Kurzmitteilungen

  • Rundbrief Nr. 42 + Anlagen Thomas Mann in Georgien | Böker, Brecht, Mann

    „Meine geehrten Zuhörer, wenn ich mich zu denen stelle, denen der Gedanke ›Europa‹ am Herzen liegt, wenn ich einem internationalen Nationalismus widerstrebe, der eine Weltlage zu begreifen sich weigert, welche eine neue Solidarität der Völker Europas gebieterisch […] fordert – so mögen wohl solche persönlich verbindenden Erfahrungen dabei im Spiele sein: das Erlebnis europäischer Solidarität…“

    Diese Passage aus der Ansprache Thomas Manns zur 700-Jahr-Feier der freien Hansestadt Lübeck am 5.Juni 1926, die den Titel trug „Lübeck als geistige Lebensform“,

    liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    diese Passage soll die Klammer bilden des heutigen Rundbriefs, in dem ich vor meiner Rückschau auf die Veranstaltung mit Tobias Schwarz und auf die Thomas-Mann-Tage mit Vordreude nach vorne schaue auf den georgischen Abend am 15. Oktober im Woelfl-Haus. Dort war man sehr fleißig und hat den Flyer entworfen, den Sie im Anhang finden, und hat auch bereits den Streaming-Link eingerichtet für alle, die nicht persönlich vor Ort sein können. Mit der eindrucksvollen Landschaftsaufnahme auf der Titelseite und den poetischen Liedzeilen ist er sehr schön geworden. So werden wir eben nicht nur den interessanten Vortrag von Frau Natia Choladze mit der Überschrift „Die sinfonische Architektonik von Thomas Manns Der Zauberberghören, sondern auch vieles erfahren über dieses kleine Land südlich des Kaukasus, gelegen zwischen Rußland und der islamischen Welt, das, wie mir auch Frido Mann am Rande der Tagung in Lübeck versicherte, stark nach Westen orientiert ist und in der literarischen Welt das Interesse an Thomas Mann groß. Lassen Sie uns daher im Sinne von Thomas Manns Lübecker Festrede am 15.Oktober im Woelfl-Haus zusammenfinden als eichen unserer Solidarität mit dieser uns so unbekannten Kulturnation Georgien.

    Tobias Schwarz im Museum Alexander Koenig

    Die Veranstaltung war mit über dreißig Teilnehmern gut besucht und wir wurden vom Direktor des Hauses Prof. Misof herzlich empfangen. Als Naturkundler sprach er von der Metamorphose, von der vollständigen Verwandlung der gefräßigen Raupen zu den leichten, kurzlebigen ephemeren Wesen, den Schmetterlingen, – man konnte nicht umhin, an Jonathan Leverkühn zu denken – und er schuf damit eine schöne Brücke zum Vortrag von Tobias Schwartz, der unter der Überschrift „Mein Thomas Mann – Eine Annäherung“ das Publikum fast eine Stunde lang in Bann hielt. Er schlug den weiten Bogen seiner frühen Leseerfahrung mit ›Tobias Mindernickel‹ bis hin zum ›Doktor Faustus‹, der ihn insbesondere während seines Philosophiestudiums stark beschäftigte und in ihm die Idee reifen ließ, einen solchen großen Roman zu entwerfen, der die jüngere deutsche Geschichte mit individuellen Schicksalen verbindet, eben jenen ›Morpho Peleides‹, den er 2019 vorlegte und der in seinen Moskauer Passagen geradezu prophetisch anmutet. Als ich bei meinen Dankesworten ankündigte, mit diesem Vortragstext unsere Schriftenreihe wieder aufleben lassen zu wollen, erntete ich große Zustimmung, war es doch ein Text, der zum Nachlesen auffordert. Inzwischen schickte mir Herr Schwartz vier weitere Texte (zu den Josephs-Romanen, zum Zauberberg etc.), die er für den Tagesspiegel verfaßt hatte und die in das Heft mit aufgenommen werden sollen. Die Vorbereitung der Publikation wird allerdings einige Zeit in Anspruch nehmen.

    Lübecker Thomas Mann-Tage 2022
    „Demokratie – eine innere Tatsache?“

    Das titelgebende Zitat entstammt Thomas Manns Republik-Rede von 1922. Diese just 100 Jahre zurückliegende Ansprache stand im Mittelpunkt der Tagung. Es sei vorausgeschickt, daß die vollständigen Aufnahmen der Vorträge der Tagung online verfügbar sind, aktuell auf der Startseite www.thomas-mann-gesellschaft.de und dauerhaft in der Mediathek und in unserem Youtube-Kanal.

    Unser Ortsverein war durch rund zehn Mitglieder vertreten, auch durch unser wohl jüngstes, jedenfalls erst jüngst eingetretenes Mitglied Frau Lara Wilken, die in Aachen Sprach- und Literaturwissenschaft. Zu meiner Freude fand sie in Lübeck direkt Anschluß zu den Mitgliedern des Jungen Forums und gewann vielfältige Anregungen.

    Bereits am Freitag vor der eigentlichen Tagung wurde der Thomas-Mann-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München, und der Hansestadt Lübeck verliehen an den amerikanischen Bestsellerautor Jonathan Franzen. Franzen hatte vor einigen Jahrzehnten in München Germanistik studiert und war daher (schweißgebadet) in der Lage, Auszüge seines neuesten Romans ›Crossroads‹ in deutscher Übersetzung vorzulesen. Michael Maar hielt eine fulminante Laudatio auf den Autor, der es immer verstand, Dramen des Alltags und der innerfamiliären Konflikte in spannendste Literatur zu verwandeln. Und dennoch wurde ich den Eindruck nicht los, daß sich hier eher die Institutionen mit einem berühmten Preisträger schmückten, als dies umgekehrt eigentlich hätte sein sollen. Einem jungen Autor oder einer junge Autorin hätte der angesehene Preis zu einer größeren Beachtung in der Öffentlichkeit verhelfen können, die der hochsympathische Herr Franzen nicht nötig hat.

    Am Samstagmorgen führte unser Präsident Prof. Hans Wißkirchen in das Thema der Tagung ein, die ja nichts weniger in den Blick nehmen sollte, als die Entwicklung Thomas Manns zum leidenschaftlichen Demokraten. Er steckte den Rahmen mit zwei Zitaten Siegfried Kracauers ab, die er meinem Rundbrief Nr.25 entnahm; jenem Text aus 1930, in dem Kracauer noch der Ansicht war, daß das sonderbare Liebeswerben des großen bürgerlichen Prosaisten um die Demokratie, […], ein Schauspiel unerquicklicher Art sei, und der Geburtstagsadresse Kracauers fünf Jahre später, in der dieser Manns historische Größe anerkennt und mit den Worten endet „Sich nach Ihnen zu bilden, wird eine der wenigen Hoffnungen sein, die den Deutschen geblieben sind.“

    Der erste Tagesordnungspunkt war dann überschrieben mit „Thomas Mann kontrovers – 100 Jahre Republikrede“. Zwei Vorträge wurden gegenübergestellt: Zunächst jener von Dr. Caren Heuer, die die Rede in den Kontext des Krisenjahres 1922 stellte (Ermordung Walter Rathenau) und daher eine grundsätzliche Wende im Denken Thomas Manns konstatierte; und ohne im Grundsatz Frau Heuer zu widersprechen erkannte Dr. Tim Lörke eine Kontinuität im Denken Thomas Manns, eine noch zögerliche Veränderung seiner Ansichten, mußte diese Demokratie in den brutalen Wirren der Nachkriegszeit doch zuerst einmal fußfassen.

    Ich konnte in diesem Zusammenhang nicht umhin, an die Buddenbrooks zu denken, in denen Thomas Mann die alte ständisch-monarchistische Ordnung in all ihrer erbarmungslosen Funktionalität ironisch karikierend darstellt, auch und gerade den Standesdünkel seiner Klasse, wenn zum Beispiel Thomas Buddenbrook so gar nicht damit einverstanden ist, daß Alfred Lauritzen, Colonialwaren, in den Senat einziehen soll.

    Lauritzen sei zwar ein ehrenfester Mensch und ein ordentlicher Kaufmann, aber er sei Mittelstand, dessen Vater noch eigenhändig Heringe eingewickelt habe… Der fraglos konservativ denkende Thomas Mann hatte in dieser alten Ordnung seine jungen Jahre als sehr freier Künstler erlebt. Was er aus der Perspektive von 1922 von der Demokratie zu erwarten hatte, war für ihn noch mit vielen Fragezeichen behaftet.

    Am Samstagmittag fanden dann diverse Workshops statt und ich nahm an einer literarischen Stadtführung teil, die in Lübeck auch regelmäßig angeboten werden und die ich begeisterten Buddenbrooks-Lesern sehr anempfehlen kann. Von der anschließenden Mitgliederversammlung verfertigt Frau Birte Lipinski ein Protokoll, das in Kürze verschickt wird.

    Am Abend durften wir noch den Worten des ehemaligen Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert lauschen, der in seiner bekannt pointiert-ironischen Art zum Thema „Kulturstaat und Bürgergesellschaft“ referierte, die ich Ihnen dringend zum Online-Nachschauen anempfehle. Er betrachtete die gegenwärtige Situation kritisch und kenntnisreich ob der rechtlichen Grundlagen und verbreitete dennoch Zuversicht. Es besteht kein Grund, unser demokratisch-kulturelles Licht unter den Scheffel zu stellen.

    Die gleiche Empfehlung des Nach-Schauens muß ich auch für den Vortrag Frido Manns vom Sonntagmorgen geben, allerdings mit dem Hinweis, daß dieses Video erst nach dem 14.10. freigeschaltet sein wird. An diesem Tag wird der Vortrag in der FAZ zu finden sein. – Sie können dann den Vortrag auch nachlesen.

    Frido Mann hielt sich jedenfalls nicht mit einer Exegese der Reden seines Großvaters auf, sondern trat sogleich in dessen Fußstapfen, sprach über die Gegenwart und die Bedrohungen der Demokratie in unseren Tagen. Als amerikanischer Staatsbürger hatte er vor 2019 voller Sorge die Präsidentenwahl im Lande seiner Geburt verfolgt und diese Erfahrungen in dem Buch „Democracy will win“ gefaßt. Eindringlich forderte er dazu auf, sich einzubringen in den demokratischen Prozeß, die Vielstimmigkeit als Qualität anzuerkennen und sich nicht den vermeintlich einfachen Lösungen der autoritär-nationalen Gegenbewegungen zu ergeben, die mit nichts anderem als dem Begriff des Faschismus belegt werden müssen. Mit Sorge muß man nicht nur in die USA blicken, sondern auch nach Ungarn, nach Italien – gerade heute

    – und, und, und… keiner möge sagen, Deutschland sei davor gefeit.

    So sorgenvoll will ich den Rundbrief nicht enden lassen, sondern Ihnen noch einen Blick auf den Veranstaltungsort der Thomas Mann-Tage gönnen: Die Gemeinnützige wird sie in Lübeck nur kurz genannt, die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit, gegründet 1789. Ohne ein Fachmann Lübeckischer Stadtgeschichte zu sein, läßt das Datum aufmerken und uns eine Ahnung davon geben, in welchem gesellschaftlichem Rahmen Thomas Mann aufgewachsen ist. Weit entfernt davon, alle Menschen als gleichberechtigt zu betrachten, hatte man doch das Gemeinwohl im Blick. Die Gemeinnützige besteht noch heute und gibt in großer Regemäßigkeit die Lübeckischen Blätter heraus, für die unser alt- und wohlverdientes Vorstandsmitglied Karsten Blöker im Heft Nr.12 diesen Jahres einen sehr lesenswerten Artikel zur Vorgeschichte der Republik-Rede Thomas Manns geschrieben hat. Er lenkt den Blick auf Thomas Manns Lübecker Landsmann Arnold Brecht, der in Berlin als Ministerialdirektor im Innenministerium den groß angelegten Staatsakt zur Beisetzung Walter Rathenaus organisiert hatte und in diesen Tagen im Rahmen der „Nordischen Woche“ mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Thomas Mann zusammengetroffen war. Aber lesen Sie selbst den Anhang. Eine sehr interessante Fußnote zur Literaturgeschichte…

    Lassen Sie uns nun unsere noch ungelenken Zungen zu dem Rufe schmeidigen: „Es lebe die Republik!“

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    Anlagen Thomas Mann in Georgien | Böker, Brecht, Mann

    Thomas Mann in Georgien

    Böker, Brecht, Mann

  • Rundbrief Nr. 41 + Anlagen Leserbrief | Fokuma-Fürtjes



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    „Wenn es ihn je gegeben hat, den deutschen Meister ohne Welt, ohne Europa im Blut – heute kann es ihn nicht mehr geben. […] in einem geistig und wohl auch wirtschaftlich-politisch zusammenwachsenden Europa wäre ein Meistertum der Enge, der Verstocktheit und des provinziellen Winkels eine weinerliche Erscheinung.“

    Mit diesen anerkennenden Worten, liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit, lobte Thomas Mann seinen Bruder Heinrich am 27.März 1931 vor der Preußischen Akademie der Künste in Berlin. Viel Hoffnung lag in diesen Worten, wohl aber auch schon eine Ahnung von dem Unheil, das den beiden Brüdern und der Welt noch bevorstehen würde. Möge uns das Werk Thomas Manns Kraft und Hoffnung geben für die Heraus- forderungen, die uns bevorstehen.

    Krankheitsbedingte Absagen von Veranstaltungen, wie jene von Tim Lörke, werden uns daher auch nicht entmutigen. Im Rahmen der Herbsttagung in Lübeck werde ich mit Dr. Lörke einen Nachholtermin vereinbaren.

    An anderer Stelle haben sich erfreuliche Entwicklungen ergeben: Die Sonntags-Matinee im Museum Alexander Koenig mit dem Vortrag von Tobias Schwartz konnte ich nun verbindlich terminieren; sie wird am 4. September um 11.00 Uhr stattfinden. Wir werden begrüßt vom wissenschaftlichen Leiter des Hauses Prof. Dr. Bernhard Misof, das sich heute „Stiftung Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels“ nennt, sich also mit den brennenden Fragen der Gegenwart beschäftigt. Im angehängten Flyer können Sie noch weitere Details finden (Anlage 1). Ich freue mich auf diese Veranstaltung einer neuen Art. Bringen Sie Zeit und Freunde mit. Sie werden nur den üblichen Museumseintritt zu bezahlen haben. Wenn Interesse besteht, kann ich im Nachgang noch eine Führung durch das Haus organisieren, auch in Räume, die in der Regel für die Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. In den verschiedenen Archiven sind erstaunliche Schätze zu bewundern. Interessierte sollten sich im Vorfeld bei mir melden, damit ich dies im Haus entsprechend vorbereiten lassen kann.

    Über der seit langem angekündigten Veranstaltung mit Prof. Thomas Wortmann aus Mannheim steht ein unglücklicher Stern: Bei ihm wäre der Freitag, 4. November, ein passender Termin. Leider stehen uns an diesem Tag weder das Haus der Schlaraffia noch der Saal des Verwaltungsverbands der evangelischen Kirchen zur Verfügung.

    Alternativvorschläge werden gerne angenommen.

    Unser aus Georgien stammendes Ortsvereinsmitglied Frau Ekaterine Horn konnte ich Ihnen schon in vergangenen Rundbriefen vorstellen. Angeregt durch ein Benefizkonzert für die Ukraine im Woelfl-Haus werden wir nun ebenda am 15.Oktober einen georgischen Abend veranstalten. Auch in diesem Land, das sich 1991 auf den schwierigen aber letztlich erfolgreichen Weg in die Unabhängigkeit und zu einer freiheitlichen Demokratie gemacht hat, ist man in Sorge vor einem russischen Zugriff. Weit im Osten gelegen, hat man in diesem Land großes Interesse, an der westeuropäischen Kultur teilzuhaben. An den Universitäten gibt es starke germanistische Fakultäten. An diesem Abend wird Frau Natia Choladze von der staatlichen Universität Kutaissi zu uns sprechen unter der Überschrift „Die sinfonische Architektonik von Thomas Manns Der Zauberberg„. Diese Universität betreibt eine intensive Zusammenarbeit mit der Goethe-Gesell- schaft in Weimar e.V. Über den Link: https://www.goethe-gesellschaft.de/goethe-weltweit/2421/ gelangen Sie zu dem sehr informativen Aufsatz von Jochen Golz: „Willkommen in Kutaissi. Zum jüngsten Studienband aus einer georgischen Universität“. Es gilt für uns alle, neue Entdeckungen machen zu können.

    Der Vortrag wird gerahmt von Musik aus Georgien, dargeboten von Herrn Rezo Tschchikwischwili, einem georgischen Schauspieler, der seit Jahrzehnten in Essen lebt und ein langjähriges Ensemblemitglied des Essener Grillo-Theaters ist. Sie kennen ihn vielleicht auch aus verschiedenen Fernsehfilmen, auch durch Auftritte im ‚Tatort‘.

    Zu unserem Freund Prof. Susmann aus Nishni Nowgorod: Er bat mich, ihm die Texte Thomas Manns zu Franz Kafka zu schicken. Aus ‚Gesammelte Werke‘ konnte ich ihm Kopien der Texte ‚Die Vernachlässigten – Franz Kafka‘ (1930) ‚Dem Dichter zu Ehren – Franz Kafka und ›Das Schloß‹‘ (1941) zusenden. Wenn Ihnen noch weitere Texte zum Thema bekannt sind, werde ich diese ihm gerne weiterleiten. Herr Susmann hat sich jedenfalls höflich bedankt. Offenbar arbeitet er an diesem Thema:

    Lieber Herr Baumgärtner,

    besten Dank für diese Texte. Den aus dem Jahr 1930 kannte ich nicht. Diese Erwähnungen waren für mich in Bezug auf Kafka wichtig. Aber das Thema «Kafka und Th. Mann” ist ein sehr interessantes. Z.B. hat man bemerkt, daß “Der Erwählte” und “Die Verwandlung” eine interessante Konfiguration bilden.

    Nochmals danke! Alles Liebe, Valerij Susmann

    Feuilleton

    An dieser Stelle möchte ich zunächst meine Reihe ‚Literaturtipps von Thomas Mann‘ fortsetzen:

    Im Januar 1955 verfaßte Thomas Mann den Nachruf auf den gerade verstorbenen Freund Ernst Penzoldt. Die beiden schätzten sich nicht nur auf der literarischen sondern auch auf persönlicher Ebene, besaßen den gleichen Humor. Mann schreibt, Penzoldt habe ihm kürzlich noch folgende Zeilen aus dem Krankenhaus geschickt: „Es muß recht bedenklich um mich gestanden haben letzthin. Alle waren so verdächtig nett zu mir.“ Und dann: „Nun, auch zu mir sind die Leute jetzt ziemlich nett. Achtzig Jahre sind eine Krankheit zum Tode wie eine andere. Warte nur balde…“

    Neben den bekannteren Erzählungen wie „Die Powenzbande“ oder der Novelle „Der arme Chatterton“ hebt er Penzoldts letzte große Erzählung ‚Squirrel‘ hervor: „Ich lasse mir nichts vormachen: ‚Squirrel‘ ist eine poetischere Konzeption als der ganze Krull.“ Der ‚Squirrel‘ ist eine Mischung vom ‚Taugenichts‘ und ‚Kaspar Hauser‘ – gegen Ende fällt gar die Formulierung von der „Trägheit des Herzens“. Thomas Mann brachte es auf den Punkt: „Arbeiten kann jeder, Squirrel aber erfreut… er erfüllt damit eine hohe asoziale Aufgabe.“

    Ernst Penzoldt ‚diente‘ in zwei Kriegen als Sanitäter in Lazaretten. Diese Erfahrungen hat er in mehreren Erzählungen verarbeitet und auch damit den Respekt von Thomas Mann erworben. In der Erzählung ‚Zugänge‘ beschreibt Penzoldt distanziert und präzise zugleich all das Elend, das der Mensch dem Menschen antun kann. Es ist ein tiefst humaner Blick auf all die Schwächen der Soldaten im Angesicht des Todes. Polen und Deutsche liegen Seite an Seite, der Tod macht keine Unterschiede. Ein Antikriegsdenkmal in Worten.

    Die Erzählung ‚Die Sense‘ ist eine märchenhafte Geschichte über eine nie versiegende Hoffnung. Eine Witwe, die ihren Mann im ersten Krieg verloren hat, erhält die Nachricht, daß nun ihr Sohn im zweiten tot in Rußland geblieben sei. Mit einer Sense über der Schulter als Bäuerin verkleidet macht sie sich eben dorthin auf den Weg und holt ihren lebenden Sohn zurück. Dies wäre allzu schlicht, wenn Penzoldt unterwegs die Erzählung nicht unterbrechen und die Leser unmittelbar ansprechen würde: Jener solle wissen, daß ein Schriftsteller Wunder geschehen lassen könne – was er dann auch tut, im Jahre 1946, in dem noch so viele Menschen auf eben dieses Wunder hoffen. Eine tröstliche Gutenachtgeschichte.

