – Thomas Manns produktive Rezeptionssteuerung“ ist nicht dafür angetan, die Massen aus den Lesesesseln zu locken.

    Aufgrund der großen Bekanntheit von Dr. Tim Lörke möchte ich gerne einen größeren Saal für seinen Vortrag suchen – alles natürlich unter dem Corona-Vorbehalt. Der Uni-Club oder der Saal des evangelischen Verwaltungsverbands kämen dafür infrage. In Bensberg lernte ich auch Vertreter der LESE kennen, der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft, gegründet 1787. Auch sie beklagen einen Mangel an Jugend in ihren Reihen, möchten aber nichts unversucht lassen, ihre Idee einer bürgerlichen Bildungsgesellschaft in die Zukunft zu tragen. Da die Interessengebiete unserer Mitglieder fraglos große Schnittmengen aufweisen, vereinbarten wir, uns zukünftig wechselseitig zu unterstützen und gemeinsame Veranstaltungen ins Auge zu fassen. Mit Tim Lörkes Vortrag zu Thomas Manns Umgang mit den Medien, werden wird den Anfang machen.

    In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen diese Postkarte zeigen, die unser Mitglied Frau Jutta Hartmann mir aus Lübeck schickte. Schon dieses wundersam aus der Mode gekommene Wort „Ansporn“ elektrisierte mich; und dann: „Zeitschrift für Vorwärtsstrebende“. Für beides gibt es heute sicher prima Anglizismen. Aber was steckte dahinter? Was war Inhalt dieser Hefte? Hatte Thomas Mann darin einen Text verfaßt? Oder – um sogleich einen Anglizismus zu verwenden – hatte man ihn nur als Cover-Boy gebraucht: eindringlich, entschlossen und, tatkräftig blickend?

    Für kleines Geld erhielt ich von einem Antiquariat zwei schwere, in Leinen gebundene Sammelbände des Jahrgangs 1930 dieser damals monatlich er- scheinenden Unternehmer-Zeitschrift. Ein Text von Thomas Mann findet sich nicht darin, aber eine gewisse Frau Dr. phil. Elisabeth Sommer singt ein hohes Lied auf den Sproß einer erfolgreichen Kaufmannsfamilie, der deren Stammbaum mit dem Nobelpreis bekrönte, eine durchaus lesenswerte Kurzbiographie. Was findet sich noch in diesem Heft? „Tüchtige Werbedamen gesucht“ ist ein Text überschrieben, oder „Praktische Winke für die Zwangsvollstreckung“ Eine zeitgemäße Büroausstattung wird vorgestellt, auch ein modernes Unternehmen der Glasproduktion. Und am Ende jeden Heftes gibt es als Fortsetzung „Sprachübungen“ – in Englisch, Französisch und Spanisch! Aber, und das sei hervorgehoben: Der Leitartikel eines jeden Hefts stellt einen herausragenden Künstler, Ingenieur oder Politiker vor. So wird die ‚Puppenmutter‘ Käthe Kruse präsentiert, aber auch George Washington, Wilhelm Röntgen und Hans Christian Andersen. Das Unternehmertum sah sich untrennbar mit der internationalen Kultur verbunden und hob dies auch hervor. Buchenswert!

    Im letzten Rundbrief habe ich ausführlich das freundschaftliche Verhältnis Thomas Manns zu Hans Reisiger alias Rüdiger Schildknapp geschildert. Auf Hans Reisiger neugierig geworden, besorgte ich mir noch seine 1952 erschienene Erzählung ‚Aeschylos bei Salamis‘, von der er schon im Herbst 1949 Thomas Mann erste Kapitel zu lesen gab, der diese als „ernst, nobel, klug, menschlich warm und dichterisch gehoben“ bezeichnete, bevor er das Buch im Herbst 1952 zur Gänze zu lesen bekam und er eine Eloge darauf anstimmte. Die Bezeichnung ‚Erzählung‘ sei zu bescheiden, es handle sich vielmehr um ein „Gedicht, einen Gesang, ein hochgestimmtes, mitreißendes, farbenreiches, von sinnigen, tiefgeführten Apercu über das Menschliche durchwobenes Lied…“

