Dietmar Kanthak: „Mein Thomas Mann“

Dietmar Kanthak: „Mein Thomas Mann“

Am 11. November hat Herr Dietmar Kanthak, Feuilleton-Chef des General-Anzeigers, mit seinem Vortrag „Mein Thomas Mann“ eine Serie innerhalb unseres Programms eröffnet, die im kommenden Jahr Herr Prof. Dr. Christian von Weizsäcker als unser Vereins-Mitglied mit seiner entsprechend individuellen Einschätzung zu Thomas Mann fortsetzen wird.

Die Erwartung auf diese mehr persönliche Darstellung des großen Autoren Thomas Mann war enorm, denn der große Saal im UniClub hatte nur noch sehr wenige freie Plätze. Am Ende honorierte das Publikum mit vielen neuen Gesichtern die eloquente und lockere Vortragsart des Referenten mit großem und begeistertem Beifall. Anschließend genossen die Zuhörer den informellen, persönlichen Austausch in der Lobby des UniClubs bei Wein und anderen Getränken. Eine Stimme aus dem Nachklang zu dieser Veranstaltung sei hier zitiert: „Leute wie Kanthak, die ganz unverstellt von der Lust und Liebe des Lesens sprechen, vom Genuss an der Opulenz der Sprache, machen mehr Werbung für große Literatur, als jene, die jedes Adjektiv des Autors einzeln auf die semantische Waagschale werfen.“

Es freut uns sehr, dass uns Dietmar Kanthak seinen Vortragstext zur Verfügung gestellt hat:

„Mein Thomas Mann“ – Vortrag von Dietmar Kanthak, Leiter der Feuilleton-Redaktion des General-Anzeigers, am 11.

November im Universitätsclub Bonn.

Zwei Vorbemerkungen. Zuerst die Frage: Warum bin ich hier? Als ich im April 2010 nach einer Woche Freizeit in der Redaktion die Post sichtete, fiel mir ein Brief von Professor Dr. Hans Büning-Pfaue, Lebensmittelchemie, Universität Bonn, in die Hände. „Wenn es Sie interessiert“, schrieb er, „was pensionierte Profs. noch initiieren und wie sie dabei neue Lust verbreiten, könnten Sie z. B. auf unseren (ersten!) Ortsverein BonnKöln der Deutschen Thomas-Mann- Gesellschaft und sein Programm aufmerksam machen.“ Imperativer kann man einen Wunsch nicht formulieren. Dem konnte man, ich nicht widerstehen. Im Januar 2010 hatte die Vereinigung, die regelmäßig zu interessanten Veranstaltungen einlädt, 70 Mitglieder, teilte ich unseren Lesern mit. Und: Es dürften gern mehr sein, wenn ich Hans Büning-Pfaues Zeilen richtig deutete. „Gerade für Bonn ein sensibles und hoch interessantes Unterfangen“, sagte er über seinen Ortsverein. „Wir haben bisher viel Erfolg, aber noch mehr Aufmerksamkeit können wir gut gebrauchen.“ Die Deutsche Thomas-Mann-Gesellschaft, fügte ich dann noch in meinem kleinen Text hinzu, wurde 1955 in Lübeck gegründet und sei eine der größten literarischen Gesellschaften in Deutschland. Ein im besten Sinne exklusiver Club. Das Schöne ist: Sie nehmen auch Außenseiter bei sich auf. Deshalb bin ich hier. Mit Freude habe ich Hans Büning-Pfaues Einladung angenommen, die Reihe „Mein Thomas Mann“ der Thomas- Mann-Gesellschaft BonnKöln zu eröffnen.

Zweite Vorbemerkung: Ich bin kein Germanist, sondern Anglist, Romanist – und Journalist. Da können Sie keine Wunder erwarten. Allerdings einige Anmerkungen zu „meinem Thomas Mann“, in den meisten Fällen eher anekdotisch als analytisch, im Zweifel eher lebendig als literaturwissenschaftlich. Wobei sich beides ja nicht ausschließt.

Der Vortrag spiegelt persönliche Erfahrungen mit dem Werk Thomas Manns, er spiegelt meine Interessen – und meine Arbeit als Tageszeitungsredakteur. Zur Sprache kommen, allgemein formuliert, Literatur, Theater und Film, Literaturkritik und immer wieder der Journalismus – alles im Zusammenhang mit selbst Erlebtem. Was fehlt, sind Abhandlungen über die Lieblingswerke (Tonio Kröger, Tod in Venedig, Lotte in Weimar) und Spekulationen über die ungelesenen Werke (Joseph und seine Brüder zum Beispiel, das hole ich aber nach!).