    Zum Schluß noch einige Worte zu dem Text: ‚Reisen mit Thomas Mann‘ aus dem Jahre 1949. Gleich eingangs räumt Penzoldt ein, Thomas Mann vor dem Kriege zwar mehrfach begegnet zu sein, daß er aber nie mit ihm gereist sei. Im Text geht es vielmehr darum, wie man in den Nachkriegsjahren über Thomas Mann spricht, sich das Maul zerreißt über ihn, ganz gleich, ob man je eine Zeile von ihm gelesen hat oder nicht. So geschehen bei einem PEN-Treffen in Hamburg. „Dieser Bursche“ habe da ein Edelmann Thomas Mann bezeichnet. Penzoldt hat Mühe, seinen Humor zu wahren. Am Ende ruft er aus: „Wenn die Deutschen nur entfernt so streng mit Hitler und den Seinen ins Gericht gegangen wären, wie jetzt mit ihrem, ich stehe nicht an, das zu sagen, bedeutendsten lebenden Schriftsteller deutscher Sprache, es wäre besser um uns bestellt.“

    Noch drei Dinge:

    Erstens: Ich wurde vom mehreren Seiten auf den Artikel in der FAZ vom 8.Mai angesprochen mit dem Titel: »Thomas Mann und Edvard Beneš – Mehr als eine moralische Hilfe« von Jan Vondráček. Ich sprach Herrn Peter Lange darauf an, der uns im vergangenen Jahr sein höchst lesenswertes Buch ‚Prag empfing uns als Verwandte‘ vorgestellt hatte. Er machte mich darauf aufmerksam, daß Herr Vondráček Stipendiat im Thomas- Mann-Haus in Los Angeles gewesen war und dieser Artikel seinen verdichteten Forschungsbericht darstellt. (Ist im online-Archiv der FAZ zu finden) Er legte mir auch einen Leserbrief bei (siehe Anhang 2), den er aus der sudentendeutschen Ecke verortet, dem aber dennoch kaum zu widersprechen sei. „Er zeigt einmal mehr, dass Thomas Mann immer auch ein romantischer Idealist geblieben ist. Für den Grad der Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen hatte er keine richtige Antenne; und die »Feinheiten« der tschechoslowakischen Demokratie dürften ihm auch verborgen geblieben sein.“ – Auch dies wollen wir ihm verzeihen.

    Zweitens: Unser rühriges Mitglied Jürgen Quasner schickte mir den Link zu einem Welt- Interview mit dem ungarischen Schriftsteller Irme Kertész, darin dessen Begeisterung für unseren Autor: Thomas Mann, keine Frage! 1954 hat Georg Lukácz die ersten Thomas-Mann-Texte nach dem Krieg herausgebracht, die ich verschlang. Das hat mein Leben verändert, „Tod in Venedig“, „Wälsungenblut“…

    https://www.welt.de/welt_print/kultur/literatur/article5116030/Ich-schreibe-keine-Holocaust-Literatur-ich-schreibe-Romane.html

    Und den Ehrenplatz am Ende erhalten die uns wohlbekannten Kataro Fukuma und Michael Fürtjes, die uns im letzten Sommer mit der Konzertlesung „Adorno-Beethoven- Thomas Mann“ begeistert hatten. Sie treten wieder im Woelfl-Haus auf, nicht zu Thomas Mann, sondern mit Ihrer Kreisleriana und zwar schon am 21. August um 18.00 Uhr. Näheres sehen Sie in der Anlage 3. Das wird sicher ein Vergnügen!

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    Anlagen Leserbrief | Fokuma-Fürtjes

    Leserbrief

    Fokuma-Fürtjes

  • Rundbrief Nr. 40 + Anlagen Zauberberg Rezension Pfeifer | Artikel ISOLATED WORLD



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    dieser Rundbrief möge in erster Linie dazu dienen, Sie an unsere Veranstaltung am 20. Juni mit Dr. Tim Lörke zu erinnern. Über einen zahlreichen Besuch Ihrerseits würde ich mich sehr freuen, machen Sie bitte auch Werbung in Ihrem Umfeld. Ich sehe dies nicht nur unter dem kaufmännischen Aspekt des Ausgleichs der Unkosten, die mit der Veranstaltung verbunden sind, sondern auch jenem der Motivation für den Vorstand, sich der Mühe zu unterziehen, weitere Veranstaltungen in die Wege zu leiten. Hier nochmals die kurze Inhaltsangabe zur Veranstaltung, den Flyer finden Sie im Anhang.

    „Ein unvergleichliches Hündchen“

    Thomas Mann und die Anforderungen des Publikums.

    Abstract:

    Schon zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn hatte Thomas Mann ein ausgeprägtes Gespür dafür, wie er sich als Dichter zu inszenieren hatte, um erfolgreich zu sein und beim Publikum den besten Eindruck zu erzielen. Zeitlebens hielt er verschiedene Formen der Publikumssteuerung bei: Durch die Art, wie er sein öffentliches Bild ausgeklügelt entwarf. Der Vortrag zeigt, wie Thomas Mann dieses Bild je nach Zielgruppe anpasste. Deutlich wird dabei, dass Thomas Mann als Dichter auf ein Bild von sich hinauswollte, das er genau mit den Techniken des eigenen literarischen Schreibens abglich – Schreiben und öffentliche Person fallen bei ihm zusammen.

    Eine weitere Veranstaltung sollten Sie sich schon vormerken: Prof. Thomas Wortmann aus Mannheim wird am 8. September im Haus der Schlaraffia zu uns über das Frühwerk Thomas Manns sprechen. Weitere Einzelheiten kann ich vielleicht schon am 20. Juni verkünden, spätestens im nächsten Rundbrief.

    Die Terminierung der Matinee im Museum Koenig mit Tobias Schwartz ist noch in Arbeit

    Von unserem Freund Prof. Susmann aus Nishni Nowgorod erhielt ich nach meinem letzten Rundbrief nette Dankesworte und die Empfehlung, Olga Martynova zu lesen. Sie gewann 2012 den Bachmann-Preis, schreibt Gedichte und Prosa (Roman „Mörikes Schlüsselbein“). Frau Martynova stammt aus Leningrad und lebt seit 1990 in Frankfurt. Dies auch als Anregung für Sie. Ich habe bislang noch nichts von ihr gelesen, will dies im Sommer nachholen.

    Gemeinsam mit Herrn Marcus Pfeifer nahm ich Ende Mai an einer Zoom-Veranstaltung des Thomas-Mann-Forums München teil. Dr. Matthias Stuber sprach unter dem Titel ‚Die Einheit der Welt‘ zum Thema ‚Thomas Mann und Arnold Joseph Toynbee‘, dem englischen Geschichtsphilosophen. Auch wenn sich am Ende der interessanten Ausführungen zeigte, daß ein solches Verhältnis dem Grunde nach nicht bestand, so nahmen wir doch einen wichtigen Hinweis mit: Der Sohn von Arnold Joseph, Philip Toynbee mit Namen, war Journalist und veröffentlichte 1951 in England, Kanada und Israel einen Artikel zu Thomas Mann unter dem Titel „Isolated World Citizen“. Herr Dr. Stubers war so freundlich, uns den Artikel in Kopie und eigener Übersetzung zur Verfügung zu stellen. Sie finden beides im Anhang. Es ist interessant zu lesen, wie die englischsprachige Welt Thomas Mann in der Nachkriegszeit wahrnahm.

    Unser sehr aktives Mitglied Marcus Pfeifer besuchte zudem in Düsseldorf die Inszenierung des „Zauberberg“, oder besser die szenische Umsetzung und Aktualisierung des Romans. Seine wohl ausgewogene Besprechung finden Sie gleichfalls im Anhang.

    Ich traf bei verschiedenen Anlässen mit Vertretern der Görres-Gesellschaft und des Münster-Bauvereins zusammen. Es besteht großes Interesse an unserer Arbeit und auch an projektbezogenen Kooperationen. Ich werde diese Kontakte pflegen.

    Feuilleton

    Im Feuilleton gibt es heute nur einen kurzen Nachtrag zum letzten Rundbrief. Ich hatte Ihnen berichtet von Thomas Manns Nachwort zu Schickeles Roman „Witwe Bosca“. Inzwischen habe ich diesen selbst gelesen und war am Ende sprachlos und mußte erkennen, welch großartiger literarischer Ratgeber Thomas Mann doch ist: Der Roman spielt in Ranas-sur-Mer, das in keiner Landkarte zu finden ist, wohl aber nichts anderes darstellt, als das rückwärts gelesene Sanary ohne ‚Y‘. Ausgelöst durch einen Verkehrsunfall setzt ein zweifacher, miteinander verschlungener Reigen von Liebe und Leid ein, in deren Mitte die herrschsüchtige Witwe und ihre zarte Tochter stehen. Jedes Kapitel wird eingeleitet von einem impressionistisch duftenden Landschafts- und Naturbild, wie es nur Schickele schreiben kann ohne peinlich zu erscheinen. Und in diese Schilderungen ist stets ein Satz eingewoben, der die Verknüpfung zur Erzählung darstellt: Die Jahreszeiten in der Provence wechseln leise in der Nacht… Immer wenn dieser Satz fällt weiß man: jetzt geht wieder etwas gründlich daneben! Und dies auf unvergleichlich humorvolle Art und Weise. Ich gebe eine kurze Kostprobe: „Unterdessen mußte Juliette die Fahrstunden unterbrechen, weil die Regenzeit begann und der Scheibenwischer in seiner provenzalischen Wasserscheu den Dienst versagte, darin heimlich unterstützt vom Fahrlehrer, der es ablehnte, mit der Schülerin auf den glitschigen Straßen ums Leben zu kämpfen. Sie hatte den Mut eines betrunkenen Akrobaten, und er war ein nüchterner Schlosser.“

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    Anlagen Zauberberg Rezension Pfeifer | Artikel ISOLATED WORLD

    Zauberberg Rezension Pfeifer

    (zur aktuellen Inszenierung des „Zauberberg“ am Düsseldorfer Schauspielhaus)

    Man(n) gendert! – Der Zauberberg und der in Bewegung geratene Geschlechterdiskurs

    Es ist schon eine seit vielen Jahren feststellbare Mode, große klassische Romane der deutschen und überhaupt der europäischen Literatur zu Schauspielen umzuarbeiten und dann auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu präsentieren. Man denke etwa an Kafkas „Prozess“, den Dostojewskischen „Idiot“ oder Fontanes „Effie Briest“ – die es bereits in mehreren Versionen auf deutsche Bühnen geschafft hat. Warum das? Ein zentraler Grund für diese mittlerweile etablierte Mode mag es sein, dass diese Vorlagen den Regisseuren eben mehr geben können als das, was die heutigen Bühnenautoren so anzubieten haben in Sachen praller, bühnenwirksamer Geschichten, psychologisch interessanter Charaktere und Konflikte.

    Auch Thomas Mann ist schon längst in die Fänge jener Romanumfunktionierer geraten. John von Düffel etwa, derzeit Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin, brachte schon etliche klassische Romane auf diese Weise auf die Bühne, 2005 erstmals die „Buddenbrooks“, die im Anschluss erfolgreich an mehreren deutschen Bühnen gezeigt wurden, es folgten „Joseph und seine Brüder“, mit wohl etwas weniger durchschlagendem Erfolg.

    Dass man sich bei so einem Unternehmen künstlerische und gestalterische Freiheiten herausnimmt und angesichts der Form auch massive Veränderungen vornehmen muss – nicht zuletzt extreme Kürzungen, liegt in der Natur der Sache. John von Düffels „Buddenbrooks“ etwa fielen – nicht zuletzt, weil die Theaterfassung eines Erzählers ermangelte – eher mit auffällig knappen und lakonisch dahingeworfenen Sprachfetzen auf als mit den typisch Thomas Mannschen verschachtelten, kunstvoll gedrechselten Satzkonstruktionen – die auf der Bühne indessen ja auch sicher einiges undurchschaubarer wirken würden.

    Wie steht es nun mit der Bearbeitung des „Zauberbergs“ für die Bühne? Tatsächlich gibt es in jüngster Zeit sogar zwei Unternehmen dieser Art zu verzeichnen, neben dem Düsseldorfer Projekt auch eines in Dresden. Die Düsseldorfer Fassung wurde vom hauseigenen Ensemblemitglied Wolfgang Michalek und der Dramaturgin Beret Evensen entwickelt. Bei den auf der Bühne Agierenden handelt es sich um die aktuelle Abschlussklasse der Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, die, man darf es vorwegsagen, aus dem Drehbuch das beste herausgeholt, und übrigens mit ihren Leistungen auch allesamt bestanden haben, konnte der Kritiker der Rheinischen Post vermelden.

    Was die Notwendigkeit der Beschränkung betrifft, so reduzierte man in Düsseldorf das Personeninventar des Romans auf acht Personen – ausschließlich Patienten des Sanatoriums auf der Schatzalp in Davos. Auf einen Hofrat Behrens oder dessen ebenso umtriebigen Assistenten Dr. Krokowski sowie untergeordnetes Krankenhauspersonal – wie etwa die mit der Bewirtung beschäftigten „Saaltöchter“ – muss das Düsseldorfer Publikum also leider verzichten.

    Der Einstieg in die Handlung fällt ähnlich aus: Hans Castorp kommt, in Gestalt einer liebenswerten, leicht unbedarft wirkenden und mit Skiern ausgerüsteten Unschuld vom Lande auf der Schatzalp an. Sie bekundet, drei Wochen bleiben zu wollen – und erntet schallendes Gelächter.

    Der aufmerksame Leser wittert zurecht, dass Hans Castorp mitnichten von einem Schauspieler männlichen Geschlechts dargestellt wird, sondern von einer jungen Dame – in Gestalt der talentierten Blanka Winkler. Damit folgt der Regisseur einem weiteren aktuellen Trend an deutschen Bühnen, dem Trend zum Geschlechtertausch nämlich. Bei dieser Düsseldorfer Inszenierung mit einem leichten Frauenüberschuss mag der Geschlechtertausch ein wenig in der Zusammensetzung der Leipziger Abschlussklasse begründet liegen, eigentlich ohne Not ließ man aber hier nicht nur Hans Castorp von einer Frau, sondern auch dessen Geliebte Clawdia Chauchat von einem Mann spielen. Diese Entscheidung kann indessen als originell und gelungen kongenial angesehen werden, weil Thomas Mann in seiner Romanvorlage bei diesen beiden Figuren ja selbst Geschlechtergrenzen transzendiert hatte. Wird sich sein Protagonist Hans Castorp nach den ersten Flirts mit jener zarten und anmutigen asiatischen Erscheinung doch während einer Rast bei einem längeren Spaziergang in freier Natur darüber klar, woher diese Faszination stammt, die ihn so sehr für Chauchat einnimmt. Die traumhafte Erinnerung, in die er dabei ja bekanntlich hinabgleitet, will ihm jedenfalls bewusst machen, dass diese Verliebtheit in direktem Zusammenhang steht mit der einst nur flüchtigen Begegnung mit einem ähnlich anmutigen Jungen slawischer Herkunft im Jugendalter, als ein gewisser Pribislav Hippe ihm einen Bleistift auslieh – und ihn dabei auf magische Weise in seinen Bann zog.

    Im Stück versinnbildlicht nun mit Valentin Stückl ein Schauspieler von ausgesprochen athletischer, dabei graziler Beweglichkeit – der eines gestandenen Balletttänzers, wohl sinnfällig die Aura, von der Hans Castorp sich einst vollkommen verzaubern ließ, lange bevor er sich zu denen droben in Davos begab.

    Ein anderer massiver Eingriff: Das gesamte Bühnenpersonal tritt gleich zu Beginn des Stücks vollzählig auf der Bühne an und bleibt auch bis zum Ende daselbst, sogar ein Mynheer Peeperkorn – der doch im Roman erst viel später auftaucht als Clawdia Chauchat, Ludovico Settembrini oder Leo Naphta. Eine Sensation eigentlich, dass die naive und vergleichsweise unbedeutende Nebenfigur der Ellen Brand – das Medium, das im Roman zur Seherei befähigt ist und auf spiritistischen Sitzungen zur Geisterbeschwörung nutzbar gemacht wird – , ebenfalls das Privileg besitzt, in dieser Bühnenfassung gemeinsam mit anderen wohl schwergewichtigeren Köpfen aufzutreten. Allerdings gibt es für diese Ellen Brand dann noch nicht einmal die Gelegenheit, dieser ihrer Hauptfunktion in der Romanvorlage auch auf der Bühne Genüge zu tun – insbesondere nicht einen toten Joachim Ziemßen herbeizubeschwören, der in dieser Theater-Version ja auch bis zum Schluss quicklebendig mit von der Partie bleibt. Stattdessen steigt diese Bühnen-Ellen quasi zur Gestalt einer mondänen Conférencière durch das gesamte Stück auf (überzeugend gespielt von Caroline Cousin), die sogar als erste Figur auf der Besetzungsliste genannt wird – noch vor Hans Castorp.

    Im Prinzip stellt diese Umsetzung des Romangeschehens dann eine Art durchgehende, lockere Dauerparty im Sanatorium dar, ohne jede Intimität, meistenteils indoors, teilweise aber auch auf den Liegen während der berühmten Zauberbergschen Liegekuren.

    Die präsentierten Gespräche gleichen gelegentlich einer aufgeregten psychoanalytischen Gruppentherapie, sie stellen jedenfalls einen meist aufgeregt hektischen, durcheinander gehenden und oft genug geradezu rüpelhaften Smalltalk dar, bei dem jeder spontane Attacken gegen Gott, die Welt und die anderen Anwesenden loslässt und dabei auch stellenweise Themen der heute aktuellen Tagespolitik aufgreift. Überhaupt scheint man mit all dem nicht zuletzt einer aus den Fugen geratenen Gegenwartskultur den Spiegel vorhalten und etwa zweifelhafte Fernseh-Talk-Shows parodieren zu wollen. Gepflegte Konversationen oder doch zumindest eher dezenter Klatsch unter vorgehaltener Hand, wie sie der Zauberberg kennt, fallen hier weniger auf. Auch höchste Vertreter des Bildungsbürgertums wie Settembrini oder der im Roman doch immer nachdenkliche, ernsthaft aufmerksame und zartfühlende Hans Castorp erleben ab und zu total gestresst ihre Panikattacken und müssen sich dann erst einmal lautstark abreagieren. Mit den Gedanken von Erleuchteten, die vom Davosschen Götterhimmel erhaben über die beschränkte Menschenwelt in der zurückgebliebenen Ebene sinnieren – wie von den verantwortlichen Theatermachern dieses Stücks angedeutet und im Roman wesentlich deutlicher umgesetzt, hat das bei Licht besehen insgesamt denkbar wenig zu tun.

    Und doch, im Laufe der Aufführung kommen schließlich auch die großen Themen des „Zauberberg“ recht deutlich zur Sprache, wenn auch sicher in einer intellektuellen Light-Version: die Relativität des Zeitbegriffs, das Verhältnis zwischen Krankheit und Tod, auch die Veredelung des Menschen durch die Krankheit, ein Prozess, der aber wohlgemerkt nur den Begabten vorbehalten sei. Dumme Menschen kämen nicht in den Genuss dieses Segens, sagt man sich, für die in Buch und ebenso im Schauspiel die Figur der Katharina Stöhr als Beispiel herhält. Diese Apotheose trivialen Halbwissens bekommt passend zum Stil der Bühnenfassung noch einiges mehr an Pointen zugeschustert als die Portion, die Thomas Mann ihr gönnte, und diese Figur wartet also nun des Öfteren mit grandiosen Demonstrationen ihrer genialen Einfältigkeit auf. So darf die Stöhr in Düsseldorf nicht nur von Beethovens [sic:] „Erotica“ schwärmen, wie sie das im Roman kurz nach Ziemßens Tod tat, sondern zudem ihr unsägliches Mitleid bekunden mit einer Ikone des Dauerleidens, einer gewissen kaiserlichen Madame namens Sisi Phuss, oder ihrer mehr oder weniger geneigten Zuhörerschaft den allgemeinen Ratschlag erteilen, man könne der Trübsal des Lebens eigentlich nur entfliehen, wenn man den Weg hin zur Literatur fände, bei einem persönlichen „Gang nach Cabanossi“.