    Der Ton der Erzählung ist wahrlich ein sehr hoher und heutigen Lesern kaum noch zumutbar. Man kann das Ganze verstehen als einen Lobgesang auf eine zivile, wehrhafte und demokratische Gemeinschaft, eine Mahnung an die Bürger der noch ganz jungen Republik. Nicht umsonst steht Aischylos im Mittelpunkt und nicht die Kriegsherren; Xerxes wird vom Welteroberer zur Witzfigur auf dem Pfauenthron und nicht zufällig ist auch der junge Perikles mit von der Partie, der Aischylos gegenüber bedeutsam sagen darf: „…so bekenne ich, daß mir der Friede die erstrebenswertere und auch die schwerere Aufgabe scheint, die dem Menschen gestellt ist.“ Und Aischylos resümiert gegen Ende: „Aber es hat sich soeben wieder gezeigt, wohin es führt, wenn die Macht nicht Maß zu halten weiß und nicht mit Einsicht gepaart ist.“ (Sehr vornehme gehaltene Hinweise an die deutschen Leser von 1952) Man kann mit dem Buch seine Kenntnisse der altgriechischen Geschichte wieder auffrischen, aber für junge Leser müßte es tüchtig durchgepustet werden.

    Ein weiterer Nachtrag zum letzten Rundbrief: Ich hatte von Werner Oellers‘ Roman ‚Die neuen Augen‘ berichtet. Nun habe ich auch den 1939 erschienen Roman ‚Die Gewalt der Waffen‘ gelesen – und bin wieder begeistert. Dessen Titel ist unglücklich gewählt, wurde aber von Oellers nochmals überarbeitet und erschien 1942 mit noch deutlicheren autobiographischen Bezügen unter dem Titel ‚Das beharrliche Leben‘. Dieser zweite Titel paßt jedenfalls besser zur Geschichte: Dem Erwachsenwerden von zwei Jungen während des Ersten Weltkriegs. Gewalt, Krieg und Waffen finden nur in weiter Ferne statt. Die Jungs erleben die Auswirkungen des Kriegs auf ihre Familie, ihr Dorf: Der Vater wird eingezogen, viele Lehrer auch, Lebensmittel werden knapp, die ersten Frauen gehen schwarz gekleidet durch die Straßen, es gibt kein Gummi mehr für die Fahrradreifen, die Felgen werden mit Holz beschlagen, erste Kriegsversehrte kehren heim, ein russischer Zwangsarbeiter ist ein netter Kerl… Kein Wort gegen den Krieg, aber ein Buch darüber, daß in einem Kriege alle Seiten nur verlieren.

    Zum Abschluß kommt mir in dieser gedrückten Stimmung des Nicht-agieren-Könnens ein Satz Thomas Manns aus einem Brief an Agnes Meyer in den Sinn: „Immer habe ich eine Vorliebe gehabt für Andersens Märchen vom ‚Standhaften Zinnsoldaten‘. Es ist im Grunde das Symbol meines Lebens.“ (9.2.55) Womit ich bei dem hoffnungsvollen Blick in unseren Kühlschrank der Veranstaltungen angekommen bin. Frauke May ist in Vorbereitung ihres LIEDeraturabends zu Hans Christian Andersen, Tobias Schwartz brütet in Berlin über seinem Vortrag ‚Mein Thomas Mann‘ und der Vorstellung von Morpho Peleides umrahmt von Schmetterlingen im Museum Koenig, über Wortmann und Lörks habe ich oben ausgiebig berichtet, Herr Prof. Susmann aus Rußland will uns etwas zu Thomas Mann und die russische Literatur erzählen und auch der Vortrag von Prof. Wißkirchen zu Thomas Mann und Hermann Hesse ist nicht vergessen, wie auch der Abend mit Prof. Di Fabio und der Deutschen Ansprache. Gerade den letzten beiden wollen wir volle Säle bieten. Um all dies zu schultern werde ich im Sommer Unterstützung brauchen.

    Daher wird unsere Jahresversammlung von großer Wichtigkeit sein.

    Seine Sie herzlich gegrüßt. Auf bald Ihr Peter Baumgärtner