Ich habe zumindest einmal in Diensten Thomas Manns gewirkt. Während des Studiums, lang ist’s her, habe ich in England und in Frankreich ein paar Pfund respektive Francs mit dem Deutschunterricht an einer Gesamtschule (England) und einem Gymnasium (Frankreich) verdient. Den anspruchsvollsten Schülern habe ich – ganz Botschafter deutscher Hochkultur – Thomas Manns „Tod in Venedig“ versucht schmackhaft zu machen. Erlauben Sie mir ein kurzes Zitat, Fischer-Taschenbuch Seite 9: Gustav von Aschenbach wird von Reiselust ergriffen.

Thomas Mann schreibt: „Es war Reiselust, nichts weiter; aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert. Seine Begierde ward sehend, seine Einbildungskraft, noch nicht zur Ruhe gekommen seit den Stunden der Arbeit, schuf sich ein Beispiel für alle Wunder und Schrecken der mannigfaltigen Erde, die sie auf einmal sich vorzustellen bestrebt war: er sah, sah eine Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungeheuer, eine Art Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen, – sah aus geilem Farrengewucher, aus Gründen von fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk haarige Palmenschäfte nah und fern emporstreben, sah wunderlich ungestalte Bäume ihre Wurzeln durch die Luft in den Boden, in stockende, grünschattig spiegelnde Fluten versenken, wo zwischen schwimmenden Blumen, die milchweiß und groß wie Schüsseln waren, Vögel von fremder Art, hochschultrig, mit unförmigen Schnäbeln, im Seichten standen und unbeweglich zur Seite blickten, sah zwischen den knotigen Rohrstämmen des Bambusdickichts die Lichter eines kauernden Tigers funkeln – und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen.“

Sie können sich die Begeisterung der Schüler vorstellen, als sie das gelesen hatten. Erste Erkenntnis: Thomas Mann ist nicht ohne Arbeit zu haben.

Den Autor habe ich während meines Studiums nicht aus den Augen verloren. Das lag nicht unwesentlich an einer Zeitung, die ich seit Ende der Schulzeit regelmäßig las: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, ihr fürs Feuilleton zuständiger Herausgeber Joachim Fest und der Literaturchef Marcel Reich-Ranicki waren eine hocheffiziente, leidenschaftliche Thomas-Mann-Werbeagentur; er war zu dieser Zeit der Hausgott des Feuilletons. Ich möchte unterstreichen, wie wichtig auch der Journalismus dabei ist, Werke des literarischen Kanons zu vermitteln. Fest hat oft und klug über Mann publiziert, Reich-Ranicki auch, überdies veröffentlichte er ein immer noch lesenswertes Buch über „Thomas Mann und die Seinen“.

Das hat er im Februar 1988 in Bonn vorgestellt, und zwar im Haus der evangelischen Kirche, unweit von hier. Einen Monat später startete das Literarische Quartett im ZDF. An den Auftritt des Kritikers in Bonn will ich kurz erinnern. Reich- Ranicki begann mit einem Zitat: „Er brauchte das Publikum, aber nicht nur Leser, sondern auch Zuhörer und Zuschauer, vor denen er sich produzieren konnte. Ja, er war bereit, seinen ganzen Habitus den Erfordernissen der Rolle unterzuordnen, die er auf sich genommen hatte. Die kunstvolle Selbststilisierung – das war sein Element.‘ Was der Kritiker Marcel Reich-Ranicki in diesen Zeilen über Thomas Mann gesagt hat, traf auch, zumindest partiell, auf ihn zu. Im Haus der Evangelischen Kirche gab Reich-Ranicki in der Rolle des deutschen Literaturpapstes vor gut 600 Zuhörern eine Demonstration seiner beträchtlichen rhetorischen wie schauspielerischen Begabung.