    Ansatzweise authentisch wird auch auf den großen Streit zwischen Lodovico Settembrini und Leo Naphta Bezug genommen, dessen Zeuge Hans Castorp in der Romanvorlage wiederholt wird. Diese beiden, die im Buch ja engagiert als Mentoren Hans Castorps um dessen Aufmerksamkeit und Gunst kämpfen, streiten sich auch im Düsseldorfer Schauspielhaus um die Antwort auf die große Frage „Was ist der Mensch?“ und um die damit verbundene elementare Frage nach den wirklich fundamentalen Idealen der Menschheit. Settembrini beschwört dabei die Individualität des Menschen und die Göttlichkeit menschlichen Gefühls, Naphta geht es um Vernunft, Gehorsam und ggf. um die Rechtfertigung staatlicher Gewalt, wo nicht gar der Herrschaft des Terrors. Dass nun ausgerechnet die Rolle des Settembrini, der, wenn man es so will, ja eher die weiblicheren, jedenfalls die weicheren Ideale vertritt, auch mit einer Schauspielerin besetzt ist, könnte traditionelle Klischeevorstellungen von Frauen eher bestätigen als in Frage zu stellen – wenn man es denn so sehen will.

    Was aber auf sehr erfrischende Weise so einigen intellektuellen Ballast des Zauberbergs ersetzt – und auch anteilmäßig deutlich mehr Raum als im Roman bekommt, ist der Einsatz von Musik und Tanz, nach einer überzeugend gefälligen Choreografie von Bridget Petzold. Diese musikalischen Einlagen vermitteln diesem deutlich ans Boulevard-Theater erinnernden Stück Rhythmus und eine gewisse Eingängigkeit, einen wirksamen Charme sui generis. Mehrmals werden die überaus aggressionsgeladenen Spannungen – so gewollt humorvoll und slapstickartig sie auch präsentiert werden, effektvoll mithilfe der Tanzeinlagen ausgehebelt und auf ästhetisch eindringliche Weise plötzlich überdeckt, so dass man sich als Zuschauer auf einmal auf angenehme Weise mit hineingerissen fühlt in diesen Mahlstrom bürgerlicher Eitelkeit und Überdrehtheit, dem Trieb nach Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Auseinandersetzung – wohingegen es im Roman ja nur einmal – beim Karneval – zur Schilderung einer ansatzweise ausgelassenen Tanzszene kommt.

    Und so tanzt Hans Castorp dann auch im Finale des Stücks nicht etwa ganz alleine symbolisch seinen Todestanz hinein in den Ersten Weltkrieg, um dort schlussendlich unterzugehen, sondern alle auf der Bühne Agierenden tanzen mit ihm – allesamt nun in blutrot verschmierten Gewändern – scheinbar sogar mit einer gewissen Begeisterung am Untergang.

    Der im Anschluss an das Stück noch auf der Bühne ausgegebene Spendenaufruf für die Opfer des Kriegs in der Ukraine erinnerte nur allzu deutlich an die nicht unbedingt grundsätzlich anders gelagerte weltpolitische Lage, in der sich der heutige Zuschauer befindet.

    So manch einer, der den Roman gelesen hat, mag beim Sehen staunen, was umtriebige moderne Theatermacher da aus einer Romanvorlage so zu machen verstehen. Man kann sich darüber köstlich amüsieren oder das als Dreistigkeit empfinden, jedenfalls aber auch die Erinnerung an die eigene Leseerfahrung Revue passieren lassen. Bleibt zu hoffen, dass die Begeisterung, mit der der Schauspielernachwuchs dieses Stück in Düsseldorf auf die Bühne gebracht hat, auch den ein oder anderen neuen Leser für die Lektüre dieses Jahrhundertromans gewinnen wird.

    Artikel ISOLATED WORLD

    Abschrift:

    The Kingston Whig Standard Friday 14.12. 1951

    (Gleiche Textfassung wie Observer, Observer Foreign News Service, No. 5589, 1951 „THE LONELY WORLD-CITIZEN“;

    auch The Jerusalem Post, 28.12.1951, „AN ISOLATED WORLD CITIZEN“

    ISOLATED WORLD CITIZEN

    By Philip Toynbee

    (Special to The Whig-Standard)

    The figure of Thomas Mann has already been an elusive one, impossible to fit into any of the literary or political categories in which our minds rejoice. The frontispiece to a new American symposium shows a rather prim-looking moustached man, sitting upright in a Victorian armchair, a cigar between the fingers, and the two hands disdainfully holding a manuscript in front of his rimless spectacles. This might be a successful product of Harley Street or the City. And in fact Mann is the proud scion of a line of patrician business men from the Hanseatic town of Luebeck, and his first great novel, Buddenbrooks, was written both to honour and obituarize his own family. Not the least bewildering phenomenon about his life is that this mature and epic work was published when its writer was only twenty-five years old. Unlike poets, novelists are almost invariably late to develop, and their early work is usually best forgotten. But Mann’s first novel is comparable in stature to his last one.

    In the literature of this century, Mann has always been a solitary figure, outside the changing fashions. If a contemporary English critic were asked to list the most important novelists of the last fifty years, he would probably mention four or five French names, four or five English ones and two or three Americans. Reminded of Mann, he would flick his fingers in exasperation at his omission, and quickly include him in an honourable position on his list. This is partly due to the very simple fact that Mann is a German. Not only is it true that in the past Germany has produced no novelist of world frame and reputation (unless Goethe be considered a novelist), but also Germany has always been culturally apart from that Mediterranean Europe to which, for cultural purposes, England undoubtedly belongs. (It is significant that Englishmen learn French before they learn German, and that France, not Germany, is the representative European country in the English mind).

    * * *

    For a long time Mann chose to emphasize this cultural isolation. He even rejoiced in it; and during the First World War he wrote a deeply and consciously pamphlet glorifying the cause of the German Empire. And one aspect of that was certainly the 2000-year old conflict between Northern and Southern Europe; between the Teutons and the peoples of the Mediterranean; more specifically, between Kultur and Civilisation. Teutonically enough, Mann describes his literary work during that war in military terms – “I bore the arms of thought for two years” and “returned a disabled veteran”.

    But the stiff and constricting ideology of the German Junkers could not hold him for long; he is a man and writer of expansive spirit, and he was bound to break out of the self-elected bonds of his early nationalism. The rise of the Nazi-Party only hastened a process which was in any case inevitable. From the early twenties onwards Mann was an outspoken and representative figure of the democratic and “Europeanizing” Weimar Republic. He and his family left Germany when Hitler came to power in 1933, and since that time he was a militant opponent of all that his beloved Fatherland had become. Representative now of the “other” Germany, the exiles who had rejected their country’s perversion,

    Mann wandered somewhat disconsolately from Switzerland to Czechoslovakia and back, before settling as last in America. He is now an American citizen, living his resolutely family life in California.

    * * *

    Yet in spite of Mann’s change of heart, in spite of the fact that he has become almost too good to be true in his perfectly genuine role of “world citizen”, Mann remains apart, both in his art and in peculiar atmosphere which surrounds him. His great novels, “The Magic Mountain”, the “Joseph” books, “Lotte in Weimar”, “Dr. Faustus”, are very different from each other. But none of them at all resembles any other novel of our time. He is the heir of Goethe and a writer of such voluminous intensity that more meagre contemporary talents are sometimes overpowered, almost appalled by his controlled exuberance. He cannot of course, be universal, as Goethe was before him, because our modern specialization of knowledge makes true universality impossible. But in his understanding of music and history, of psychology and theology, philosophy and medicine and archaeology, Thomas Mann is the nearest thing we have to a universal writer.

    Yet he remains apart! As this very peculiar and adulatory symposium suggests, he is the God of a cult. Just as Marx was not a Marxist, so Mann is certainly not a Mannite. He is too sardonic to worship at his own shrine. But the members of his cult, often cranky, often hysterical and misguided in their praises, has made a kind of smoke screen round their idol which may easily offend a more cautious approacher. Behind it there sits a figure by no means Olympian; a writer who is often verbose and clumsy; a political moralist who is often platitudinous; but a great and dignified and humourous product of our age.

    (OFNS Copyright)

    Übersetzung Dr. Matthias Stuber, München

    Isolierter Weltbürger – Der einsame Weltbürger – Der isolierte Weltbürger

    Von Philip Toynbee

    (Speziell zu ‘The Whig-Standard‘)

    Die Figur des Thomas Mann war bereits schwer fassbar, unmöglich in eine der literarischen oder politischen Kategorien zu passen, derer sich unser Geist erfreut. Das Titelbild zu einer aktuellen amerikanischen Konferenz zeigt einen eher steif aussehenden Mann mit Schnurrbart, der aufrecht in einem viktorianischen Sessel sitzt, eine Zigarre zwischen den Fingern, und die beiden Hände, die geringschätzig ein Manuskript vor seine randlose Brille halten.

    Dies könnte ein erfolgreiches Produkt von ‚Harley Street‘ oder ‚The City‘ sein. Und tatsächlich ist Thomas Mann der stolze Spross einer Reihe patrizischer Geschäftsleute aus der Hansestadt Lübeck, und sein erster großer Roman, Buddenbrooks, wurde sowohl zu Ehren als auch zum Nachruf seiner eigenen Familie geschrieben. Nicht das am wenigsten verwirrende Phänomen in seinem Leben ist, dass dieses reife und epische Werk veröffentlicht wurde, als sein Autor erst fünfundzwanzig Jahre alt war. Im Gegensatz zu Dichtern entwickeln sich Romanautoren meist immer spät und ihr Frühwerk wird normalerweise am besten vergessen. Aber Thomas Manns erster Roman ist in seiner Gestalt mit seinem letzten vergleichbar.

    In der Literatur dieses Jahrhunderts war Thomas Mann immer eine „solitäre“ Figur, außerhalb der sich ändernden Moden. Wenn ein zeitgenössischer englischer Kritiker gebeten würde, die wichtigsten Romanautoren der letzten fünfzig Jahre aufzulisten, würde er wahrscheinlich vier oder fünf französische Namen nennen, vier oder fünf englische und zwei oder drei Amerikaner. An Thomas Mann erinnert, „schnalzte er verärgert über seine Unterlassung mit den Fingern“ und nahm ihn schnell in eine ehrenvolle Position auf seine Liste. Das liegt zum Teil an der sehr einfachen Tatsache, dass Thomas Mann ein Deutscher ist. Es stimmt nicht nur, dass Deutschland in der Vergangenheit keinen Romanautor von Weltruf und -ansehen hervorgebracht hat (es sei denn, Goethe wird als Romancier betrachtet), sondern Deutschland war auch kulturell immer von jenem mediterranen Europa getrennt, zu dem England für kulturelle Zwecke zweifellos gehört. (Es ist bezeichnend, dass Engländer Französisch lernen, bevor sie Deutsch lernen, und dass Frankreich, nicht Deutschland, das repräsentative europäische Land im englischen Kopf ist).

    Lange Zeit entschied sich Thomas Mann dafür, diese kulturelle Isolation zu betonen. Er freute sich sogar darüber; und während des Ersten Weltkriegs schrieb er eine zutiefst und bewusst konservativen Text, in dem er das Deutschen Reiches glorifiziert. Und ein Aspekt davon war sicherlich der zweitausend Jahre alte Konflikt zwischen Nord- und Südeuropa; zwischen den Germanen und den Völkern des Mittelmeers; genauer gesagt, zwischen „Kultur“ und „Civilization“. Teutonisch genug beschreibt Mann sein literarisches Werk während dieses Krieges in militärischen Begriffen – „Ich trug zwei Jahre lang die Waffen des Denkens“ und „kehrte als versehrter, Veteran zurück“. Aber die strenge und einengende Ideologie der deutschen Junker konnte ihn nicht lange halten; er ist ein Mann und Schriftsteller mit expansivem Geist, und er musste aus den selbstgewählten Fesseln seines frühen Nationalismus ausbrechen. Der Aufstieg der NSDAP beschleunigte nur einen Prozess, der ohnehin unvermeidlich war. Seit den frühen zwanziger Jahren war Thomas Mann eine realistische und repräsentative Persönlichkeit der demokratischen und „europäisierenden“ Weimarer Republik. Er und seine Familie verließen Deutschland, als Hitler 1933 an die Macht kam, und seitdem war er ein militanter Gegner all dessen, was sein geliebtes Vaterland geworden war. Stellvertretend für das „andere“ Deutschland, die Exilanten, die die Perversion ihres Landes abgelehnt hatten, wanderte Thomas Mann etwas untröstlich von der Schweiz in die Tschechoslowakei und zurück, bevor er sich zuletzt in Amerika niederließ. Er ist jetzt amerikanischer Staatsbürger und lebt sein entschiedenes Familienleben in Kalifornien.

    Doch trotz Thomas Manns Sinneswandel, trotz der Tatsache, dass er fast zu gut geworden ist, um in seiner vollkommen authentischen Rolle des „Weltbürgers“ wahr zu sein, bleibt Mann für sich, sowohl in seiner Kunst als auch in der eigentümlichen Atmosphäre, die ihn umgibt. Seine großen Romane „Der Zauberberg“, die „Joseph“-Bücher, „Lotte in Weimar“, „Dr. Faustus“ unterscheiden sich sehr voneinander. Aber keiner von ihnen ähnelt einem anderen Roman unserer Zeit. Er ist der Erbe Goethes und ein Schriftsteller von so umfangreicher Intensität, dass manchmal dürftigere, zeitgenössische Talente überwältigt werden, fast entsetzt sind über seine kontrollierte Ausgelassenheit. Natürlich kann er nicht so universell sein, wie Goethe es vor ihm war, weil unsere moderne Spezialisierung des Wissens wahre Universalität unmöglich macht. Aber in seinem Verständnis von Musik und Geschichte, von Psychologie und Theologie, Philosophie und Medizin und Archäologie kommt Thomas Mann einem Universalschriftsteller am nächsten.

    Doch er bleibt für sich! Wie dieses sehr besondere und lobende Symposium nahelegt, ist er der Gott eines Kultes. So wie Marx kein Marxist war, so ist Thomas Mann sicherlich kein Mannist. Er ist zu „sardonisch“, um ihn in seinem eigenen Schrein anzubeten. Aber die Mitglieder seiner Sekte, oft launisch, oft hysterisch und fehlgeleitet in ihrem Lob, haben eine Art Nebelwand um ihr Idol gemacht, die einen vorsichtigeren Näherkommenden leicht beleidigen könnte. Dahinter sitzt eine Persönlichkeit, keineswegs olympisch; ein Schriftsteller, der oft ausführlich und ungeschickt ist; ein politischer Moralist, der oft platt ist; aber ein großes, würdevolles und humorvolles Produkt unserer Zeit.

    (OFNS Urheberrecht)

  • Rundbrief Nr. 39



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    da ich die ersten beiden Wochen im Mai verreist sind, möchte ich sie noch einmal auf den Stand der Dinge bringen.

    Die Kommunikation mit Interessierten aus Russland läuft mit der gebotenen Vorsicht und daher zögerlich an. Mitglieder unseres Ortsvereins erhielten den Brief eines jungen Wissenschaftlers, der in Bonn studiert hatte. Er ist diesem Rundbrief ohne Namensnennung angehängt. Herr Susmann bedankte sich für den letzten Rundbrief. Wir grüßen auf diesem Wege zurück.

    Zu unseren Veranstaltungen:

    Von der Verantwortlichen für Veranstaltungen im Museum Koenig erhielt ich einen herzlichen Brief, indem sie ihr großes Interesse an der Matinee-Veranstaltung mit Tobias Schwartz zum Ausdruck brachte, aber leider war vor der Sommerpause kein Termin mehr zu finden.

    Auch der Termin mit Prof. Thomas Wortmann aus Mannheim wird in den Spätsommer verschoben. Die vielen Feiertage in Mai und Juni und die frühen Sommerferien machten dies empfehlenswert.

    Wie schon angekündigt, wird Herr Dr. Tim Lörke aus Berlin am 20. Juni zu uns über Thomas Manns Umgang mit den Medien sprechen. Den Titel seines Vortrags lautet nicht mehr: „Hitze und Kälte, Melancholie und Betulichkeit – Thomas Manns produktive Rezeptionssteuerung“ sondern: „Ein unvergleichliches Hündchen“ Thomas Mann und die Anforderungen des Publikums“ Es ist immer wieder hinreißend zu erleben, wie Herr Lörke höchste Wissenschaftlichkeit mit seinem feinen Humor zusammenbringt. Den ‚Abstract‘ zu diesem Vortrag füge ich nun in den Text des Rundbriefs mit ein, sie finden ihn aber auch in dem beigefügten ‚Flyer‘ zu diesem Abend, in dem Sie auch einen Überblick über den wissenschaftlichen Werdegang von Herr Dr. Lörke finden können.

    Nutzen Sie diese Datei, um sie in ihrem Bekanntenkreis zu verteilen:

    „Ein unvergleichliches Hündchen“

    Thomas Mann und die Anforderungen des Publikums.

    Abstract:

    Schon zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn hatte Thomas Mann ein ausgeprägtes Gespür dafür, wie er sich als Dichter zu inszenieren hatte, um erfolgreich zu sein und beim Publikum den besten Eindruck zu erzielen. Zeitlebens hielt er verschiedene Formen der Publikumssteuerung bei: Durch die Art, wie er sein öffentliches Bild ausgeklügelt entwarf. Der Vortrag zeigt, wie Thomas Mann dieses Bild je nach Zielgruppe anpasste. Deutlich wird dabei, dass Thomas Mann als Dichter auf ein Bild von sich hinauswollte, das er genau mit den Techniken des eigenen literarischen Schreibens abglich – Schreiben und öffentliche Person fallen bei ihm zusammen.

    Wie Sie wissen, gibt es in München neben der in Lübeck ansässigen Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft das Thomas Mann Forum, das seinen Mitgliedern an diesem langjährigen Wohnort Thomas Manns ein interessantes Programm bietet. Auch dort bemüht man sich, die Veranstaltungen in einem hybriden Format zu präsentieren, auf die Sie Zugriff haben. Daher habe ich den letzten, lesenswerten Rundbrief gleichfalls angehängt. Sollten Sie an einer dieser Veranstaltungen teilnehmen, bitte ich um einen klei- nen Bericht für die Mitglieder unseres Ortsvereins.

    Leider gibt es wieder eine traurige Nachricht zu vermelden: Am 1. April starb Prof. Bernd Witte. Er war unserem Ortsverein stets zugeneigt, oft bei unseren Veranstaltungen. Als der ausgewiesene Fachmann für deutsch-jüdische Literatur konnte ich ihn so manches Mal um Rat fragen. Zuletzt erschien von ihm die tiefgründige Biographie „Martin Buber und die Deutschen“. Seine Bücher lesend mögen wir seiner gedenken.

    Feuilleton

    Nach Ernst Weiß habe ich mich mit einem anderen Freund und Schriftsteller aus den Exiljahren Thomas Manns beschäftigt – und tue dies nun wiederum: mit René Schickele. 1883 im damals gerade deutschen Elsaß geboren, verstand er sich Zeit Lebens als Grenzgänger, als Vermittler zwischen den beiden großen europäischen Nationen, eine Rolle, zu der Thomas Mann erst beinahe 50 Jahre alt werden mußte, bis er sie für sich fand. So standen die beiden während des Ersten Weltkriegs auch in gegensätzlichen Lagern. René Schickele war Mitarbeiter und einige Jahre auch Herausgeber der pazifistischen Zeitschrift „Weiße Blätter“ und ging darin Thomas Mann scharf an. In den mir vorliegenden Quellen ist davon nichts mehr zu spüren. In den Tagebüchern und Briefen beginnen die Eintragungen im Jahr 1933.

    1925 war René Schickele einer breiteren Leserschaft bekannt geworden mit dem ersten Band der Roman-Trilogie „Das Erbe am Rhein – Maria Capponi“ – im Subtext ein hohes Lied zur Deutsch-Französischen Aussöhnung, ein Roman, den Thomas Mann sicher kannte. Schickele war das Erzählen stets eine hohe Kunst und nie distanzierter Realismus. Er konnte sich in einem wunderschön elegischen Ton ergehen: „Unter dem Blütenfall der Blutjohannisbeere schäumt die japanische Schneekirsche. Von dort fließen Krokusse über den Rasen und bilden einen See, der morgens im Dampfe wogt…“ Die Erzählerfigur Claus, die viele Züge Schickeles trägt, ist ein Mann mittleren Alters, der in den ersten Jahren nach dem damals noch einzigen Weltkrieg zurückblickt auf seine Jugend, aber in den ersten Kapiteln zunächst seine Gegenwart beschreibt im südbadischen Rheintal mit den Vogesen leuchtend in der Abendsonne. Claus hat einen heißgeliebten kleinen Sohn namens Jacquot, mit dem er sich auf den Weg macht zu den Großeltern im Elsaß: „Zehn, vielleicht auch zwanzig Millionen Männer waren eines gewaltsamen Todes gestorben, damit dieser Familienvater mit der grünen Mütze Jacquots Taschen nach Schokolade durchsuchte. Jacquot hatte den Hut voll davon. Der Familienvater mit der grünen Mütze fand keine Schokolade.“ Dies als Beleg für den heiter-ironisch und stets auch politischen Ton der Erzählung.

    Schickele liefert dann noch einen erzählerischen Abriß der wechselvollen Geschichte von Baden und Elsaß, bei der Napoleon im Zentrum steht („Gottvater hat einen Sohn, / Und der heißt Napoleon.“) bevor die große Rückschau beginnt, die Liebesgeschichte, die Amour fou zu Maria, die sich zum einen unter dem blauen Himmel der Provence abspielt, zum andern in der morbid-schönen Kulisse von Venedig. Erinnerungen an Thomas Manns Novelle sind unausweichlich, und – wer weiß – vielleicht sogar intendiert. Im Juli ‘33 notierte Thomas Mann in seinem Tagebuch, er „lauschte der melodiösen Prosa mit Vergnügen“ – womit er das Schrei- ben Schickeles in kürzester Form auf den Punkt bringt.

    Hier ein Blick auf den Leinenein- band von Maria Capponi: Kann mir jemand diese beiden mitein- ander verknüpften Wappen entschlüsseln?

    Der erste mir vorliegende Brief Thomas Manns an Schickele stammt aus dem April ‘33, zum Beginn seines Exils. Er wohnt mit seiner Familie in Lugano. Schickele hatte sich schon 1932 in Sanary sur mer niedergelassen und unterstützt die Familie Mann bei der Quartiersuche nach Kräften. Die gut vernetzte Schriftstellergemeinde verdankt es offenbar der „Vorhut“ Schickele, daß sich in diesem nicht gerade schönsten oder bekanntesten Bade- und Fischerdorf an der französischen Riviera eine deutsche Künstlersiedlung entwickelte. Der Ton des Briefes macht deutlich, daß sie sich schon länger kannten und schätzten. In den Monaten in Sanary (Mai bis September ‘33) treffen sich die Familien fast täglich, wie den Tagebüchern zu entnehmen ist, machen gemeinsame Ausfahrten, treffen sich zum Tee. Es gibt eine tiefe Übereinstimmung in persönlichen, politischen und künstlerischen Dingen. Nach der Rückkehr der Familie Mann in die Schweiz nach Küsnacht tauscht man lange, illusionslose Briefe aus. Mann schreibt am 2. April 1934:

    „…Oder glauben Sie an einen Zusammenbruch zu meinen, oder zu ihren Lebzeiten? … Aber das deutsche Volk ist stark im Hinnehmen, und da es die Freiheit nicht liebt, sondern sie als Verwahrlosung empfindet, … , so wird es trotz schweren Desillusionierungen sich unter der neuen, roh-disziplinären Verfassung immer noch besser und richtiger in Form fühlen, immer noch „glücklicher“ sein als unter der Republik.“

    Am 16. Juni ’34 bedankt sich Thomas Mann für die freundlichen Worte, die Schickele zu seinem Joseph gefunden hatte, lobt dessen „französische Sensibilität für Dinge der Prosa“, die „für deutsche Ohren einfach in den Wind getan ist… (ausgenommen natürlich die Juden, deren Freunde und Dankbarkeit ergreifend sind)“

    Im Oktober ’34 genießt er Schickeles neusten Roman „Liebe und Ärgernis des D.H. Lawrence“, nennt ihn „antideutsch in seiner Anmut“ und „ein Stück Literatur, wie es in dem jammervollen Kerker, der heute Deutschland heißt, einfach nicht wachsen kann … und [man] lacht sich ins Fäustchen, daß es den Macht-Eseln nie, nie, niemals gelingen wird, das Deutsche im Politisch-Totalitären einzufangen. Zu viel ist ihnen schon entschlüpft.“ Analogien zum heutigen Russland drängen sich auf.

    Aufhorchen ließ mich ein Zitat aus einem Brief an Schickele vom Oktober 1935: „Da lobe ich mir den alten Churchill und seine goldenen Worte im Strand-Magazine. Der reine Lichtblick.“ Fürwahr, ein höchst lesenswerter Artikel: „The trouth about Hitler“, reich bebildert, voller Sprachmacht, der im Netz leicht zu finden ist.

    1939 verfaßt Thomas Mann für die französische Ausgabe von Schickeles Roman „Witwe Bosca“ ein einfühlsames Vorwort, stellte dabei den Franzosen den so französisch empfindenden und deutsch schreibenden Elsässer vor. Ein Dienst am Freund, der im Jahr darauf allzu jung sterben sollte. Thomas Mann erreicht die Todesnachricht am 5. Februar 1940 in Princeton, am 12.Februar trifft noch ein Brief von Schickele ein mit viel Lob für die „Lotte in Weimar“. „…die unheimliche Unmöglichkeit, ihm auf seinen Brief dankbar zu erwidern…“ empfindet Thomas Mann sehr schmerzhaft.

    In Erinnerung an den Autor wurde nach dem Kriege von verschiedenen Verlagen und Privatpersonen der René-Schickele-Preis ausgelobt; Hermann Kesten, Thomas Mann und Alfred Neumann als Preisrichter gewonnen. Am meisten Eindruck machte Hans Werner Richters Roman ‚Sie fielen aus Gottes Hand‘. Der etwas pathetische Titel ist mithin einer der letzten Sätze des Romans, einem Rabbiner in den Mund gelegt, der gerade sein Kaddisch auf einen kleinen Judenjungen gesungen hatte, dessen unglückliches Leben Richter verfolgt in den Jahren 1939 bis 1949. Aber neben dem Schusterjungen Slomon hat er auch einen Hauptmann aus Estland, eine Studentin aus Krakau, einen Schmuggler aus Ägypten, eine Bardame aus Lettland, einen Koch und SS-Mann aus Luxemburg, insgesamt ein dutzend Figuren im Blick, deren Leben er in kurzen, filmischen Szenen durch die Jahre verfolgt, aneinandergereihte Kurzgeschichten. Es sind samt und sonders gebrochene Heldenfiguren, die nur in ihren Schwächen glänzen. Richter hatte fünf Jahre lang ‚gedient‘, er wußte, wovon er schreibt – und gerade das mißfiel Thomas Mann bei aller Anerkenntnis der erzählerischen Meisterleistung. Die Wehrmacht wird als Teil des Dramas dargestellt, nie als deren Auslöser explizit benannt. Lange wird über den Fall diskutiert, bis Thomas Mann am 13. Dezember 1951 an Hermann Kesten schreibt: „Rufen wir H.W. Richter zum Schützenkönig aus, zur Not erhält er den Schickele-Preis…“

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

  • Rundbrief Nr. 38 + Korrektur  Anlagen Thomas Mann an Ernst Weiß | Xaver Frühbeis



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    fast 100 Jahre ist es her, daß Thomas Mann 1924 – die Nachbeben des Krieges waren noch zu spüren – in Amsterdam eine Tischrede hielt: „Der Schriftsteller, der Dichter ist ja ein irritabilis vates; Talent ist im wesentlichen Sensitivität, Empfindlichkeit für Zukunftsnotwendigkeiten. (…) Der Dichter, der in einer geschichtlichen Stunde, wie der gegenwärtigen, nicht die Partei des Lebens ergriffe, wäre wahrhaftig nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.“

    Der aktuelle Krieg, da können wir nicht umhin, wird eine wesentliche Rolle unserer zukünftigen Arbeit spielen und auch bei unserem „hybriden“ Stammtisch am 28. März nahm er breiten Raum ein. In meinem Büro, dem ‚Sitz‘ unseres Ortsvereins, hatten wir uns in nur kleiner Runde (fünf Personen) getroffen, online zugeschaltet waren weitere acht Mitglieder. Ganz besonders erfreut war ich, daß wir Frau Ekaterine Horn in unserer Runde begrüßen durften. (Beim letzten Rundbrief hatte ich fälschlicherweise ihren Vornamen am Ende mit einem ‚a‘ geschrieben, wofür ich mich schon entschuldigte.) Aus Georgien, dem Nachbarland der Ukraine stammend, schilderte sie uns ihre Empfindungen angesichts der schrecklichen Bilder des Krieges und der aus ihrer Sicht nach wie vor als etwas lau empfundenen Reaktionen des Westens. Trotz Ihrer Liebe zur russischen Literatur fällt es ihr heute schwer, einen Roman von Dostojewski in die Hand zu nehmen. Wir bekamen einen Eindruck von den Verwerfungen, die dieser Krieg auslöst, und eine Ahnung davon, wie lange es dauern wird, bis die Völker, bis die Bürger dieser Länder sich wieder die Hände reichen können.

    Und dennoch begrüßte sie, wie die gesamte Runde, unsere Patenschafts-Initiative für alle Interessierten aus den östlichen Ländern, gehen wir doch alle davon aus, daß Liebhaber der Literatur Thomas Manns nicht der Barbarei des Krieges das Wort reden können. Professor Valerij Susmann aus Nishni Nowgorod bedankte sich jedenfalls die Anregung und ich stellte mich sogleich als sein ‚Pate‘ zur Verfügung; seine Frau Natascha, eine Ukrainerin, will auch gerne die Patenschaft ihrer Freundin Margit Haider-Dechant annehmen.

    Auch im Vorstand unserer Gesellschaft wird diese Initiative sehr begrüßt, man ist gespannt auf Echo und Erfolg. Nach einer ausführlichen Beratschlagung mit Lübeck sollten die Beiträge für die Patenschaften als „Spende Patenschaft“ auf das Konto unseres Ortsvereins eingezahlt und nicht nach Lübeck überwiesen werden.

    Doch bevor wir Gelder einsammeln und vereinsrechtliche Dinge im Detail klären, müssen wir Kontakte knüpfen. Den von mir hoch geschätzten, in Salzburg lebenden, deutsch-russisch-jüdischen Autor Vladimir Vertlib habe ich hierzu auch um Unterstützung gebeten. Die Kommunikationswege werden immer schwieriger. Herr Susmann hat seit drei Wochen auf eine Anfrage meinerseits noch nicht reagiert. Frau Horn wird Kontakte in ihre Heimat aktivieren, anfragen, ob Interesse besteht an einer Mitgliedschaft in der Thomas Mann-Gesellschaft. Sie hatte uns eine Liste georgischer Publikationen zu Thomas Mann zur Verfügung gestellt. In einem zweiten Schritt will sie nun Zusammenfassungen der wichtigsten Schriften nachliefern, damit wir entscheiden können, welche Beiträge für eine Publikation – finanziert aus Patenschaftsmitteln – in Frage kommen.

    Der Blick von außen auf ‚unseren‘ Dichter wird auch unseren Horizont erweitern.

    Zurück zu unserem Stammtisch: Man ermunterte mich, alle angedachten Veranstaltungen für die Sommermonate in Angriff zu nehmen. Es besteht ein großes Bedürfnis nach Präsenzveranstaltungen, was auch an der Auslastung von Opern und Konzerthäusern ablesbar ist. Jeder muß für sich Vorsorge treffen per Impfung, Maske etc.

    Die Veranstaltung mit Herrn Tobias Schwartz im Museum Koenig konnte ich aufgrund verschiedenster Quarantäne- und Home-Office-Umstände im Museum noch nicht fixieren. Wer Tobias Schwartz allerdings vorab schon kennenlernen will, kann dies am 14. Juni in der Buchhandlung Böttger tun (Anmeldung erforderlich). Er wird dort über seine Übersetzertätigkeit für den Aviva-Verlag und seine im Elfenbein Verlag erschienen Romane berichten. Der Vortrag zu seinem Verhältnis zu Thomas Mann, das insbesondere im Roman „Morpho Peleides“ aufscheint, liegt bereits fertig in seiner Schublade. Hoffen wir, daß die Schmetterlinge sich bald entpuppen können.

    Mit Prof. Thomas Wortmann stehen wir kurz vor einer Terminvereinbarung für seinen Vortrag in der Schlaraffia. Bei der Dichte der Feiertage in Mai und Juni und den frühen Sommerferien, ist dies kein leichtes Unterfangen.

    Im Juni konnte ich einen Termin fixieren: Am 14. Juni wird Dr. Tim Lörke aus Berlin zu uns über Thomas Manns Umgang mit den Medien sprechen, und zwar im Saal des Verwaltungsverbands der evangelischen Kirche in der Adenauerallee, wo die Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft nach wie vor ihren Sitz hat, auch wenn sie dort kein Restaurant mehr betreibt. Daher wird die LESE auch partnerschaftlich für uns in ihren Kreisen die Werbetrommel rühren. Eine ausführliche Einladung zu diesem Abend erhalten Sie noch in getrennter Post – halten Sie sich den Abend schon mal frei!

    Mit zwei traurigen Meldungen muß ich den ersten Teil des Rundbriefs abschließen:

    Unser langjähriges Mitglied Frau Dorothee Kross aus Bonn ist vorvergangene Woche verstorben. Die Familie Kross teilte dies Frau Martin in Lübeck mit. Die Anteilnahme der Mitgliederschaft der Thomas Mann-Gesellschaft wurde auf diesem Wege bekundet.

    Am gestrigen Samstag mußte ich im WDR 3 Klassik Forum mit Erschütterung erfahren, daß Xaver Frühbeis diese Woche mit nur 64 Jahren gestorben ist. Wie gerne lauschte ich seinen Moderationen mit bayrisch rollendem „R“, seinem kenntnisreichen Witz, seiner Leidenschaft für die liberalen, offenen Seiten klassischer Musik, seinem nie unpolitischen Denken. Im letzten Jahr hatte er uns seinen Moderationstext zu Schuberts Lindenbaum zur Verfügung gestellt. In Vorbereitung meines damaligen Rundbriefs (Nr. 26) stimmte ich meinen Text mit ihm ab. Seinen sehr freundlichen Antwortbrief habe ich angehängt – denken Sie sich beim Lesen seinen knarzig-münchner Ton hinzu.

    Feuilleton

    Ich habe mich in den letzten Wochen mit einem weiteren Briefpartner von Thomas Mann befaßt: mit Ernst Weiß. Zunächst mit seinem letzten Roman „Ich, der Augenzeuge“ – verfaßt 1939 in Paris, ein Jahr vor seinem Freitod, ein Jahr vor dem Einzug Hitlers in Weiß‘ neuer Heimat. Auf atemberaubende Weise rechnet darin der Dichter mit dem Diktator ab. Es sind viele autobiografische Züge erkennbar, aber der jüdische Dichter wählt einen Christen, einen Sohn antisemitisch, rechtsnationaler Eltern zum Ich-Er- zähler, der sich eine Jüdin zur Frau nimmt. Dies ist der eine Spannungsbogen. Der andere: Der Erzähler dient im ersten Weltkrieg, als Arzt hinter der Front – wie der Autor – und dieser Arzt wird zu Kriegsende mit einem hysterisch-blinden Patienten konfrontiert, den er heilt, mit A. H. Der gekürzte Führername erscheint erstmals exakt in der Mitte des Romans, und es folgt ein erzähltes Psychogramm dieses Unmenschen, wie ich es noch nie gelesen habe. Danach der weitere Lebenslauf dieses empfindsamen und rücksichtslos ehrlichen Erzählers, zwischen der Schuld die Bestie geheilt zu haben, der bedingungslosen Liebe zu seinen egomanischen Eltern und den sich aufbauenden Zweifeln an der Unschuldigsten der ganzen Geschichte, an seiner jüdischen Frau. Kristallklar und beklemmend.

    Thomas Mann hat diesen Roman nicht mehr kennengelernt. Anfang der 60er Jahre wurde der Text eher zufällig in New York entdeckt, wohin Weiß ihn zu einem Literaturwettbewerb geschickt hatte. 1963 wurde er von Hermann Kesten herausgegeben und mit einem Vorwort versehen.

    Ein Jahr vor „Der Augenzeuge“, 1938, erschien noch in Zürich der Roman „Der Verführer“, den Ernst Weiß Thomas Mann gewidmet hatte, der diesen an den Vorweihnachtstagen 1937 schon lesen durfte und ähnlich gefesselt war, wie ich es gewesen bin. Seinem Brief an Ernst Weiß vom 22.12.37 fehlt es dennoch nicht an einer dezenten Doppelbödigkeit. Thomas Mann scheint sich überrumpelt gefühlt zu haben von der Widmung des Romans an ihn. Den Text als fesselnd zu beschreiben, ihn mit der Vokabel ‚interessant‘ zu belegen, besagt noch lange nicht, daß er ihn wirklich gut fand. Er erkennt die distanzierte ‚Objektivation‘ von Weiß als Qualität an, obwohl sie seinem Schreiben fern ist. Er spricht nicht aus, was augenfällig ist: Weiß verwendet fraglos bewußt Thomas Mann‘sche Motive: allzu sehr ist man an die jungen Jahre des Felix Krull erinnert und auch an die Figur des Castorp im Zauberberg. Das Duell kommt hinzu, auch der finale Zug in den Krieg, den wir heute den Ersten nennen in der Hoffnung, daß es zu keinem Dritten kommt. Kurz: Mir scheint der Roman überfrachtet, auch enttäuschend fern jeglicher Politik – wir schreiben das Jahr 1937! Es finden weder Nationalismus noch Antisemitismus statt. Warum? Hatte er ernsthaft Hoffnung, dadurch eine breitere Leserschaft in der Schweiz zu gewinnen? Spekulationen – sollte man unterlassen.

    Seinen letzten Roman ‚Der Augenzeuge‘ kann ich allerdings rückhaltlos empfehlen.

    Am Ende komme ich auf das Thema Rußland zurück: 1922 spricht Thomas Mann in München zur Eröffnung der Ausstellung „Russische Dichtergalerie“. Er hebt seine Hochachtung vor den großen Dichtern dieses Landes hervor. Gegen Ende lesen wir folgende Sätze: „Es sind jetzt viele Russen, unser verworrenes Leben teilend, bei uns in Deutsch- land (…)“ und unter Bezugnahme auf Goethe etwas später: „(…) ist uns Gewähr, daß wir von Rußland nicht nur zu nehmen, daß auch wir, wenn es empfangen kann – und wie sollte sein weicher, hochherziger Sinn es nicht können -, ihm zu geben haben.“

    Er konnte nicht ahnen, daß die Bolschewiken und ihre nationalistischen Nachfolger noch 100 Jahre später das Land im Griff haben würden, um es dann aus der Reihe der zivilisierten Staaten hinaus zu bomben. Dennoch sollten wir versuchen, uns an die Seite der bürgerlich liberalen Menschen dieses Landes zu stellen, so wenig dies auch sein mögen.

    Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    PS: Herr Pfeifer macht aufmerksam, daß im Kleinen Haus des Schauspielhauses Düsseldorf gerade der Zauberberg gezeigt wird: https://www.dhaus.de/en/programme/a-z/der-zauberberg/

    Korrektur  Anlagen Thomas Mann an Ernst Weiß | Xaver Frühbeis

    Thomas Mann an Ernst Weiß

    Ernst Weiß und Thomas Mann

    Thomas Mann an Ernst Weiß zum Roman „Der Verführer“

    (Küssnacht, 22.XII.1937)

    Lieber Herr Ernst Weiß,

    über den mannigfaltigen Ansprüchen, die der Tag mit sich bringt, bin ich immer erst nachts vor dem Einschlafen (es wurde manchmal recht spät dabei, gestern, beim Endspurt, halb 2 Uhr) dazu gekommen, Ihren Roman zu lesen. So hat es länger damit gedauert, als ich dachte; aber nun habe ich das reiche Werk auch wirklich aufgenommen und kann Ihnen, nachdem ich es erworben, um es zu besitzen, noch einmal in vollerem Sinne dafür danken als beim Empfang. Von einer Überraschung kann ich nicht sprechen, eigentlich, denn ich kannte Sie längst in Ihrer erzählerischen Eigenart und wußte im Wesentlichen, was ich zu erwarten und worauf ich mich zu freuen hatte. Aber „Der Verführer“ ist doch wieder eine so neue und merkwürdige Kundgebung und „Objektivation“ dieser Eigenart, daß man dennoch von Überraschung reden möchte, in dem Sinne einfach, wie das Gute und Originale immer wieder überrascht – aus dem wiederum sehr einfachen Grunde, weil es selten ist, und man es mit so viel Durchschnittlichem und Uneigentlichem zu tun hat, daß man schließlich schon beinahe vergessen hat, wie das Gute und Merkwürdige aussieht. – Nun, so sieht es aus. Und was interessant ist, weiß man nun wieder. Interessantheit ist gewiß die erste und vielleicht einzige an einen Erzähler zu stellende Forderung, das Kriterium seines Talents, viel mehr als beim Lyriker oder Dramatiker. Denn wenn man einem zuhören soll, und zwar lange zuhören soll, so muß er eben interessant sein – eine freilich mysteriöse und kaum zu definierende Eigenschaft; aber dieses Geheimnis und das Undefinierbare haben Sie, und es macht Sie zu einem – soll ich sagen: großen? – aber was soll das Beiwort? -, es macht Sie ganz einfach zu einem Erzähler.