„Thomas Mann und die Seinen“: War das ein Buch? Oder vielmehr eine zwischen zwei Buchdeckeln zusammengefasste Sammlung von Zeitungsartikeln, somit eher ein kommerzielles als ein schriftstellerisches Unternehmen? Die Frage drängte sich auf. Nein, sagte Reich-Ranicki, alle Aufsätze seien im Hinblick auf das Buch geschrieben worden. Die besten Bücher großer Kritiker – Lessing und Heine, Kerr und Kraus – argumentierte er, seien nichts anderes als die Summe vorher publizierter Arbeiten.

Reich-Ranicki betrachtete sein Mann-Buch als das Produkt einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit Thomas Mann und den Seinen. Dass es sich bisher zwar anständig verkauft habe, aber kaum einmal rezensiert worden sei, verdross ihn sehr: Da wusste der Kritiker, wie sich die Autoren fühlten, die er mit Schweigen überging.

Das Thema Thomas Mann lag Ende der achtziger Jahre im Trend. Einer Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie zufolge hielt ein repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt Thomas Mann für den bedeutendsten deutschsprachigen Autor dieses Jahrhunderts – vor Bertolt Brecht. Freilich gründete sich Thomas Manns Popularität danach vor allem auf den Roman „Buddenbrooks“ und allenfalls noch auf den „Zauberberg“. Weiß jemand, wie es heute um den Ruhm Thomas Manns steht? Stichproben im Kollegen-, Bekannten- und Freundeskreis haben gezeigt: Er lebt im Bewusstsein vieler Menschen. Hoffentlich wird er auch gelesen.

Zum Erfolg des Autors hatte gewiss die Veröffentlichung der Tagebücher und Briefe beigetragen, die Manns homoerotische Neigungen, seine Fehler und Schwächen offenbarten. Die Entmonumentalisierung des Autors hatte den Erfolg seines Werkes befördert.

An diesem Prozess hatte Marcel Reich-Ranicki maßgeblich mitgewirkt. Seine Verehrung für Thomas Mann zeigte sich übrigens gerade darin, dass er sich dem Autor nicht auf Knien näherte. „Wenn ein Autor gut ist, braucht man sich ihm nicht auf Knien zu nähern. Und wenn er schlecht ist – wozu sich ihm dann überhaupt nähern?“

Bonn erinnerte Reich-Ranicki an ein Schlüsselerlebnis seiner Beschäftigung mit Thomas Mann. 1937 wurde im Bekanntenkreis das Typoskript des berühmten Briefes Manns an den Dekan der philosophischen Fakultät der Bonner Universität verlesen. Sie hatte dem berühmten Schriftsteller den Ehrendoktor aberkannt. Manns Emigration, so Reich- Ranicki, sei eigentlich ein Glücksfall für Deutschland gewesen. Erst in der Emigration wurde er zur Gegenfigur Hitlers, zum Repräsentanten des anderen Deutschland. Da ist er ganz „mein Thomas Mann“.

Reich-Ranicki rühmte Thomas Mann als Schriftsteller, der in stilistischer Hinsicht keine Entwicklung durchgemacht habe:

„Der war gleich vollkommen.“ Man kann das auch als Fluch empfinden. Oscar Wilde hätte gesagt: Da kann er sich ja gar nicht weiterentwickeln. Vollkommen – das lässt sich von der Person des Dichters nicht behaupten, wie der Kritiker Reich- Ranicki darlegte. In einigen Passagen aus seinem Buch schilderte Reich-Ranicki den Großschriftsteller als Großkaufmann, er beschrieb seine Lust, ja, Sucht zu repräsentieren. Mann erschien eitel und empfindlich, unnahbar und einsam, in höchstem Maße neurotisch, kurz: keine liebenswerte Figur. „Sympathisch können nur diejenigen Genies sein, über die wir fast nichts wissen – Wolfram von Eschenbach etwa oder Shakespeare“, sagte Reich-Ranicki. Wie so oft hatte er auch hier recht. Ich komme aufs Biografische später noch zurück.

Im Anschluss an die Lesung saßen wir gemeinsam mit dem Buchhändler Thomas Grundmann von Bouvier noch in geselliger Runde zusammen. Reich-Ranicki bestellte sich einen Whisky, rauchte einen Zigarillo und widmete sich einer Lieblingsbeschäftigung: dem literarischen Klatsch. Gibt’s Neuigkeiten von Ulla Hahn? Ich war an diesem Abend in Begleitung einer hübschen Praktikantin. Ich fuhr sie später nach Hause. Im Auto erzählte sie mir, dass Reich-Ranicki sie für den nächsten Morgen zum gemeinsamen Frühstück ins Hotel Königshof eingeladen habe; das hatte keiner mitbekommen. Der Kritiker war ein Profi durch und durch.