    Das Buch gehört zu dem Allerinteressantesten, das mir in Jahren vorgekommen, und während ich las, blätterte ich öfter zurück zur Widmung und freute mich, daß es mir gehört. Das Interessante aber, an und für sich rätselhafte, kann auch wohl inhaltlich-sachlich eines rätselhaften Einschlages nicht entbehren – man zerbricht sich den Kopf, man schüttelt ihn auch wohl, was ist das für ein Buch, was für ein Autor, was für ein Held, wie kommt der Autor zu diesem kühlen, kühnen, erfolgreichen Helden, wie weit ist er mit ihm identisch? Sehr weit offenbar, denn kühl, kühn und erfolgreich, innerlich erfolgreich ist auch der Erzähler, der hier erzählen läßt, aber auch wieder selbst erzählt, ein Leben, eine Jugend, die in dieser Form wohl kaum die seine ist, ein Wunsch- und Schmerzensleben, das er mit so viel Kühle, Kühnheit und Erfolg zu realisieren weiß, daß es seines ist, sein zweites Leben, seine zweite Jugend.

    Der Erfolg, das Gelingen ist wirklich außerordentlich. Wie alles real gemacht ist, zur entschiedensten Autobiographie, zum eigentümlichsten Leben wird, ist erstaunlich. […] das Duell, noch einmal ein Roman-Duell, aber eben kein Roman-Duell, sondern ganz neu und lebenseinmalig „so war es“. Es ist vorzüglich.

    Man ist angefüllt mit Eindrücken, erregt und okkupiert von sonderbar existenten, aber unvergeßlich geprägten Bildern, Menschen und Geschehnissen. – Übrigens ist das Ganze sehr österreicherisch, wenigstens was einen gewissen Hauch von Gesellschaftlichkeit, Mondänität betrifft. Dabei diese Einsamkeit – bis zur Kälte. Sehr, sehr beschäftigend und ergreifend.

    Seien Sie beglückwünscht und nehmen Sie weihnachtliche Grüße. Ihr ergebener

    Thomas Mann

    Xaver Frühbeis

    Lieber Herr Baumgärtner,

    ich habe Ihren Text grade gelesen und fühle mich sehr geehrt. Und ich bin gespannt, was Ihren Lesern dazu einfallen wird. Vielleicht noch ein zwei kleine Anmerkungen.

    • Einmal hat sich in ihrem Text eine „Oper“ in einen „Ober“ verwandelt.
    • Was den Anfang meines Moderationszitats angeht:

    Beim „Lindenbaum“ ist das auch so, und: hier ist aber auch noch die Struktur des Lieds „Am Brunnen vor dem Tore“ eine ganz andere als die im Kunstlied von Schubert.

    • Das „hier“ macht hier nur Sinn, wenn man in der Sendung zuvor die Silchersche Volksliedversion gehört hat. Auf die sich das „hier“ bezieht. Ohne die Musik davor ist das „hier“ ohne Bezug. Vielleicht sollten Sie das noch einfügen …
    • Ein Gedanke noch, den ich in der Sendung nicht untergebracht habe. Ich bin der Meinung, daß die Müllerschen Leser und die Schubertschen Sänger und Zuhörer ganz selbstverständlich diese Botschaften zwischen den Zeilen verstehen konnten. Anders als wir heute. „Zwischen den Zeilen“ war ja das einzige, wie man solche subversiven Botschaften in der Spitzel- und Zensurzeit an den Mann bringen konnte. (Das war damals nicht anders als später in den Diktaturen von Hitler und Stalin.) Als Leser und Hörer war man gewohnt, Bilder und Allegorien zu deuten. Sobald dieser Zusammenhang jedoch entfällt, weil die Zensur nicht mehr existiert, wird der Leser/Hörer späterer Zeit diese Fähigkeit wieder verlieren. Deswegen tun wir Heutigen uns da ohne Anleitung so schwer.

    Man kann sich übrigens auch Zeilen in anderen Winterreise-Liedern unter diesem Aspekt betrachten. „Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten.

    Es schlafen die Menschen in ihren Betten, Träumen sich manches, was sie nicht haben.“ – Es ist nicht schwer sich vorzustellen, was Müller und seinen Zeitgenossen da in den Sinn gekommen ist: Freiheit. Freiheit des Worts und des Gedankens.

    Ich freue mich auf weitere Nachrichten von Ihnen. Beste Grüße

    Xaver Frühbeis

  • Rundbrief Nr. 37 + Anlagen  E. Horn: Liste Publikationen | M. Pfeifer: Betrachtungen



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, diesem Rundbrief ist das Protokoll unserer Jahresmitgliederversammlung angeheftet, das Sie,

    liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    nicht zu lesen bekommen – aber das können Sie ja zukünftig ändern.

    Bei unserer Jahresversammlung wurde ich gebeten, bei meinen zukünftigen Rundbriefen den redaktionellen Teil, in dem ich über Aktuelles und Organisatorisches unseres Ortsvereins berichte, vom feuilletonistischen Teil zu trennen, in dem ich über alte und neue Erscheinungen von, um und zu Thomas Mann berichte. Dies will ich auch sogleich beherzigen, wenngleich es dem Wesen einer literarischen Gesellschaft entspricht, daß sich diese Bereiche zuweilen überschneiden.

    Die im Protokoll ausführlich geschilderten geplanten Vorträge für dieses Jahr, hatte ich in den vergangenen Rundbriefen bereits angekündigt. Die große Zuversicht auf unserer Versammlung war auch getragen von den sinkenden Corona-Zahlen – inzwischen sieht es wieder komisch aus. Wir werden sehen und kämpfen, um die Vorträge terminieren zu können.

    Über die bedauerliche Abwesenheit des Herrn Professor Valerij Susmann bei unserer Jahresversammlung habe ich im Protokoll berichtet. Über die Wichtigkeit, mit Künstlern und Kulturschaffenden aus östlichen Ländern in Kontakt zu bleiben, sprachen wir noch im Nachgang. Die großen Hoffnungen zum Siegeszug der Demokratie als Staatsform, die wir vor 30 Jahren im Zuge der Perestroika hatten, sind spätestens seit zwei Wochen zerstoben. Die Texte von Thomas Mann zur Demokratie, zum Kampf gegen Autokraten, zum Krieg für die Freiheit sind aktueller denn je. Daher wollen wir Herrn Susmann sowie seine Freunde und Kollegen dazu anregen, in Nishni Nowgorod einen Thomas- Mann-Freundeskreis einzurichten. Sie würden Teil der Thomas-Mann-Gesellschaft, wobei ihre Mitgliedsbeiträge von ‚Paten‘ aus unserem Ortsverein übernommen würden. Diese dadurch gewonnenen Mitgliedsbeiträge sollten dann auf ein Sonderkonto fließen, aus dem wir junge Wissenschaftler aus dem Osten bei Publikationen, Vorträgen oder ähnlichen Dingen unterstützen. Über dieses Vorhaben würde ich gerne mit Ihnen bei unserem ersten Stammtisch beraten – neben vielen anderen Themen. Zu einem ersten Termin des Stammtischs stellt Herr Schlegel sein Wohnzimmer in Bonn Röttgen (An den Eichen 33) zur Verfügung und zwar am Montag, den 28. März um 18:00 Uhr. Da die – coronakonformen – Platzkapazitäten dort beschränkt sind, bitte ich alle daran Interessierten sich kurzfristig bei mir zu melden. Erste Meldungen werden bevorzugt berücksichtigt.

    Im Zusammenhang mit den östlichen Nachbarn unseres Landes darf ich auch auf unser neues Mitglied, auf die Germanistin Frau Ekaterina Horn hinweisen, die selbst aus Georgien stammt. Freundlicherweise stellte sie mir eine Liste von Publikationen zu Thomas Mann zusammen, die von ihren Landsleuten verfaßt wurden. Sie finden diese Liste im Anhang. Die Titel lesen sich sehr spannend – es gibt vieles zu entdecken. Ich frage schon auf diesem Wege bei Frau Horn an, ob sie uns bei einem Stammtisch von der Rezeption Thomas Manns in ihrer Heimat berichten könnte, mit der Perspektive, auch Vorträgen von dieser Seite ins Auge zu fassen.

    Feuilleton

    Den Text von unserem Mitglied Markus Pfeifer habe ich im Protokoll angekündigt. Während der Korrespondenz mit Herrn Pfeifer begann ich mich mit einem der wenigen Menschen zu befassen, die sowohl mit Thomas Mann als auch mit Bert Brecht befreundet waren. Hierzu besorgte ich mir das wohl einzige als Biographie anzusprechende Buch, das über Therese Giehse erschienen ist. Es wurde 1973 bei Bertelsmann von Monika Sperr herausgegeben und trägt den ebenso bayrischen wie unwahren Titel: „Ich hab nichts zum sagen“. Als Jüdin in München aufgewachsen, wurde sie früh mit Erika und Klaus Mann bekannt und wurde dann tragendes Mitglied der Züricher Pfeffermühle. In diesen ersten Jahren des Exils war sie sehr häufig bei der Familie Mann zu Gast, wo man sie als Schauspielerin bewunderte und als Person sehr schätzte. Dies blieb auch nach dem Kriege so, nachdem man sie, wie Erika sich ausdrückte, „an Brecht verloren“ hatte. Schon bei seinem ersten Europabesuch 1947 bewundert sie Thomas Mann als Madame Storch in Nestroys „Das Mädel aus der Vorstadt“ im Züricher Schauspielhaus und freut sich, daß die Theres‘ wieder bei der Familie am Tisch sitzt.

    Aus gegebenem Anlaß zeige ich ihnen hier ein Bild von Therese Giehse bei einem Auftritt in der Pfeffer- mühle beim Vortrag des Liedes von der Dummheit, ihrer finsteren Glanznummer, wie Erika Mann sich erinnert:

    „Im wallenden Ballkleid (rosa) und flachsiger Perücke (schulterlang) stand die Giehse auf rundem Postament (denkmalgleich) und kündete gereimt von sich und ihrer Allmacht: sie prahlte, schäkerte und drohte. Dann wieder erschrak sie jählings vor sich selbst, erstarrte zur Bildsäule und zum Prosa- Refrain: »Ja, um Gottes willen, bin ich dumm!«“

    An so etwas hatte Thomas Mann größtes Vergnügen, Erika weiter:

    „Es war der großartige Eugen Auerbach (im Jahre 1940 in Paris geschnappt und vergast), Freund und Klavierbegleiter von Karl Kraus, der die Giehse- Nummer komponierte und sich so den Märtyrertod verdiente, der freilich dem Juden ohnehin zustand.“

    So weit die harten Worte der lebenstauglichen Erika, so weit auch mein Rundbrief. Fürchte, auch wir werden noch allerhand Härten ertragen müssen in dieser Zeit.

    Seien Sie dennoch herzlich gegrüßt. Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

    Anlagen  E. Horn: Liste Publikationen | M. Pfeifer: Betrachtungen

    E. Horn: Liste Publikationen

    Liste der Publikationen

    • Nasaridze: Natia: Goethe und Wagner-Rezeption in Thomas Manns Essaystik. Kutaissi 2005 (Monographie)
    • Nassaridze, Natia: Goethe-Rezeption in Thomas Manns Essay „Goethe und Tolstoi“. In: Beiträge der Fakultät der Europäischen Sprachen und Literatur. Kutaissi 2001, Bd. II, S. 74-80
    • Nassaridze, Natia: Wagner-Rezeption in Thomas Manns Essay „Leiden und Größe Richard Wagners“. In: Beiträge der Fakultät der Europäischen Sprachen und Literatur. Kutaissi 2003, Bd. IV, S. 3-7
    • Nasaridze: Natia: Zum Verständnis von „Artefakt“ in Thomas Manns Essay „Geist und Kunst.“ In: Beiträge der Fakultät der Europäischen Sprachen und Literatur. Kutaissi 2004, Bd. V, S. 25-28
    • Nasaridze: Natia: Goethe und Wagner-Rezeption in Thomas Manns Essaystik. In: Beiträge der historischen und philologischen Reihe. Kutaissi 2004, Bd. IV, S. 145-152
    • Nasaridze: Natia: Goethe-Bild in Thomas Manns Essays „Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters“ und „Goethes Laufbahn als Schriftsteller.“ In: Beiträge der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Kutaissi 2005, Bd. VII (II), S. 201-206
    • Nasaridze: Natia: Goethe-Bild in Thomas Manns Essays in den Jahren 1934- 1955. In: Beiträge der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Kutaissi 2005, Bd. VII (II), S. 207-215
    • Nasaridze: Natia: Beiträge der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Kutaissi 2008, Bd. X, S. 146-150
    • Nasaridze: Natia: Goethe-Bild in Thomas Manns Tagebüchern und Essays in den frühen Jahren. In: Beiträge der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Kutaissi 2007, Bd. IX, S.
    • Nasaridze: Natia: Das Wagner-Bild in Thomas Manns Essay „Phantasie über Goethe“. In: Goethe-Tage 2008. Hg. v. N. Kakauridze und D. Schäf. Kutaissi 2008, S. 23-27
    • Nasaridze: Natia: Zu Thomas Manns Demokratiebrief („Betrachtungen eines Unpolitischen“, „Von deutscher Republik“, „Deutschland und Demokratie“). In: Goethe-Tage 2011. Hg. v. N. Kakauridze und R. Ziller. Kutaissi 2011, S. 48-55
    • Tcholadze, Natia: Modulationen der abstrakten Themen-Motive im Zauberberg von Thomas Mann. In: “). In: Goethe-Tage 2021. Hg. v. N. Kakauridze und M. Bornmann. Kutaissi 2021, S. 134-151
    • Tcholadze, Natia: Die sinfonische Architektonik von Thomas Manns Der Zauberberg. In: Goethe-Tage 2021. Hg. v. N. Kakauridze und M. Bornmann. Kutaissi 2021, S. 152-161
    • Anna Khukhua: Die Funktion des „inneren Monologs“ in Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“. In: Goethe 250. Wissenschaftliche Konferenz des Rustaveli-Instituts für georgische Literatur. Merani-Verlag. Tbilissi 2001, S. 78- 83
    • Anna Khukhua: Goethe und Deutschland in Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“. In: Beiträge der Fakultät der Europäischen Sprachen und Literatur. Kutaissi 2004, Bd. V, S.337-343
    • Anna Khukhua: Die Authentizität eines Goethe-Zitats in Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“. In: Beiträge der Fakultät der Europäischen Sprachen und Literatur. Kutaissi 2004, Bd. V, S.333-341
    • Anna Khukhua: Historischer, biographischer und literarischer Kontext in Thomas Manns Essay „Goethe und Tolstoi“. In: In: Goethe-Tage 2008. Hg. v. N. Kakauridze und D. Schäf. Kutaissi 2008, S. 18-23

    M. Pfeifer: Betrachtungen

    Der Prolet und der „Stehkragen“ –
    Vergleichende Betrachtungen zu Bertolt Brecht und Thomas Mann

    Sehr verehrte Mitglieder des Ortsvereins BonnKöln der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft!

    Am 21.10. vergangenen Jahres hielt Herr Prof. Dr. Norbert Oellers einen schon lange zuvor geplanten Vortrag mit dem Titel „Bert Brecht und Thomas Mann“, der Corona-bedingt dann mehrmals verschoben -werden musste. Eine zentrale Tendenz dieses Vortrags von Professor Oellers, wie im Rundbrief Nr. 34 des Ortsvereins hervorgehoben wurde, war es dann, ein „Nicht-Verhältnis“ zwischen beiden zu konstatieren, eine Behauptung, der hier deutlich widersprochen werden soll.

    Herr Prof. Oellers beschränkte sich im Wesentlichen darauf, jeweils zwei Werke der beiden Autoren aus etwa der gleichen Entstehungszeit einander gegenüberzustellen, einmal aus der Zeit um 1930 „Mario und der Zauberer“ und „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“, aus der Zeit gegen Kriegsende dann

    „Doktor Faustus“ und „Das Leben des Galileo Galilei“ – wobei ggf. zu ergänzen wäre, dass Brecht seinen

    „Galilei“ schon zu Kriegsbeginn im dänischen Exil begann, 1943 uraufführen ließ, ihn unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki aber noch einmal aus der Schublade holte und ergänzte.

    Es hatte dabei deutlich den Anschein, dass Herr Professor Oellers die jeweils behandelten Werke ganz für sich sprechen lassen wollte, wie dies auch heutzutage hier und da in der Literaturwissenschaft betrieben und zum Prinzip erhoben wird. Aber daraus dann die These abzuleiten, Thomas Mann und Bertolt Brecht hätten untereinander grundsätzlich keinerlei Verhältnis zueinander gehabt, noch dazu kein persönliches, soll im Folgenden deutlich widersprochen werden. Denn auch ein distanziertes, kritisches Verhältnis zueinander wäre ja eines, das näher zu beschreiben wäre.

    Gerne bekunde ich in diesem Zusammenhang, dass ich als Geschichtslehrer und Nicht-Germanist mindestens ebenso sehr, wenn nicht noch stärker am Auftreten und Wirken von Schriftstellern in der Öffentlichkeit interessiert bin als an deren Werken, und demgemäß möchte ich hier also nun einige Ausführungen folgen lassen, die ganz überwiegend biografischen Darstellungen entstammen, auch was Originalzitate betrifft.1 Es sei hier auch ausdrücklich betont, dass dieser Text kein umfassend wissenschaftlicher zu sein trachtet, mir fehlt der Überblick eines echten Kenners des gesamten Schaffens der beiden und ein Überblick über einschlägige Sekundärliteratur; gleichwohl deute ich an, was bei einem solchen Vortrag für meine Begriffe zumindest hier und da wünschenswerterweise mit zu berücksichtigen gewesen wäre, und ich wurde in dem Eindruck bestärkt, dass einige andere ähnlich gedacht haben. Ausdrücklich also dazu ermuntert, diesen Text zu schreiben, hoffe ich, dass der geneigte Leser ihn zumindest bis zu einem gewissen Grad informativ und vielleicht hier und da auch unterhaltsam finden wird.

    Mann und Brecht – von denen im Übrigen gesagt wird, sie seien die bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts2 – standen über weite Teile ihrer schriftstellerischen Karriere zeit- gleich im Rampenlicht der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Allein aufgrund dieser Tatsache ist anzunehmen, dass die beiden sich zumindest von Ferne stets wahrnahmen und ggf. als Konkurrenten oder als Vertreter gleicher oder unterschiedlicher literaturästhetischer oder weltanschaulicher Positionen kritisch beäugten. Zudem darf man beiden allein deswegen zunächst ziemlich konträre Weltauffassungen unterstellen, wenn man einerseits die großbürgerliche Herkunft Thomas Manns in Betracht zieht, andererseits das dezidiert linke Image des Bertolt Brecht, der sich selbst gelegentlich wörtlich einen

    „Proletarier“3 nannte. Doch trennten die beiden Schriftsteller, die beide nicht zuletzt auch als Meinungsführer in der deutschen und später auch in der internationalen Öffentlichkeit auftraten, denn wirklich etwa in politischer Hinsicht zeitlebens Welten? Ob die beiden tatsächlich keinerlei Wert auf eine gegenseitige persönliche Bekanntschaft legten, ob die beiden sich grundsätzlich geflissentlich aus dem Wege gingen, auch diesen Fragen soll im Folgenden zumindest etwas intensiver nachgegangen werden als in Prof. Oellers‘ Vortrag.

    1 Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die Thomas Mann-Biografie von Klaus Harpprecht und die beiden Brecht-Monografi- en von Marianne Kesting (1959) und von Reinhold Jaretzky (2006).

    2 Zu einem solchen Ergebnis kam jedenfalls eine Umfrage des Allensbach-Instituts Ende der 1980er Jahre. Vgl. Harpprecht, S.17.

    3 S. Jaretzky, S.7.

    Thomas Mann, das muss eingangs zunächst hervorgehoben werden, erschien viel früher auf der literarischen Weltbühne als Brecht. Neben seinen klassischen Novellen und insbesondere den „Buddenbrooks“ machte Thomas Mann dabei nicht zuletzt mit großprotzig wilhelminischen und zudem demokratiefeindlichen und antiwestlichen Ausfällen auf sich aufmerksam, insbesondere in den während des Ersten Weltkriegs erschienenen „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Doch ging Mann nach Kriegsende bekanntlich mit der Zeit und machte eine markante weltanschauliche Kehrtwende. 1922 legte er mit einer anlässlich des 60. Geburtstags von Gerhart Hauptmann gehaltenen Rede „Von deutscher Republik“ öffentlich ein gründliches Bekenntnis zur neuen republikanischen Verfassung Deutschlands ab, ein literarisch-politisches Ereignis, dessen 100. Jahrestag ja in diesem Jahr begangen werden kann.

    Bertolt Brecht – wirklich ein Marxist?