Das Frühstück soll sehr vergnüglich gewesen sein. Es war lange von Marcel Reich-Ranicki die Rede. Das hat seinen Grund. Er war zwar kein Vorbild, aber ein großer Einfluss für mich. Man konnte viel von ihm lernen: Verständlichkeit und Methoden, um journalistische Texte gut und wirkungsvoll zu verkaufen. Und, wichtiger noch: Ohne Leidenschaft, darauf legte er Wert, geht es in diesem Beruf nicht. Im vergangenen September ist Marcel Reich-Ranicki im Alter von 93 Jahren gestorben.

Kommen wir zum Theater. 1988 war auch hier ein Schicksalsjahr für mich. Es war Mai. Und Martin Benrath, der große Schauspieler, trat mit einem Thomas-Mann-Programm in den Kammerspielen in Bad Godesberg auf.

Die Rahmenhandlung geht so: „Ein einfacher junger Mann reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen.“ Die Sache, wie man weiß, verzögerte sich. Hans Castorp, „des Lebens treuherziges Sorgenkind“ und Hauptfigur in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, blieb sieben Jahre in Davos, erlag der Faszination des Morbiden und Dekadenten. Von Lust und Liebe, Krankheit und Tod handelt der Roman und von der Langeweile, die sich in der Umgebung eines Sanatoriums naturgemäß einstellt.

Ablenkung kommt in Form eines „gestutzten kleinen Sarges aus Geigenholz“, den Hofrat Behrens in dem Kapitel „Fülle des Wohllauts“ seinen Kranken präsentiert. „Es war ein strömendes Füllhorn heiteren und seelenschweren Genusses. Es war ein Musikapparat. Es war ein Grammophon.“

Martin Benrath sprach dieses letzte Wort in den Kammerspielen wie einen geheiligten Namen. In seinem von Dieter Kranz zusammengestellten Programm „Fülle des Wohllauts“ verwandelte der Berliner Schauspieler sich in den jungen, von der Magie des Grammophons überwältigten Castorp. Benraths Auftritt war eine Sensation: ein Abend großer Schauspielkunst und Intensität. Benrath schlüpfte in viele Rollen, auch in die des Autors. Im grauen Zwirn kam er wie ein wandelndes Ebenbild Thomas Manns auf die Bühne: soigniert und ein bisschen blasiert, gediegen, überlegen und so korrekt wie seine Bügelfalte. Den Text erweckte Benrath zum Leben, ebenso die Musik, von der lang und breit die Rede ist: Hans Castorps Vorzugsplatten. Zu Gehör kamen, kratzend und knirschend vom Grammophon, Rossini und Puccini, Verdi und Bizet, Gounod und Schubert, nicht unbedingt die Favoriten Thomas Manns. Genussvoll machte Benrath sich Manns Spott über Castorps Geschmack zu eigen, freilich ohne Häme. Es war der zärtliche Spott des Liebhabers.

Benrath entwickelte das Porträt eines Musikenthusiasten, lauschte verzückt und ergriffen oder schaute pikiert, als triviale Tanzmusik aus der Truhe dudelte. Wenn, wie Mann schreibt, ein Gesangton scharf oder grölend verlautete, was namentlich bei den heiklen Frauenstimmen so leicht sich ereignete, hielt Benraths Castorp sich die Ohren zu: „Liebe muss leiden.“ Die Wortmusik der „Zauberberg“-Prosa, die geschliffene Ironie des Autors, sein Esprit und Witz wurden in Benraths Spiel lebendig. Sein vergnüglicher Vortrag provozierte intelligentes Lachen, an keiner Stelle machte sich Benrath über Manns preziöse Wendungen lustig: ein idealer Interpret. Zum Ende des Programms wurde es todernst. Nach ein paar Takten von Schuberts „Lindenbaum“, jenem Lied, bei dem Castorp eine ästhetisierte Todessehnsucht verspürt, brach die Musik ab. Der Erzähler Benrath machte einen Sprung ins letzte Kapitel, in dem ein banaler, ganz und gar unwürdiger Tod auf dem Schlachtfeld nur allzu leicht zu haben ist. Das Publikum in den Kammerspielen hielt kurz inne, bevor es den Schauspieler feierte. Das war ein unvergesslicher Abend. Solche Höhepunkte sind selten geworden im Theater.