    In dieser Zeit – also der Anfangsphase der Weimarer Republik – hatte Bertolt Brecht seinerseits auch bereits die Bühne des deutschen Kulturlebens betreten. Thomas Mann äußerte sich über diesen neuen Stern am literarischen Firmament zunächst verhalten respektvoll, indem er Brecht immerhin bescheinigte, er sei ein „starkes, aber einigermaßen nachlässiges Talent“, erst viel später sollte er dessen Kunst als „intellektualistisch“ und „bolschewistisch“ verschmähen4.

    Dabei ist Bertolt Brecht, das sei hier hervorgehoben, alles andere als ein Proletarierkind aus dem Arbeitermilieu – wie so mancher Zeitgenosse es sich vielleicht denken mag. Ganz im Gegenteil! Bertolt Brechts Vater selbst stammte zwar aus einfachen Verhältnissen und konnte nur einen Volksschulabschluss vorweisen, aber er entpuppte sich als Aufsteiger par excellence: Es sollte ihm eine beeindruckende Karriere gelingen, während der er bis zum Direktor einer Druckerei aufstieg, und in seines Vaters Sechs-Zimmer-Dienstwohnung konnte Brecht eine ziemlich privilegierte Jugend verbringen. Die Originalfassung des Brechtschen Dramenerstlings „Baal“, in seiner Zeit durchaus allgemein als anstößig angesehen, wurde auf väterliches Geheiß von einer Sekretärin der Augsburger Druckerei Haindl ins Reine getippt.5 Es mag ergänzt werden, dass Brecht auch der deutschen Novemberrevolution 1918 kritisch gegenüberstand. Den daran beteiligten roten Revolutionären warf er vor, „mit blutbefleckten, leeren Händen“ dazustehen.6

    Seinen eigenen Namen begehrte Brecht quasi kapitalismuskonform wie ein Firmenlogo zu vermarkten, und nach dem ersten literarischen Ruhm und der Publikation eines Gedichts namens „Singende Steyrwagen“ gelang es ihm doch tatsächlich, von jenem Autohersteller zu PR-Zwecken einen fabrikneuen Wagen gestellt zu bekommen. Geboren als Berthold Brecht, wandelte er seinen Vornamen in Bertolt um, um ihn in formale Übereinstimmung mit dem Vornamen Arnolt Bronnens zu bringen, seinem in jener Zeit engsten Freund und Famulus,7 einen Schritt, den Brecht vielleicht später angesichts der zweifelhaften Karriere des Herrn Bronnen bereut haben mag. Die einfache Nickelbrille, ein weiteres seiner Markenzeichen, ließ Brecht aus Titan anfertigen, seine für ihn typischen schlichten, mausgrauen Arbeiterhosen waren aus Seide gefertigt.8

    4 S. Jaretzky, S.44. 5 S. Jaretzky, S.11f. 6 S. Jaretzky, S.20. 7 S. Jaretzky, S.32. 8 S. Jaretzky, S.7.

    Insgesamt mag sich da also der Eindruck einstellen, dass Brecht jemand war, der aus der literarischen Darstellung von kapitalistischer Ausbeutung selbst Profit schlagen und nicht unbedingt an deren Beseitigung mitarbeiten wollte. Das wäre aber sicher auch ein unfaires Urteil. Zwar trat er in seinem Leben niemals der Kommunistischen Partei bei, aber wenn so viele Texte Brechts eben doch eindeutig marxistischen Geist verströmen, so liegt das nicht zuletzt daran, dass er sich spätestens etwa seit 1926 intensiv mit der marxistischen Lehre auseinandersetzte und zu diesem Zweck auch eine entsprechende Bibliothek einrichtete. Ein Besuch im stalinistischen Russland 1935 ließ ihn tief beeindruckt in die Heimat zurückkehren. 1941, auf der Durchreise durch die UdSSR, charakterisierte er die Elite der Sowjetunion indessen als „verbrecherische Clique, die eine Diktatur ‚über‘ das Proletariat “ errichtet habe.9

    Rezeption in der Sowjetunion – anders als man denken mag

    Eine Ironie der Literaturgeschichte besteht nun darin, dass die 1934 von sowjetischer Seite verordnete sogenannte Realismus-Doktrin die Romane Thomas Manns in ihren verbindlichen Kanon ausdrücklich mit aufnahm, wohingegen Bertolt Brecht darin gänzlich unerwähnt blieb, was den schmählich Vernachlässigten durchaus sehr gekränkt hat. Ohne öffentlich in dieser Sache aufzutreten, entwickelte Brecht im Privaten eine Gegenposition zu dieser sowjetischen Doktrin.10 Als Mastermind hinter dieser marxistischen Literaturtheorie kann übrigens der ungarische Literaturwissenschaftler Georg Lukacs verortet werden,11 von dessen Physiognomie kolportiert wird, sie sei Vorbild für den Leo Naphta im „Zauberberg“. War hier also der „Zauberberg“ der entscheidende Grund – bzw. war gar mehr oder weniger bewusst auch persönlicher Dank im Spiel?12

    Von der unterschiedlichen Art, Texte unterschiedlicher Art zu produzieren

    Wenn man sich nun einmal vergleichend einen allgemeinen Eindruck von der Art der jeweiligen schriftstellerischen Produktion der beiden verschafft, kann einerseits festgestellt werden, dass Thomas Manns Hauptwerke ganz überwiegend dem Genre des Romans und der Erzählung angehören, während Brechts Schwerpunkte bekanntermaßen auf dem Drama und der Lyrik liegen, so dass beide sich eigentlich gar nicht als direkte Konkurrenten auffassen mussten.

    Auch die Art des jeweiligen Schaffensprozesses unterscheidet sich deutlich: Thomas Mann zog sich stets in sein außerordentlich luxuriös ausgestattetes Arbeitszimmer zurück, um an seinen Texten zu arbeiten, bis er ihnen schließlich den idealen finalen Schliff zu geben vermochte – seinen Familienangehörigen und Bediensteten war eine Störung dieses Arbeitsprozesses strengstens verboten. Demgegenüber war der Schreibprozess Brechts sehr regelmäßig ein kollaborativer, ja er entwickelte viele seiner Texte im Freundeskreis auch mithilfe von spontanen Ideen seiner Freunde und Gäste – und so manches seiner Werke steht bekanntlich sogar im Ruf, von der einen oder anderen Lebensgefährtin zu nicht unbedeutenden Anteilen fertiggestellt worden zu sein. Als ein besonders extremes Beispiel mag das Stück

    „Happy End“ dienen: Eine Art Nachfolgewerk im Stil der weltweit erfolgreichen „Dreigroschenoper“, schrieb Brechts Lebensgefährtin Elisabeth Hauptmann dies quasi in dessen Auftrag, Brecht steuerte lediglich einige Songtexte dazu bei, die allerdings immerhin ihrerseits einen legendären Ruf genießen, etwa das vom Surabaya-Johnny. Gleichviel, das gesamte Werk wird bis heute insgesamt als das seinige betrachtet.13

    Wie Brecht trug übrigens auch Thomas Mann – das sei kurz ergänzt – von seinen im Entstehen begriffenen Texten bereits vor der Veröffentlichung weitgehend fertige Passagen im privaten Kreis vor, allerdings war der kreative Prozess dann in der Regel schon weitgehend abgeschlossen, und Thomas Manns Publikum bestand dabei – ganz im Gegensatz zu dem Brechts – nur aus seinem engsten Familienkreis, dessen spontane Reaktionen Thomas Mann – ein talentierter Vorleser – dabei gerne austestete.

    9 S. Jaretzky, S.66, S.83f., 102.

    10 S. Jaretzky, S.94.

    11 Ebd.

    12 S. A. Grenville: “Linke Leute von rechts“; in: Hans Rudolf Vaget (Hg.): „Thomas Mann’s Magic Mountain“ , London 2008, S.145.

    13 S. Jaretzky, S.59.

    Persönliche Bekanntschaft, Erfolg und Misserfolg im Exil

    Was persönliche Kontakte zwischen Bertolt Brecht und Thomas Mann betrifft, so vermerkt Klaus Harpprecht, Verfasser einer der ausführlichsten Biografien über Thomas Mann, keinerlei Anekdote von einer etwaigen persönlichen Begegnung beider während der Zeit der Weimarer Republik – etwa in München, obwohl beide doch dort ja zeitgleich eine gewisse Zeitlang lebten bzw. arbeiteten. Zweifellos ergaben sich dort aber bedeutende persönliche Bekanntschaften im persönlichen Umfeld beider, das prominenteste Beispiel wohl die persönliche Freundschaft zwischen Therese Giehse und Erika Mann. Die Giehse wirkte seit Ende der Zwanziger Jahre unter Brechts Regie in der Dreigroschenoper mit und war ihm ihr Leben lang verbunden, und andererseits betrieben die Giehse, Erika und Klaus Mann einige Jahre lang das Münchener Kabarett der Pfeffermühle, mit dem man aber schon kurz nach dessen Gründung 1933 gemeinsam ins Schweizer Exil umziehen musste. Auch Erika Mann und Therese Giehse blieben sich ihr Leben lang eng verbunden. Nachgewiesenermaßen kam es aber auch zwischen Thomas Mann und Bertolt Brecht selbst zu privaten Kontakten bis hin zur persönlichen Bekanntschaft, die sich im amerikanischen Exil ergaben. Förderlich dafür war, dass beide in unmittelbarer Nachbarschaft in Los Angeles lebten.

    Beide hatten sich zuvor dezidiert gegen Hitler positioniert, Brecht floh am 28.2.1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, ins Ausland, zunächst nach Dänemark, und er gelangte nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges über die UdSSR 1942 nach Amerika. Thomas Mann warb seinerseits gegen Ende der Weimarer Republik noch lautstark für die Demokratie, etwa 1930 in seiner vielbeachteten Rede

    „Appell an die Vernunft“. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten überraschte ihn dann während einer Vortragsreise durch die Schweiz, wo er sich dann einige Jahre in Küsnacht bei Zürich niederließ, bis die Manns 1938 endgültig in die USA auswanderten.

    Während Thomas Mann sich dabei schließlich im vornehmen Stadtteil Pacific Palisades niederließ, wo er sich scheinbar relativ unbefangen seiner Schriftstellerexistenz widmen konnte, suchte Bertolt Brecht stets die Nähe der Filmstudios von Hollywood, um dort etwa Aufträge für Drehbücher zu erhaschen. Ihm sollte dabei nur bescränkter Erfolg beschieden sein. „Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen, gehe ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden. Hoffnungsvoll reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer.“ Immerhin gelang Brecht ein Publikumserfolg mit der Drehbuchvorlage zum Film „Hangmen also die“, der auf die Ermordung von Reinhard Heydrich in Prag anspielt, Stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren und Leiter der Wannsee-Konferenz. Weiterer finanzieller Erfolg war Brecht durch die gelegentliche Mitarbeit mit Lion Feuchtwanger beschieden. Brecht durfte sich so schließlich auch Besitzer eines kleinen Hauses nennen und konnte sich einige Reisen nach New York leisten.14 Marianne Kesting berichtet in ihrer bereits gegen Ende der 50er Jahre erschienenen Biografie nun von einem Lese-Club, zu dessen regelmäßigen Teilnehmern neben Thomas und Heinrich Mann und etwa Franz Werfel auch Bertolt Brecht gehört habe.15 Unter diesen deutschen Exilanten in Kalifornien soll aber nicht immer unbedingt eine Atmosphäre einträchtiger Harmonie und Solidarität geherrscht haben. Der Brecht-Biograf Reinhard Jaretzky spricht jedenfalls von erheblichen Spannungen und einem

    „Markt bösartiger Anfeindungen“, auf dem die Kreativen sich gegeneinander zu behaupten und ihr jeweils eigenes Profil zu schärfen suchten: Nicht zuletzt nahm auch Brecht aktiv seinen Anteil daran. So war er sich nicht zu fein, gegen die dem Marxismus durchaus nahestehende, aber äußerst wohlbetuchte Mannschaft des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“ zu sticheln. Und auch über Thomas Mann mokiert sich Brecht, der seinen eigenen Bruder Heinrich hungern lasse, während der jüngere Bruder Thomas sich einen aus mehreren Wagen bestehenden Fuhrpark leiste.16

    14 S. Jaretzky, S.118f.

    15 S. Kesting, S.109.

    16 S. Harpprecht, S.1360.

    Dass Thomas Mann im Exil in der Tat in finanzieller Hinsicht deutlich besser dastand als sein Bruder Heinrich und auch als Brecht, lag zum einen sicher am Ruhm, der sich aus seinem Nobelpreis ergab, und der eher bürgerlichen Ausrichtung seiner Schriften. Und dass der von Brecht bemitleidete Heinrich Mann quasi am finanziellen Tropf seines jüngeren Bruders hing, lag zum Beispiel daran, dass Heinrich Mann, dessen Bücher sich insbesondere in der Sowjetunion durchaus gut verkauften, von dort nicht angemessen entlohnt wurde, denn die zuständigen Stellen in der UdSSR zeigten sich sehr zögerlich, Devisen zu überweisen, auch nachdem Thomas Mann bei sowjetischen Stellen für seinen Bruder vorstellig wurde. 17

    Thomas Mann hingegen bezog sogar zumindest zu Beginn der NS-Zeit weiterhin Tantiemen aus Deutschland, wenn auch in eher bescheidenem Umfang, vor allem aber gelang es ihm, in den USA schnell zu einer von der Öffentlichkeit stark wahrgenommenen Figur aufzusteigen und sich selbst quasi in der Nachfolge Goethes als eigentlicher Repräsentant deutscher Kultur zu inszenieren, frei nach dem bekanntermaßen effektvoll vermarkteten Motto „Wo ich bin, ist Deutschland!“18 Doch gelang ihm der Aufbau eines solchen öffentlichen Images freilich nicht ganz von allein. Protegiert und bei weitem nicht nur in finanzieller Hinsicht massiv unterstützt wurde Mann in den USA von einer gewissen Agnes Meyer, einer begeisterten Leserin der „Buddenbrooks“, die selbst Tochter von Einwandern aus Deutschland war, aber zudem und vor allem auch Gattin des Besitzers der Washington Post, einer der renommiertesten Tageszeitungen der USA. Agnes Meyer war maßgeblich daran beteiligt, Thomas Mann lukrative Angebote für öffentliche Gastvorträge etwa an namhaften Universitäten zuzuschanzen. Nicht zuletzt durch die auf diese Weise gewonnenen Kontakte wurde Mann auch zweimal ins Weiße Haus geladen, er begegnete dabei jeweils Präsident Roosevelt persönlich. Außerdem vermittelte man ihm einen lukrativen Posten an der Library of Congress in Washington, wo er dann in der Öffentlichkeit vielbeachtete jährliche Vorträge zu halten hatte. Dieser Aufgabe widmete er sich bis 1952. 19 In diesem Rahmen konnte er zum Beispiel sein eigenes, im Exil entstandenes Werk „Joseph und seine Brüder“ der Öffentlichkeit vorstellen (1942), unmittelbar nach der deutschen Kapitulation hielt er seinen wegweisenden Vortrag „Deutschland und die Deutschen“ und 1949 sprach er zum Thema „Goethe und die Demokratie“.20 – Ja, Mann galt schließlich in den USA als so objektive Autorität in Sachen Deutschtum, dass Auszüge aus der ebenfalls im Exil entstandenen „Lotte in Weimar“, insbesondere Goethe in den Mund gelegte, abfällige Äußerungen über die Mentalität der Deutschen, irrtümlicherweise als Goethes Originalzitate aufgefasst, als Beweismaterial bei den Nürnberger Prozessen eingesetzt wurden.21

    Im Angesicht der nahenden Kapitulation Deutschlands und angesichts der Gewissheit über die bestialischen Gewaltakte der Deutschen in Kriegsgebieten und Konzentrationslagern hatte Mann indessen an – dere Landsleute aufwühlende, vor den Kopf stoßende Phantasmagorien über notwendige Strafgerichte an den Deutschen formuliert. Brecht notierte dazu: „Als Thomas Mann vorigen Sonntag, die Hände im Schoß, zurückgelehnt sagte: ‚Ja, eine halbe Million muss getötet werden in Deutschland‘, klang das ganz und gar bestialisch. Der Stehkragen sprach.“22 Harpprecht macht in Thomas Manns Tagebüchern und seinem öffentlichen Gebaren dieser Zeit immer wieder widersprüchliche Tendenzen und makabre Gewaltphantasien aus.

    17 S. Harpprecht, S.1240-42.

    18 S. https://www.deutschlandfunk.de/wo-ich-bin-ist-deutschland-100.html

    19 S. Harpprecht, S.2239f. (Namensverzeichnis)

    20 S. https://blogs.loc.gov/international-collections/2020/12/thomas-mann-and-the-library-of-congress/

    21 S. Harpprecht, S.1577.

    22 S. Harpprecht, 1360.

    Herr Baumgärtner wies in seinem Rundbrief Nr. 34 seinerseits ja bereits auf unsensible Äußerungen Thomas Manns über die innerdeutsche Opposition gegen Hitler hin, etwa was den Münsteraner Bischof und Kardinal Clemens August von Galen betrifft. – In einem sicherlich gleicher – maßen fragwürdigen rhetorischen Ausfall seinerseits beklagte Bertolt Brecht nun, dass das deutsche Volk „nicht nur die Untaten des Hitler-Regimes, sondern auch die Romane des Herrn Mann geduldet“ habe,23 Manns Roman „Joseph und seine Brüder“ bezeichnet Brecht als eine „enzyklopädie des bildungsspießers“.24

    Derlei überspannt zynische Rhetorik darf sicher als unfair eingestuft werden, bemühte sich doch Thomas Mann beispielsweise Ende der dreißiger Jahre mit anderen darum, Bertolt Brechts ehemalige Geliebte, die Schauspielerin Carola Neher, aus einem sowjetischen Gulag zu befreien, wenn auch letztlich erfolglos. Andere Versuche Thomas Manns, sich schriftlich oder mit Geldbeträgen um Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland zu bemühen, waren indessen Legion. Katia Mann half engagiert dabei mit.

    Überhaupt ist die ideologische Distanz zwischen Mann und Brecht zumindest in dieser Zeit als deutlich geringer anzusehen als viele mutmaßen mögen. Denn trotz seines auch in den USA großbürgerlichen Lebensstils und Auftretens ist Thomas Mann eben doch auch unbedingt wirklich als ein ernsthafter Verehrer des ziemlich fortschrittlich eingestellten US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt anzusehen, insbesondere lobte er dessen wegweisende Sozialgesetzgebung im Rahmen dessen Regierungsprogramms des New Deal. Im Jahre 1943 warb Thomas Mann in seiner ebenfalls in der Library of Congress gehaltenen Rede „The War and the Future“ zudem sogar explizit für einen Ausgleich zwischen den Ideologien und des Westens und der Sowjetunion.25

    Da mag man sich dann eigentlich wundern, warum sich Thomas Mann kurz zuvor im Sommer 1943 denn geweigert hatte, eine Erklärung über eine nach dem Kriege zu erhoffende Demokratisierung Deutschlands zu unterzeichnen, die vom Moskauer Nationalkonvent „Freies Deutschland“ entworfen worden war, worauf Herr Baumgärtner in seinem Rundbrief auch hinwies. Diese Weigerung stieß insbesondere Brecht vor den Kopf, zumal er sich darüber im Klaren war, dass Thomas Mann sich bei anderer Gelegenheit durchaus auch von den Sowjets gerne hofieren ließ, so dass die von Thomas Mann kolportierte Meinung, man dürfe die westlichen Alliierten mit so einer Moskauer Erklärung nicht vor den Kopf stoßen, Brecht als wenig glaubwürdig erscheinen musste.26 Hier muss wohl Thomas Manns persönliche Eitelkeit als Großschriftsteller eine zentrale Rolle gespielt haben, eine Art Singularitäts- bzw. Alleinvertretungsanspruch, was deutsche Belange anbetrifft, so dass er sich einfach nicht einreihen wollte in eine Gruppe von seiner Einschätzung nach weniger namhaften Kollegen seiner Zunft.