Thomas Mann war kein bedeutender Dramatiker, schade eigentlich. Manchmal kommen Bearbeitungen seiner Prosa auf die Bühne, zum Beispiel in Düsseldorf, das sind – für mich – in der Regel bemühte, langatmige Versuche. In seinem Buch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ hat Florian Illies eine hübsche Miniatur über die Premiere der „Fiorenza“ in Berlin geschrieben, in der Thomas Mann auf den Kritiker Alfred Kerr trifft. Mann weiß, dass ihn ein Desaster erwartet. Gequält hatte er bei den Proben das Stück verfolgt, das die Florentiner Hochrenaissance zum Leben erwecken sollte: „aber es kommt nicht in Fahrt, mehr Uff als Uffizien“.

Dann meint Mann, auf den Zügen Kerrs, den er beobachtet, ein Lächeln zu entdecken: „Es ist das Lächeln des Sadisten, der sich freut, dass ihm diese Inszenierung schönsten Stoff zum Quälen bietet.“ Kerrs Kritik empfindet er dann als eine Vernichtung, er fühlt sich getroffen „bis ins Blut“. Mann: „Ein giftiges Gejökel, dem der Ahnungsloseste die persönliche Mordlust anmerken muss!“

Gehört der Sadismus zum psychologischen Profil des Theaterkritikers? Ich glaube nicht. Aber es gibt Momente, wo es teuflischen Spaß macht, sich den Frust von der Seele zu schreiben. Man sollte nur seine Grenzen kennen. Beispiel Michael Prelle. Den Bonner Schauspieler habe ich in den neunziger Jahren einmal für die Sünden des Regisseurs leiden lassen, es ging um ein irisches Drama. Prelle konnte persönlich nichts für die Inszenierungs-Katastrophe. Das stand aber so nicht in der Zeitung. Am Morgen, als die Kritik erschien, traf ich Prelle zufällig im Supermarkt. In seinem Blick: eine Mischung aus Leid, Verletzung, Depression.

Vom Theater komme ich nun zum Film. Sie alle kennen den „Tod in Venedig“ aus dem Jahr 1971. Ich kann mich erinnern, dass Luchino Viscontis Film Anlass für eine uralte Debatte war. Hatte er Thomas Manns Text getreu in die Sprache des Kinos übersetzt? Eine, wie ich finde, überflüssige Debatte. Ich halte es mit der englischen Filmkritikerin Dilys Powell (1901- 1995), die dafür plädierte, eine Literaturverfilmung als eigenständiges Werk zu betrachten. Im Theater sieht das anders aus. Dilys Powell, die für die Sunday Times schrieb, rühmte den „Tod in Venedig“ über alle Maßen. Ihre amerikanische Kollegin Pauline Kael, noch berühmter, fand das Werk überladen: eine endlose Kette von motivischen Wiederholungen, zu viel ästhetische Debatte. Und Dirk Bogarde als Aschenbach? Langweilig. David Thomson, ein einflussreicher englischer Kritiker und Filmhistoriker, beschrieb den Film als Flop: „eine klebrige Kruste an der Oberfläche – und nichts darunter“.

Für diesen Vortrag habe ich „Tod in Venedig“ noch einmal angesehen. Man kann einiges gegen das Werk einwenden, gewiss. Aber er lohnt allein für die magische Exposition, die Einfahrt der Esmeralda in Venedig, für den Einsatz von Mahlers Musik. Die Todesmotive sind wunderbar inszeniert. Gleich zu Beginn schon und später, als der Barbiere Aschenbach künstlich verjüngt; es sieht aus, als schminke er eine Leiche. Ich bin ein großer Fan von Dirk Bogarde, wie sein Aschenbach sich lächerlich macht, als er liebestrunken durch Venedig stakst, ist grandios. Als ihn in einer Szene die Kräfte verlassen und er an einem Brunnen niedersinkt, wird die Tragikomik seiner Existenz anrührend spürbar. Dafür verzeiht man dem Film die Siebziger-Jahre-Zoom-Ästhetik und die in der Tat ungelenk eingefügten, ermüdenden Diskussionen übers Künstlertum und das Sinnliche. Visconti und sein Drehbuch-Koautor Nicola Badalucco hatten hierfür eigens eine Figur hinzuerfunden. Die Konflikte, die Aschenbach (oder auch Tonio Kröger) zerreißen, sind in der Prosa Thomas Manns endlos faszinierend, Visconti hatte sie jedoch ohne Not verdoppelt. Die Geschichte hätte ohne einmontierten Diskurs besser funktioniert. Der Film hatte Wirkung, vor allem auf seinen Hauptdarsteller. Bogarde war nach den Dreharbeiten in Aschenbach gefangen, er wurde ihn lange nicht los.

„Mein Thomas Mann“, der Titel dieses Vortrags, erlaubt kritische, fiese, ausfallende Anmerkungen zum Zauberer Thomas Mann. Mit liebevollem Spott hat der Schriftsteller Hans Pleschinski in seinem Roman „Königsallee“ ein Denkmal für Mann errichtet. Einige von Ihnen werden sich an Pleschinskis champagnerhaft süffige Lesung in der Buchhandlung Böttger in Bonn erinnern.

Er schreibt in seinem Roman über Thomas Mann: „Der Berühmte! Welche Berühmtheit! Gelesen und ungelesen. Der Teegast von Präsident Roosevelt, der Schöpfer von Hans Castorp, des leicht teigigen Sinnsuchers, der am Schluß für Kaiser und Vaterland ins Sperrfeuer stürmt! Der Erfinder eines Zwiegesprächs zwischen dem Teufel und einem Komponisten, der Urheber von Königliche Hoheit – welch Kinoerfolg! -, der Künstler, der die Lübeck-Saga in die Welt gesetzt hatte, der Befürworter der Bombardierung Deutschlands, Gastgeber für Einstein und Marlene Dietrich, der Magier, der aus Buchstaben auf Tausenden von Seiten das pharaonisch-biblische Ägypten auferstehen ließ, Josephs- Geschichten, der Heraufbeschwörer schwüler Lust, wenn Potiphars Weib den jungen Ebräer schmachtend anlispelt, ein siecher Venedigreisender seine sinkende Hand in letzter Lebenserfüllung nach dem blonden Gottknaben ausstreckt, der in die Lagune entschwindet (…) Bruder und Vater von Schwestern und Sohn, die sich das Leben genommen hatten, akribischer Arbeiter, Galionsfigur des Guten, Wahren und Schönen sowie des Abgründigen, Verwerflichen, der auf seinen Seiten sämtliche mittelalterlichen Glocken Roms läuten lassen konnte, Geschwisterliebe bedachte, über Sohnesliebe nachsann, Erkunder der Liebe und der Trauer, des Hochgenusses beim Porterbier, der vielleicht völligen Vergänglichkeit. (…) Wie konnte ein Deutscher so weit aufsteigen? In solchen Zeitläuften? Höher hinaus als schier jeder.“

Das ist das eine. Der Mann hatte auch eine Familie, zahlreiche Kinder, die ihm seine patente Frau Katia Mann, geborene Pringsheim, abgetrotzt hatte. War er ein guter Vater? In kleinen, allzu kleinen Dosen allenfalls. Als sich sein Sohn Klaus im Mai 1949 in Südfrankreich mit 42 das Leben nahm, befand sich Thomas Mann mit Frau Katia und Tochter Erika auf einer Vortragstournee. Angesichts der Nachricht empfindet das Familienoberhaupt „Mitleid innerlich mit dem Mutterherzen und mit E(rika). Er hätte es ihnen nicht antun dürfen.“ Am Suizid störte ihn das „Kränkende, Unschöne, Grausame, Rücksichts- und Verantwortungslose.“ Am 24. Mai wurde Klaus Mann in Cannes beigesetzt. Der Vater hielt an diesem Tag seine geplante Rede an der Universität von Uppsala. Der Tagebucheintrag vom Begräbnistag: „Neuer Waterman- Füllfederhalter. – Schlecht eingeschlafen. Halb drei fahler Tag draußen. Zweite Kapsel, dann Ruhe.“ Liebe sieht anders aus, oder ich übersehe hier etwas.