    Hadern mit Amerika

    Nach des Präsidenten Tod im April 1945 jedenfalls, insbesondere seit Beginn der systematischen Kommunistenhatz unter Führung des republikanischen Senators Joseph McCarthy, kühlt Thomas Manns Begeisterung für die USA in sehr ähnlicher Weise ab wie die Bertolt Brechts. Im Familienkreis, in dem Erika Mann in dieser Zeit praktisch die Funktion der Privatsekretärin ihres Vaters eingenommen hat, wird beraten, ob man allzu aggressive Spitzen aus den Manuskripten zu öffentlichen Verlautbarungen streicht oder eine Veröffentlichung sogar ganz unterlässt, um diensteifrig Wogen zu glätten bzw. um etwaige Aufregungen zum eigenen Schaden zu vermeiden.27

    23 S. Jaretzky, S.123.

    24 S. Harpprecht, S.1360.

    25 S. https://blogs.loc.gov/international-collections/2020/12/thomas-mann-and-the-library-of-congress/

    26 S. Harpprecht, S. 1359.

    27 S. z.B. Harpprecht, S.1774-78.

    Bertolt Brecht bekommt den sich im Zeichen des bald angebrochenen Kalten Krieges schnell breitmachenden extrem antikommunistischen Zeitgeist eher und deutlich stärker zu spüren als Mann selbst: Brecht musste sich nämlich bereits 1947 einem gefürchteten öffentlichen Hearing des Ausschusses für unamerikanische Umtriebe stellen – wobei er sich übrigens recht schlagfertig und rhetorisch geschickt aus der Affäre ziehen konnte. Doch wenn ihm selbst so etwas zwar auch erspart bleibt, so musste sich Thomas Mann doch letztlich ganz ähnlich angegriffen fühlen, als er 1951 im US-Repräsentantenhaus öffentlich als „einer der weltweit bedeutendsten Verteidiger von Stalin und Genossen“ denunziert wur- de, indem man z.B. auf seine Äußerungen von 1943 in seiner Rede „The War and the Future“ verwies.28

    So kehren Bertolt Brecht und Thomas Mann letztlich gleichermaßen desillusioniert aus den USA nach Europa zurück, Bertolt Brecht früher als Mann, der schon Ende der 40er Jahre ausreist. Nicht zuletzt aufgrund mangelnder Alternativen lässt er sich in Ost-Berlin nieder, übrigens als österreichischer Staatsbürger, einen Status, den er aufgrund Helene Weigels Wiener Herkunft ergattern konnte und mit dem er anscheinend ein Gefühl zusätzlicher persönlicher Sicherheit verband. Er schließt seinen Frieden mit der DDR-Führung und wird 1954 schließlich Chef des Berliner Ensembles, wo man ihm vergleichsweise viele Freiheiten lässt. Mit diesem Team heimste er auch in den letzten zwei Jahren seines Lebens noch internationale Erfolge ein, etwa mit einer Inszenierung der „Mutter Courage“, für die man ihm beim Festival de Paris den ersten Preis verlieh. 1955 nahm er noch – wohl oder übel – den von Stalin gestifteten Internationalen Friedenspreis an, nachdem sich Thomas Mann dann doch geziert hatte, eine solche Auszeichnung anzunehmen. Loyal gegenüber der DDR-Führung verhält sich Brecht auch nach dem 17. Juni 1953. Er hatte sein Berliner Ensemble zwar auf solidarische Gesten mit den Aufständischen eingestimmt, die aber weitgehend ungehört verhallten. Seine Hoffnung auf ein ideologisches Um – denken der Staatsführung sollte sich zu seinen Lebzeiten nicht mehr erfüllen.29

    Thomas Mann seinerseits war endgültig erst 1952 wieder in die Schweiz zurückgekehrt. Doch zuvor hatte er bereits 1949 eine öffentliches Aufsehen erregende Reise in sein ursprüngliches Heimatland unternommen, die vor allem im Zeichen des 200. Goethe-Geburtstags stand. Bei vielen Westdeutschen setzte er sich indessen nun damit in die Nesseln, dass er nicht nur in Frankfurt, sondern eben auch im ostdeutschen Weimar an den Goethe-Feierlichkeiten teilnahm und damit auch hier implizit für eine Wiederannäherung der beiden Machtblöcke vor dem Hintergrund des sich ausbreitenden Kalten Krieges warb. Doch sollten auch Thomas Manns diesbezügliche Wünsche zu Lebzeiten nicht in Erfüllung gehen. Ziemlich genau ein Jahr vor Brecht schied er 1955 in Kilchberg bei Zürich aus dem Leben.

    So musste beider Leben in tiefer Enttäuschung und Desillusionierung enden, was die Entwicklung der weltpolitischen Lage betrifft. Brechts Zwangslage, sich einerseits mit seiner Staatsführung, die ihm immerhin einiges an Privilegien eingeräumt hatte, arrangieren zu müssen, andererseits damit aber seine intellektuelle und moralische Unabhängigkeit insbesondere nach 1953 zu kompromittieren, muss gegen Ende seines Lebens stark an ihm genagt haben. Thomas Mann mit seinem so manches Mal anmaßend penetranten Autoritätsdünkel muss seinerseits darunter gelitten haben, dass, wenn auch seine Anhängerschaft in beiden Teilen Deutschlands weiterhin bedeutend gewesen sein mag – wie bei seinem Deutschland-Besuch 1949 überdeutlich wurde, seine moralische Autorität in politischen Fragen in einem Deutschland der Kalten Krieger eben doch ein politischer Mainstream in Frage stellte – wobei nicht wenige noch nicht einmal bereit waren, ihm sein Renegatentum in der NS-Zeit zu vergeben.

    In weltanschaulicher Hinsicht eigentlich gar nicht so weit auseinander, hätte aber sicherlich auch ein stärkeres Aufeinanderzugehen oder gar gemeinsames Auftreten beider in der Öffentlichkeit wenig bewirkt – angesichts des weltpolitischen Szenarios, in dem diese beiden Deutschen keine durchschlagende Rolle mehr zu spielen hatten.                                                                       

    Marcus Pfeifer

    28 S. https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/1085322; Vgl.. auch https://blogs.loc.gov/international-collections/2020/12/tho- mas-mann-and-the-library-of-congress/

    29 S. Jaretzky, S.135-141, KestingS.160.

  • Rundbrief Nr. 36



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    ich sehne den Tag herbei, an dem ich meine Rundbriefe nicht mehr mit dem Thema Corona beginnen muß. Vielfältige Vortragsprojekte haben sich angesammelt, aber ich wage es noch nicht, konkrete Raum- und Terminfestlegungen zu treffen. Auf die Projekte gehe ich später im Einzelnen ein, zunächst müssen wir Administratives ins Auge fassen: Eine Jahresmitgliederversammlung steht an. Die Kassenprüfung haben dankenswerterweise wieder Dr. Agnes und Axel Volhard übernommen und mir eine ordnungsgemäße Abrechnung bescheinigt. Die Versammlung werden wir hybrid abwickeln müssen. Ein kleiner Kreis (Vorstand, Protokollführer, einige Mitglieder) wird sich in meinem Büro oder im Haus der Schlaraffia treffen und von dort die Online-Konferenz leiten. Frau Kirsten Huppertz wird die entsprechende Einladung vorbereiten, vorab machen wir einen Probelauf, damit die Sache dann auch glatt läuft. Aus privaten Gründen meinerseits wird die Veranstaltung erst Mitte / Ende Februar stattfinden können. Es sind eine ganze Reihe von Dingen zu besprechen, daher wäre eine große Teilnehmerzahl erfreulich. Meine Fragen im Vorfeld mit der Bitte um Rückmeldungen: Haben Sie bereits Erfahrungen mit dieser Form von Online-Sitzungen? Würden Sie an der Jahresversammlung in dieser Form teilnehmen? Ich kann Ihnen versichern: Es ist ungewohnt aber es funktioniert recht gut. Die Vorstandssitzungen unserer Gesellschaft finden seit fast zwei Jahren in dieser Form statt und haben ihr schon viele Reisespesen erspart. (Daß ich die Reisekosten liebend gerne selbst übernähme und mit den Kollegen im Anschluß an die Sitzung noch gerne ein Bier trinken würde, steht auf einem anderen Blatt.)

    Nun zu erfreulicheren Dingen: Ich hatte im letzten Brief meine Teilnahme an der Tagung in der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg angekündigt, die unter dem Titel

    MannsBilder – Mediale Darstellung und Wahrnehmung der Familie Mann

    dort stattfand. Von unseren Mitgliedern war auch Frau Dr. Reinhard zugegen. Sie ist eine erfahrene Kursteilnehmerin der Thomas-Morus-Akademie, einem perfekt ausgestatteten Tagungshaus mit modernen Hotelzimmern, einer prächtigen Sicht auf Köln und einem ordentlichen Restaurant, in dem ein strenges Corona-Lüftungs-Regiment gepflegt wurde, weshalb wir zum Frühstück dann im Mantel erschienen. Wie dem auch sei: Erkundigen Sie sich nach deren Kursprogramm – es lohnt sich.

    Zwei Vorträge möchte ich hervorheben:

    Zum einen jenen des noch recht jungen Professors Dr. Thomas Wortmann. Er berichtete über die Statussymbole von Thomas Mann und machte dies fest an der frühen Erzählung ‚Eisenbahnunglück‘, die einen weit weniger dramatischen Verlauf nimmt, als der Titel vermuten läßt, schildert sie doch eine Begebenheit, die TM 1906 selbst erlebt hatte. Herr Wortmann, in Mannheim lehrend aber aus dem Rheinland stammend, ist bei aller Wissenschaftlichkeit mit einem humorvollen Redefluß gesegnet. Es war erstaunlich, wie er mit seinem germanistischen Analysebesteck diesen kurzen Text zergliederte und erstaunliche Erkenntnisse zutage förderte. Im Nachhinein fragte ich ihn, ob er bereit sei, diesen Vortrag auch in Bonn zu halten und er stimmte sofort zu.

    Zum anderen war uns aus Berlin Dr. Tim Lörke überlebensgroß auf der Leinwand zugeschaltet. Er ist dem einen oder der anderen sicher von den Thomas-Mann-Tagungen bekannt. Sein Vortrag beleuchtete das Tagungsthema am umfassendsten: Wie Thomas Mann mit den Medien umging, sich ihrer bediente zum eigenen Zwecke, zur Darstellung seiner selbst. Es gelang ihm vorzüglich, Thomas Manns Spagat zwischen Bürger- und Künstlertum zu schildern, seinen Anspruch ‚Avantgarde‘ sein zu wollen und zugleich vom breiten Volk gelesen zu werden; er wollte ökonomisch erfolgreich sein und zugleich anerkannt in literarischen Kreisen. Hierbei legte er immer Wert darauf, in den Journalen korrekt abgebildet zu werden. Der Saal war begeistert (ca. 40 Teilnehmer) und auch hier mußte ich beim Referenten natürlich die Frage loswerden, ob er im Sommer denn mal aus Berlin in die alte Hauptstadt kommen wolle – und auch Tim Lörke stimmte sofort zu. Er will auch meiner Bitte entsprechen, für seinen Vortrag einen anderen Titel zu finden: „Hitze und Kälte, Melancholie und Betulichkeit – Thomas Manns produktive Rezeptionssteuerung“ ist nicht dafür angetan, die Massen aus den Lesesesseln zu locken.

    Aufgrund der großen Bekanntheit von Dr. Tim Lörke möchte ich gerne einen größeren Saal für seinen Vortrag suchen – alles natürlich unter dem Corona-Vorbehalt. Der Uni-Club oder der Saal des evangelischen Verwaltungsverbands kämen dafür infrage. In Bensberg lernte ich auch Vertreter der LESE kennen, der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft, gegründet 1787. Auch sie beklagen einen Mangel an Jugend in ihren Reihen, möchten aber nichts unversucht lassen, ihre Idee einer bürgerlichen Bildungsgesellschaft in die Zukunft zu tragen. Da die Interessengebiete unserer Mitglieder fraglos große Schnittmengen aufweisen, vereinbarten wir, uns zukünftig wechselseitig zu unterstützen und gemeinsame Veranstaltungen ins Auge zu fassen. Mit Tim Lörkes Vortrag zu Thomas Manns Umgang mit den Medien, werden wird den Anfang machen.

    In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen diese Postkarte zeigen, die unser Mitglied Frau Jutta Hartmann mir aus Lübeck schickte. Schon dieses wundersam aus der Mode gekommene Wort „Ansporn“ elektrisierte mich; und dann: „Zeitschrift für Vorwärtsstrebende“. Für beides gibt es heute sicher prima Anglizismen. Aber was steckte dahinter? Was war Inhalt dieser Hefte? Hatte Thomas Mann darin einen Text verfaßt? Oder – um sogleich einen Anglizismus zu verwenden – hatte man ihn nur als Cover-Boy gebraucht: eindringlich, entschlossen und, tatkräftig blickend?

    Für kleines Geld erhielt ich von einem Antiquariat zwei schwere, in Leinen gebundene Sammelbände des Jahrgangs 1930 dieser damals monatlich er- scheinenden Unternehmer-Zeitschrift. Ein Text von Thomas Mann findet sich nicht darin, aber eine gewisse Frau Dr. phil. Elisabeth Sommer singt ein hohes Lied auf den Sproß einer erfolgreichen Kaufmannsfamilie, der deren Stammbaum mit dem Nobelpreis bekrönte, eine durchaus lesenswerte Kurzbiographie. Was findet sich noch in diesem Heft? „Tüchtige Werbedamen gesucht“ ist ein Text überschrieben, oder „Praktische Winke für die Zwangsvollstreckung“ Eine zeitgemäße Büroausstattung wird vorgestellt, auch ein modernes Unternehmen der Glasproduktion. Und am Ende jeden Heftes gibt es als Fortsetzung „Sprachübungen“ – in Englisch, Französisch und Spanisch! Aber, und das sei hervorgehoben: Der Leitartikel eines jeden Hefts stellt einen herausragenden Künstler, Ingenieur oder Politiker vor. So wird die ‚Puppenmutter‘ Käthe Kruse präsentiert, aber auch George Washington, Wilhelm Röntgen und Hans Christian Andersen. Das Unternehmertum sah sich untrennbar mit der internationalen Kultur verbunden und hob dies auch hervor. Buchenswert!

    Im letzten Rundbrief habe ich ausführlich das freundschaftliche Verhältnis Thomas Manns zu Hans Reisiger alias Rüdiger Schildknapp geschildert. Auf Hans Reisiger neugierig geworden, besorgte ich mir noch seine 1952 erschienene Erzählung ‚Aeschylos bei Salamis‘, von der er schon im Herbst 1949 Thomas Mann erste Kapitel zu lesen gab, der diese als „ernst, nobel, klug, menschlich warm und dichterisch gehoben“ bezeichnete, bevor er das Buch im Herbst 1952 zur Gänze zu lesen bekam und er eine Eloge darauf anstimmte. Die Bezeichnung ‚Erzählung‘ sei zu bescheiden, es handle sich vielmehr um ein „Gedicht, einen Gesang, ein hochgestimmtes, mitreißendes, farbenreiches, von sinnigen, tiefgeführten Apercu über das Menschliche durchwobenes Lied…“

    Der Ton der Erzählung ist wahrlich ein sehr hoher und heutigen Lesern kaum noch zumutbar. Man kann das Ganze verstehen als einen Lobgesang auf eine zivile, wehrhafte und demokratische Gemeinschaft, eine Mahnung an die Bürger der noch ganz jungen Republik. Nicht umsonst steht Aischylos im Mittelpunkt und nicht die Kriegsherren; Xerxes wird vom Welteroberer zur Witzfigur auf dem Pfauenthron und nicht zufällig ist auch der junge Perikles mit von der Partie, der Aischylos gegenüber bedeutsam sagen darf: „…so bekenne ich, daß mir der Friede die erstrebenswertere und auch die schwerere Aufgabe scheint, die dem Menschen gestellt ist.“ Und Aischylos resümiert gegen Ende: „Aber es hat sich soeben wieder gezeigt, wohin es führt, wenn die Macht nicht Maß zu halten weiß und nicht mit Einsicht gepaart ist.“ (Sehr vornehme gehaltene Hinweise an die deutschen Leser von 1952) Man kann mit dem Buch seine Kenntnisse der altgriechischen Geschichte wieder auffrischen, aber für junge Leser müßte es tüchtig durchgepustet werden.

    Ein weiterer Nachtrag zum letzten Rundbrief: Ich hatte von Werner Oellers‘ Roman ‚Die neuen Augen‘ berichtet. Nun habe ich auch den 1939 erschienen Roman ‚Die Gewalt der Waffen‘ gelesen – und bin wieder begeistert. Dessen Titel ist unglücklich gewählt, wurde aber von Oellers nochmals überarbeitet und erschien 1942 mit noch deutlicheren autobiographischen Bezügen unter dem Titel ‚Das beharrliche Leben‘. Dieser zweite Titel paßt jedenfalls besser zur Geschichte: Dem Erwachsenwerden von zwei Jungen während des Ersten Weltkriegs. Gewalt, Krieg und Waffen finden nur in weiter Ferne statt. Die Jungs erleben die Auswirkungen des Kriegs auf ihre Familie, ihr Dorf: Der Vater wird eingezogen, viele Lehrer auch, Lebensmittel werden knapp, die ersten Frauen gehen schwarz gekleidet durch die Straßen, es gibt kein Gummi mehr für die Fahrradreifen, die Felgen werden mit Holz beschlagen, erste Kriegsversehrte kehren heim, ein russischer Zwangsarbeiter ist ein netter Kerl… Kein Wort gegen den Krieg, aber ein Buch darüber, daß in einem Kriege alle Seiten nur verlieren.

    Zum Abschluß kommt mir in dieser gedrückten Stimmung des Nicht-agieren-Könnens ein Satz Thomas Manns aus einem Brief an Agnes Meyer in den Sinn: „Immer habe ich eine Vorliebe gehabt für Andersens Märchen vom ‚Standhaften Zinnsoldaten‘. Es ist im Grunde das Symbol meines Lebens.“ (9.2.55) Womit ich bei dem hoffnungsvollen Blick in unseren Kühlschrank der Veranstaltungen angekommen bin. Frauke May ist in Vorbereitung ihres LIEDeraturabends zu Hans Christian Andersen, Tobias Schwartz brütet in Berlin über seinem Vortrag ‚Mein Thomas Mann‘ und der Vorstellung von Morpho Peleides umrahmt von Schmetterlingen im Museum Koenig, über Wortmann und Lörks habe ich oben ausgiebig berichtet, Herr Prof. Susmann aus Rußland will uns etwas zu Thomas Mann und die russische Literatur erzählen und auch der Vortrag von Prof. Wißkirchen zu Thomas Mann und Hermann Hesse ist nicht vergessen, wie auch der Abend mit Prof. Di Fabio und der Deutschen Ansprache. Gerade den letzten beiden wollen wir volle Säle bieten. Um all dies zu schultern werde ich im Sommer Unterstützung brauchen.

    Daher wird unsere Jahresversammlung von großer Wichtigkeit sein.

    Seine Sie herzlich gegrüßt. Auf bald Ihr Peter Baumgärtner

  • Rundbrief Nr. 35 + Anlagen W. Oellers: Rettung der Seelen  | Quasner: Glosse Folge 1



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    in meinem letzten Rundbrief blickte ich noch mit einem besorgten Auge auf die Entwicklung der Corona-Pandemie und nun sitzen wir wieder mitten drin und allein mit unseren Büchern zu Hause. Zum Glück sind noch nicht alle kulturellen Veranstaltungen abgesagt und wer hinreichend geimpft und getestet ist, möge diese auch aufsuchen: Die Künstler und Veranstalter werden es Ihnen danken. Ich habe mich für das kommende Wochenende bei der Thomas-Morus-Akademie Bensberg angemeldet zur Veranstaltung:

    MannsBilder – Mediale Darstellung und Wahrnehmung der Familie Mann

    Ich will hoffen, daß alles nach Plan stattfindet und werde im nächsten Rundbrief berichten.

    Nachlese zum Vortrag von Prof. Norbert Oellers zu Bert Brecht und Thomas Mann:

    Es wurde vielfach bemängelt, daß das persönliche Verhältnis der beiden Herren zueinander zu kurz kam. Unser Ortsvereinsmitglied Marcus Pfeifer hat sich daher dazu entschlossen, einen kleinen ergänzenden feuilletonistischen Aufsatz zum Thema Brecht- Mann zu schreiben, mit dem bewusst etwas provokativen (Arbeits-) Titel „Der Prolet und der ‚Stehkragen’“. Wir sind gespannt. Wer dem Vortrag nochmals lauschen möchte, kann dies an seinem Rechner tun unter dem Link: https://youtu.be/HS96iJVBlvE Frau Huppertz wird diesen auch auf unserer Homepage einrichten.

    Ich habe auch von dem erbosten Text geschrieben, den der Vater von Norbert Oellers im Sommer 1945 wider Thomas Mann verfaßt hatte. Ich bin mittlerweile zu der Ansicht gelangt, daß eine Gegenüberstellung der beiden Texte ‚Die Lager‘ von Thomas Mann und ‚Rettet die Seelen‘ von Werner Oellers keinen Abend trägt. Darüber ist nicht viel zu reden, da kann man nur betroffen schweigen. Den Text von Werner Oellers finden Sie im Anhang. Sein Zorn machte seine Sprache holprig. Neugierig geworden bestellte ich mir antiquarisch seinen 1940 erschienenen Roman ‚Die neuen Augen‘. Ich habe ihn mit einer wohligen Begeisterung gelesen. Gefiel er mir trotz der altertümlichen Sprache?