Klaus Mann war ein produktiver, allerdings kein großer Autor. Trotzdem habe ich den „Mephisto“ gern gelesen, „Der Vulkan“ und die „Symphonie Pathétique“. Ich habe seine Studie über André Gide verschlungen. Er nannte sie „André Gide und die Krise des modernen Denkens“ – darunter machte er es nicht. Seine journalistischen und literaturkritischen Arbeiten sind oft brillant, ebenso sein Lebensbericht „Der Wendepunkt“, zuerst 1942 in englischer Sprache erschienen. Später hat ihn Klaus Mann in erweiterter Form auf Deutsch veröffentlicht. Darin erfährt man viel über den Alltag im Hause Mann. Über seine Mutter schreibt Klaus Mann mit viel Gefühl, die Mutter, verallgemeinert er, „ist uns näher als der Vater, der dem Sohne ein Fremder bleibt“. Ein kleiner, ein tragischer Satz. Klaus Mann war, in den Worten Marcel Reich-Ranickis, dreifach geschlagen: Er war homosexuell. Er war süchtig. Er war der Sohn Thomas Manns. 1937 notierte Klaus in seinem Tagebuch das Empfinden von „völliger Kälte“ seitens des Vaters. „Niemals interessiert; niemals in einem etwas ernsteren Sinn mit mir beschäftigt. …

Mischung aus höchst intelligenter, fast gütiger Konzilianz – und Eiseskälte.“ Den „Mephisto“ quittierte Thomas Mann mit den Worten: „Dein Roman also hat mir großes Vergnügen gemacht. Er ist leichtfüßig und amüsant, ja brillant, sehr komisch oft und auch sprachlich fein und sauber.“ Geht es noch gleichgültiger? „Sprachlich fein und sauber“? Es waren hingeworfene Komplimente, die mit dem Roman nichts zu tun hatten.

Kein Wunder, dass Klaus Mann im „Wendepunkt“ festhielt:

„Der Kinderwagen ist das verlorene Paradies. Die einzig absolut glückliche Zeit in unserem Leben ist die, welche wir schlafend verbringen. Es gibt kein Glück, wo Erinnerung ist.“ Eine bittere Einsicht für einen Autobiografen.

Natürlich ist nicht der Vater die einzige Ursache für den Niedergang des Sohnes. Der früh von einer pathologischen Todessehnsucht erfüllte Klaus war der maßgebliche Architekt seiner Existenz. Aber vom Vater hatte er nicht viel Hilfe zu erwarten. Golo Mann, Klaus’ Bruder, hatte sein eigenes Klagelied zu singen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Worte zu den „Buddenbrooks“ loswerden. 1999 hatten wir in einer ganzjährigen Serie im General-Anzeiger Meisterwerke des 20. Jahrhunderts vorgestellt. „Buddenbrooks“ gehörte natürlich dazu.

Seinen schriftstellerischen Erfolg überließ Thomas Mann ungern den Zufälligkeiten des Literaturbetriebs. Er war ein glänzender Organisator seiner Karriere. Ende 1901 bedeutete er seinem ehemaligen Schulkameraden Otto Grautoff, der unterdessen in der Feuilletonredaktion der „Münchner Neuesten Nachrichten“ arbeitete, was jener in einer Rezension der „Buddenbrooks“ zu schreiben habe. Grautoff wurde mit den Stärken des Romans vertraut gemacht, aber auch mit durchaus fragwürdigen Elementen des Buches.

„Tadle ein wenig“, empfahl der Autor, „die Hoffnungslosigkeit und Melancholie des Ausganges. Eine gewisse nihilistische Neigung sei bei dem Verf. manchmal zu spüren.“ Grautoff tat, wie ihm geheißen. Dank erntete er für sein Bemühen nicht.

Im Gegenteil. Die Besprechung des Buches war der Endpunkt der Beziehung mit Thomas Mann. Grautoff hatte seine Schuldigkeit getan, er wurde nicht mehr gebraucht. Ich fürchte, nein, ich weiß, dass die Dinge heute nicht viel besser liegen. Vielleicht noch schlechter. Denn die meisten Literaturkritiker brauchen gar nicht mehr den Zuspruch durch den Autor; sie liebesdienen aus eigenem Antrieb. Es wird gelobt, bis der Arzt kommt. Die Ära Reich-Ranicki ist schon lange vergangen.

Der 1901 erschienene Roman „Buddenbrooks“, Manns

„meistgelesenes und meistgeliebtes Buch“ (Peter de Mendelssohn), brachte dem Autor 1929 den Literaturnobelpreis ein. Mann betrachtete sein Werk als repräsentative „Seelengeschichte des deutschen Bürgertums, von der nicht nur dieses selbst, sondern auch das europäische Bürgertum überhaupt sich angesprochen fühlen können“.

Die Handlung erstreckt sich über rund 40 Jahre, von 1835 bis 1877. Thomas Mann erzählt die Geschichte der Getreidefirma Johann Buddenbrook zu Lübeck, vom Augenblick ihrer Blüte bis zum Erlöschen. Die einstmals festgefügte Struktur von solidem, herrscherhaftem Geschäftssinn löst sich im Verlauf des Romans allmählich auf – wie die Identität seiner Protagonisten. An die Stelle des patrizischen Bürgertums tritt die kapitalistische Bourgeoisie. Am Ende steht die Schauspielerei der neuen Klasse, „geliehene Haltungen, kalkulierte Auftritte“, wie Siegfried Lenz beobachtet hat.

Der von Mann evozierte Verfall vollzieht sich mit schicksalhafter Konsequenz und mit überzeitlichem Pathos. Familiengeschichte als Gleichnis: Der Roman behauptet seine Bedeutung und Aktualität für jede neue Lesergeneration, weil er ein exemplarisches Dokument humanen Strebens und Scheiterns ist. Nicht zuletzt damit ist der bis heute andauernde Erfolg des Buches – Auflage mehr als vier Millionen Exemplare – erklärlich.

Die Symptome des Verfalls, die Mann beschreibt, sind Nährboden für neue Lebensformen: Offenheit für die Kunst und eine besondere Sensibilität. „Ohne den décadent“, schrieb der Autor, „den kleinen Hanno, wären Menschheit und Gesellschaft seit diluvialen Zeiten keinen Schritt vorwärtsgekommen. Es ist die Lebensuntauglichkeit, welche das Leben steigert, denn sie ist dem Geist verbunden.“ Das würde vielen Zeitgenossen heute als revolutionärer Gedanke erscheinen. Oder als absurd, unverständlich.

Die literarischen Mittel des Autors hat die Wissenschaft ausführlich analysiert und gewürdigt, ebenso wie die mythologischen und genealogischen, die philosophischen und religiösen, natürlich auch die musikologischen Aspekte, die Einflüsse Schopenhauers, Wagners und Nietzsches, das Wesen der Parodie, die Funktion des Leitmotivs: reichlich Futter für die Philologie.

Dem Publikum haben die Bemühungen der akademischen Sinnsucher die Lust an der Lektüre nicht austreiben können. Der Roman lebt – und fasziniert – durch seine Sprachkraft.

Viele Passagen sind unvergesslich, so zum Beispiel Hannos Sterbeszene:

„Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt: in die fernen Fieberträume, in die glühende Verlorenheit des Kranken wird das Leben hineingerufen mit unverkennbarer, ermunternder Stimme. Hart und frisch wird diese Stimme den Geist auf dem fremden, heißen Wege erreichen, auf dem er vorwärts wandelt und der in den Schatten, die Kühle, den Frieden führt. Aufhorchend wird der Mensch diese helle, muntere, ein wenig höhnische Mahnung zur Umkehr und Rückkehr vernehmen, die aus jener Gegend zu ihm dringt, die er so weit zurückgelassen und schon vergessen hatte. Wallt es dann auf in ihm, wie ein Gefühl der feigen Pflichtversäumnis, der Scham, der erneuten Energie, des Mutes und der Freude, der Liebe und Zugehörigkeit zu dem spöttischen, bunten und brutalen Getriebe, das er im Rücken gelassen: wie weit er auch auf dem fremden, heißen Pfade fortgeirrt sein mag, er wird umkehren und leben. Aber zuckt er zusammen vor Furcht und Abneigung bei der Stimme des Lebens, die er vernimmt, bewirkt diese Erinnerung, dieser lustige, herausfordernde Laut, dass er den Kopf schüttelt und in Abwehr die Hand hinter sich streckt und sich vorwärts flüchtet auf dem Wege, der sich ihm zum Entrinnen eröffnet hat – nein, es ist klar, dann wird er sterben.“

Dafür, unter anderem, ist der Autor, ganz persönlich und mit viel Zuneigung gesagt, „mein Thomas Mann“.