    Nein, gerade weil Werner Oellers‘ Ton noch so ganz im 19ten Jahrhundert wurzelt. Er war ein wunderbarer Erzähler: Er findet einen wundervoll lyrischen Ton bei seinen Landschaftsbeschreibungen und einen sachlich-schönen bei der Schilderung von Arbeitswelten, sei es im Hüttenwerk oder im Garten. Er nutzt die Geschichte um einen tragischen Verkehrsunfall zu Zeiten des besetzten Rheinlands und der Hyperinflation als Folie zur Darlegung seines Menschenbildes, das so gar nichts Heldenhaftes besitzt. In einer ganz keuschen Liebesgeschichte bekommt ein kurzes Streicheln des Haares ein erotisches Knistern. Man mag eine solche Geschichte als sentimental abtun, muß sich aber immer vergegenwärtigen, in welcher Zeit sie erschien: 1940! Solche Geschichten gaben allen zurückgezogen lebenden Zeitbloms die Hoffnung, daß inmitten der Gewaltherrschaft noch Menschlichkeit existiert. Ich frage mich ernsthaft, ob ein solches Buch nicht heute wieder ein interessiertes Publikum finden könnte. Bei ZVAB oder im Book- Locker sind noch viele Exemplare gelistet. Es würde mich freuen, wenn ich noch andere Stimmen zum Roman bekommen könnte.

    Nun sind wir bei der Frage angelangt, ob, und wenn ja welche hohe Kunst im sogenannten Dritten Reich entstand. Hierzu besorgte ich mir das Werk eines anderen ‚Daheimgebliebenen‘, des Freundes von Thomas Mann Hans Reisiger: Er veröffentlichte 1942 das Lebensbild von Johann Gottfried Herder in einer aufwendig gestalteten Ausgabe mit Photos und Graphiken. Die Kulturpolitik der Nazis hatte begonnen, Herder als Vorkämpfer ihrer Nationalidee zu vereinnahmen. Wie konnte dieser Ungehörigkeit entgegen getreten werden? Reisiger nimmt sich mit eigenen Äußerungen völlig zurück, reiht fast ausschließlich ‚Selbstzeugnisse, Briefe und Berichte‘ von Zeitgenossen aneinander. Nur einzelne kurze Texte sind eingeschoben mit biographischen Fakten. Wer Augen und Verstand besaß konnte erkennen, daß das Gegenteil der Fall war, daß Herder die Welt im Blick hatte, den Geist und das Miteinander der Kulturen. Sich der eigenen Kultur bewußt zu werden bedeutet nicht, andere gering zu schätzen.

    Wer war dieser Hans Reisiger, mit dem wir zuallererst Rüdiger Schildknapp aus dem Faustus assoziieren? Einer der wenigen lebenslangen Freunden von Thomas Mann. In seiner Rede zum 70sten Geburtstag von Hans Reisiger sagt er, 1906 dem schönen Jüngling von damals im Hause von S. Fischer erstmals begegnet zu sein. In den Anmerkungen zu den Tagebüchern 1937-1939 ist vermerkt, daß die beiden sich seit 1913 kannten. Wie dem auch sei: Hans Reisiger (1884-1968) verdingte sich als Übersetzer und lebte zeitlebens in eher bescheidenen Verhältnissen, die Gemeinde Seefeld in Tirol kann man als seinen Lebensmittelpunkt bezeichnen. Entscheidenden Einfluß auf Thomas Mann übte er 1922 aus: Seine Übersetzung von Walt Withmans ‚Leaves of Gras‘ erschien und Thomas Mann nahm sie wohl nur in die Hand, weil sein Freund Reisiger sie übertragen hatte. Das Hohelied auf die Demokratie und auf hübsche junge Männer begeisterte ihn gleichermaßen. In seiner Rede ‚Von Deutscher Republik‘ zum 60sten Geburtstag von Gerhard Hauptmann 1923 lobt er Reisigers Übertragung der ‚Grashalme‘ explizit. Spätestens seit dieser Zeit ist Reisiger ein Freund der Familie: Man verreist gemeinsam, vor der Machtübernahme ein letztes Mal 1932 in die ‚afrikanische Arktis‘, wie Thomas Mann in einem Brief zum 70. Geburtstag von Gerhard Hauptmann schreibt und damit die Ostsee bei Nidden meint. In den Schweizer (dreißiger) Jahren ist Reisiger sehr oft zu Gast in Küsnacht, in den Tagebüchern scheint er zuweilen ein Mitglied der Familie geworden zu sein. Es erfolgt die Übersiedelung in die USA. Reisiger ist unentschlossen, bleibt dies auch, nachdem er nach dem ‚Anschluß‘ Österreichs 1938 in Innsbruck verhaftet und einige Tage festgesetzt wurde. Thomas Mann setzt sich in den Staaten sehr für ihn ein, verschafft ihm eine Doktorandenstelle in Berkeley, aber ‚Reisiger Unentschlossenheit habe sich »nun geradezu ins Klinische gesteigert« wie Klaus Mann von einem Mittelsmann erfuhr. Man läßt ihm berichten, er möge doch alle Briefe Thomas Manns vernichten, sie könnten ihn in größte Schwierigkeiten bringen.

    Bei Thomas Mann bleibt jedenfalls eine gewisse Säuernis zurück. Während der Kriegsjahre gibt es aus schlechten Gründen keine Korrespondenz. Im Herbst 1943 dringt eine Botschaft nach den USA durch: »Glauben Sie nicht, daß alle Deutschen Nazis sind.« Unmittelbar nach dem Kriege versucht Reisiger mit Thomas Mann brieflich in Kontakt zu treten, zwei Briefe sind falsch adressiert und es dauert bis in den Sommer 1946 bis der erste Kontakt wiederhergestellt ist. Und Thomas Mann ist noch verärgert wegen des Zurückbleibens seines Freundes, glaubt, daß dieser aus Bequemlichkeit geblieben ist.

    An Erich von Kahler schreibt er: »…weil er an die Dauer des Regimes glaubte, besser unter ihm zu leben gedachte und wohl auch gelebt hat und … uns für verlorene und schiefgewickelte Leute hielt.« Diesen Vorbehalt spricht er gegen seinen alten Freund nicht aus, vielmehr keimt in ihm das schlechte Gewissen auf, wie er diesen als Schildknapp ins Bild gesetzt und übel überformt hat. In einem Brief vom 4. September 1947 bereitet er Reisiger auf den Roman vor, bittet um Verständnis und beinahe schon um Verzeihung ob der Darstellung im Roman. Und Reisiger ist verletzt und gekränkt, spricht dies aber seinerseits nicht offen gegenüber Thomas Mann aus, sondern klagt auch nur einem Dritten gegenüber (in einem Brief an Hermann Broch, im Juni 1948), findet vieles »allzu unwürdig und herabziehend.«

    In der Folge finden die beiden zu ihrem vertrauensvollen Verhältnis wieder zurück, wechseln viele Briefe, sehen sich erstmals am 4. August 1949 in Amsterdam wieder. Bei den schwierigsten Fragen Thomas Manns zu Deutschland und den Deutschen steht ihm Reisiger bei, entsprechend herzlich, dankbar und anerkennend seine eingangs erwähnte Rede zu Hans Reisigers 70sten Geburtstag 1954, eine öffentliche Bitte um Entschuldigung mit eingeschlossen: »Wahrhaftig, er hatte mehr zu verzeihen, als ich, und wie er’s tat, ist und bleibt schlechthin bewundernswert.« Hier ist wahre Freundschaft und tiefe Zuneigung im Spiel, Anerkenntnis auf Augenhöhe. Auf Anhieb fällt mir niemand außerhalb der Familie ein, auf den solche Attribute zuträfen, und auch nur wenige innerhalb. Aber nicht nur deshalb verdient diese Beziehung eine eingehendere Betrachtung als mein Überblick auf diesen Seiten: Sie steht auch exemplarisch für das Verhältnis zwischen den Geflüchteten und den Daheimgebliebenen.

    Nun will ich wieder einen hoffnungsvollen Ausblick auf den nächsten Frühling, auf hoffentlich postpandemische Zeiten wagen. Ich möchte Ihnen hierzu einen in diesem Jahr erschienenen Roman gedanklich auf den weihnachtlichen Gabentisch legen, und zwar „Morpho Peleides von Tobias Schwartz. Titel und Titelbild ließen mich zugreifen, erinnerten sie mich doch an meinen sommerlichen Besuch im Museum Alexander Koenig und meinem Staunen über die wunderschönen Falter in dessen Schatzkammern, eben jene, die Thomas Manns ‚Spekulierer‘ im Faustus seiner Familie vorstellte. Im Roman wird die Lebensgeschichte eines Schmetterlingsforschers beschrieben, der Sohn eines KZ-Kommandanten war und, parallel geführt, die Geschichte eines kleinen jüdischen Jungen, der eben in diesem Lager aufwuchs und die ein tragisches Ereignis miteinander verbindet. Beide haben Enkelkinder, die einander als Studenten in Berlin begegnen und sich ineinander verlieben. Schwartz arbeitet mit einer fesselnden Schnitttechnik, mit Sprüngen durch Raum und Zeit, von Göttingen nach Berlin, nach Moskau, Tel Aviv, Brasilien, von 1945 nach 2019 und wieder zurück in die fünfziger Jahre – und dann erfährt man noch, daß der Kern der Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht. Ich weiß nicht, was große Kritiker oder Germanisten zu diesem Roman sagen, ob diesen die Sprache zu schlicht ist – mir scheint sie angemessen, brutal, wo es Brutales zu erzählen gibt, sentimental, gar rührend, wo Gefühle geschildert werden, und spannend in der Engführung hin zur Wiederbegegnung der beiden ganz alten Herren bei der Hochzeit der Enkel. Tobias Schwartz (geb. 1976) lebt als Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer in Berlin und ist – dies nicht nur nebenbei – ein großer Bewunderer von Thomas Mann, der im Roman auch mehrfach erwähnt wird. Wenn die Regelungen zur Pandemie dies zulassen, werde ich ihn am letzten Adventswochenende zusammen mit seinem Verleger Ingo Držečnik (Elfenbeinverlag) in Berlin treffen. Er ist bereit, einen Vortrag unter der Überschrift ‚Mein Thomas Mann‘ vorzubereiten, den er dann hoffentlich eines entspannten Tages im Museum Koenig halten wird. Ich habe dort schon angefragt und bin auf ein positives Echo gestoßen. Ich denke an eine Sonntagsmatinee, nach der wir in kleinen Gruppen durch das Haus geführt werden könnten, auch in Räume hinein, die sonst für Besucher nicht zugänglich sind.

    Abschließend möchte ich Ihnen noch ein Buch für Ihre Kinder und Enkelkinder ans Herz legen – sofern diese es noch nicht besitzen: Erika Manns ‚Stoffel fliegt übers Meer‘. Es ist erstaunlich, wie Erika Mann 1932, in dieser Zeit der Not, ein Buch der Hoffnung herausgebracht hat, mit diesem Lob der Technik und deren tollen zukünftigen Möglichkeiten (Fernschreiben aus der Luft, telefonieren mit Amerika); dann dem Fliegen an sich und nicht zuletzt der Beschreibung von Neuyork, die auf deutsche Leser wie eine Utopie der Moderne gewirkt haben muß. Und die ganze Geschichte ist gesäumt von positiven, hilfsbereiten Menschen. Nun, ein positiver Blick auf die USA ist in deutschen Köpfen erst in den 50er Jahren angekommen- und dennoch: Das Buch ist ein phantastisches Zeitzeugnis und erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Es wurde herausgegeben von unserem Münchner Kollegen Dirk Heißerer. Auf Rückfrage erhielt ich folgende Antwort:

    Sie (Stoffel-Neuausgabe) hält sich erfreulich noch immer sogar in zwei Verlagen, bei P. Kirchheim und bei Rowohlt. In diesen Zusammenhang gehört auch Erika Manns Weihnachts-„Kinderstück“ „Jan’s Wunderhündchen“ (1932), das wir 2005 als Bd. 1 der „Fundstücke“ in unserer Schriftenreihe wieder neu aufgelegt haben: https://tmfm.de/fundstuecke/ … sollten Ihre Mitglieder sich dafür interessieren, können Sie in einer einmaligen Weihnachtsaktion Exemplare für € 10 (inkl. Porto) auch direkt über unser Forums-Büro beziehen (info@tmfm.de).

    Also bitte: Greifen Sie zu und seien Sie herzlich gegrüßt Ihr Peter Baumgärtner

    PS: Dem Rundbrief beigefügt ist auch eine Glosse unseres Mitglieds Jürgen Quasner. Mit großer Phantasie begabt und einem breiten literarischen Wissen unterhält mich Herr Quasner seit Wochen mit einem fiktiven himmlischen Dichtertreffen. Ich habe nun einzelnen Szenen zu einem ersten Akt der Komödie zusammengefaßt und ihr den Titel gegeben: „Thomas Mann lädt ein zum himmlischen Stelldichein“ – Ich wünsche viel Vergnügen damit.

    PPS: Auf meinen letzten Rundbrief erhielt ich dankenswerterweise anerkennende Zeilen unseres Präsidenten Prof. Wißkirchen und vor allem den Hinweis, mit meinen Ausführungen zu Wassermann in allen Punkten recht zu haben und vor allem daß er im Thomas Mann Jahrbuch 2018 (Seite 33ff) einen ersten vergleichenden Blick auf das Verhältnis der beiden Dichter zueinander getan hat. Ist vielleicht für Sie interessant.

    Anlagen W. Oellers: Rettung der Seelen  | Quasner: Glosse Folge 1

    W. Oellers: Rettung der Seelen

    Quasner: Glosse Folge 1

    Thomas Mann lädt ein zum himmlischen Stelldichein

    Folge 1

    „Autorenfest mit Dame“

    von Jürgen Quasner

    Thomas Mann: Meine Herren, ich begrüße Sie zu unserem festlichen Abend. Sie sind allesamt so prominent, daß einige der Herren gekränkt wären, wenn ich sie einzeln vorstellen würde. Von Ihren Literaturpreisen will ich auch nicht reden. Katja wollte nicht mitkommen, Frau Fontane schreibt zur Zeit ein Manuskript ab. Aber ich habe Frau Seghers überreden können. Entschuldigen Sie, meine Gnädigste, daß ich Sie jetzt erst nenne: Vergeßlichkeit des Alters. Jeder hier weiß ja, daß Ihre politische Orientierung besser zu meinem Bruder als dem Gastgeber gepaßt hätte. Sie werden es mir bitte anrechnen, daß ich ab 1930 vor Arbeitern, vor Sozialdemokraten gesprochen und sie als die neuen Hüter des Geistigen angesehen habe.

    Anna Seghers: Danke für Ihre Einladung und die Begrüßung. Ich sehe in Ihrem Fall ein, daß Sie nicht zu den Kommunisten weitergegangen sind. Aber jetzt lassen Sie mich den Sekt probieren!

    Mann: Besonders hervorheben will ich noch Herrn Fontane, der uns den Champagner mitgebracht hat, den ihm die Redaktion damals für sein Treppengedicht verweigert hat.

    Fontane: Kommt Günter Grass denn nicht?

    Mann: Er ist verschnupft, weil ich ihm Vorhaltungen wegen seiner Weigerung gemacht habe, uns sein „Weites Feld“ vorzustellen. Ich habe sogar begonnen, den Roman zu lesen. Na ja, am Anfang erfährt man umständlich, daß er ihre Figuren kennt. Er nennt Sie Fonty, verehrter Kollege, etwas geschmacklos.

    Weiss: Und wo bleibt Brecht? Da gab es doch kürzlich unten einen Vortrag von Herrn Oellers über ihn und unseren Gastgeber!

    Mann: Herr Brecht läßt sich entschuldigen. Ich habe ihn diese Woche getroffen und ihm angedeutet, wir Prosaiker hätten genug für die Episierung der Welt getan. Da hätte es sein episches Theater mit dem blätternden Zuschauer nicht auch noch gebraucht. Kurz und gut, der Herr ist unpäßlich.

    Oskar Maria Graf kommt schnaufend an: Entschuldigen‘S scho. Sorry, ja, so viel englisch hab‘ ich in Neu York g‘lernt. I hab ja den Kasten Bier da hergschleppt. Bedienen Sie sich doch!

    Fontane: Oskar Maria, damit wären sozusagen zwei Damen bei uns!

    Graf: Saupreiß, dammischer, geh‘ schaukeln mit deiner Effi! Der Grass und der Reich-Ranicki sind sich da hinten am Zanken.

    Günter Grass und Siegfried Lenz treten auf, beide mit Pfeife, Grass verstrubbelt.

    „Die Blechtrommel. Ja“, sagt Thomas Mann, „recht kühn, wild, aber anders als mein

    „Faustus“, statt Schönberg nur eine Trommel mit Zwerg, das als Verkörperung deutschen Wesens? Ach so, sprachschöpferisch auch? Noch ein Nobelpreis, spät allerdings.

    Grass: Immerhin besser als „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Siegfried Lenz: Wo ist eigentlich der Böll?

    Graf: Der sitzt auf Wolke sieben in seinem Nobelpreiskissen und liest Theologisches. Mann: Aha! Sein „Gruppenbild“ wurde mit dem Zauberberg verglichen?“

    Auftritt Reich-Ranicki, grimmig sieht er drein.

    RR: Wegen derrr Buddenbrrooks wurrden Sie nach Stockholm geladen, grroßer Meister!

    Mann – leise zu Fontane: Meine Güte, wir haben ihn nicht eingeladen! Er wird unseren cercle sprengen wollen. Wenn er wieder damit anfängt, daß wir von Erotik nichts wüßten, nehme ich mich aber aus! Er beruhigt sich, wenn wir ihm Goethe vorlesen, hat jemand den „Tasso“ dabei?

    Mann: Reich-Ranicki, Sie Großkritiker, Sie sehen schlecht gelaunt aus!

    Reich-Ranicki: Jaa, bin ich, ich habe vorhin Frau Löfflä getrrroffän. Die will hier, hierr das Literarische Quarrtett wieder aufziehen! Lieber schreibe ich eine neue Rezension zu Ihrem

    „Weiten Feld.“ – Lacht.

    Grass: Nur zu, nur zu, aber auch das bringt mich nicht in die Hölle! Lenz, Sie könnten das Quartett leiten.

    Lenz: Da frage ich vorher Helmut Schmidt. Oh, kann ich dort meine „Deutschstunde“ bewerben?

    Mann: Sie, Herr Lenz mit Masuren, Sie waren mit Helmut Schmidt befreundet, na gut, ich fast mit den Roosevelts. Bei Ihnen wirkt alles so brav, wie aus der Puppenstube, und mit der

    „Deutschstunde“ haben Sie eine Pflichtarbeit abgeliefert… Reich-Ranicki: Ich werrrde sie rezensieren, Herr Mann!

    Alle: Nein! Um Himmels Willen!

    Graf: Aber do sammer doch, ihr dammischen Deppen

    Juli Zeh tritt auf, Helmut Schmidt im Gefolge. Menthol liegt in der Luft. Ein großes Durcheinander entsteht. Anna Seghers rümpft die Nase, tritt ab.

    Reich-Ranicki: Juli Zeh, wo kommen Sie denn her? Wollten Sie nicht lieber das Inferno unten besuchen, den Sauladen der SPD? So haben Sie das doch genannt!

    Zeh: Ach, nein, ich erhoffe mir Verbesserungen durch Olaf Scholz als Nikolaus…

    Mann: Ich kenne Sie zwar noch nicht, aber Sie gefallen mir. Haben Sie etwa auch Belletristik geschrieben? Wie kommen Sie überhaupt hierher? Sind Sie noch am Leben?

    Reich-Ranicki: Jetzt lassen Sie sie mal, lieber Thomas Mann. Ihre Romane erkläre ich Ihnen später. Das kann ich besser!

    Zeh: Meinetwegen. Also ich hospitiere hier mit allerhöchster Erlaubnis und darf Ausgewähltes nach da hinten unten berichten. Man erhofft sich bei der EKD und bei den Katholiken, daß die Austritte zurückgehen. Spesen werden bezahlt.

    Grass: Da hätte der Böll auch machen können. Und der Lenz sowieso.

    Schmidt: Wie ich sehe, Frau Zeh, beruhigen und stimulieren Sie zur selben Zeit. Ich setze darauf, daß der Scholz länger regiert als ich. Leider raucht er zu wenig.

    Lenz: Helmut, wir treffen uns aber noch zu einem Absacker an der Lazy Days‘ Bar! Und Sie, Grass?

    Grass: Ich nicht, habe schon getankt.

    Weiss: Habe keine Zeit, verfasse gerade ‚Die Ästhetik des Engelsstandes‘

    Mann: Gehen Sie nur, meine Dame, meine Herren Kollegen. Die Unterhaltung hat meinen Pessimismus etwas gemildert. Ich warte noch auf einen Herrn von den Unitariern, den ich wegen der Beschwernis durch Mc Carthy in den USA nicht mehr treffen konnte.

    Reich-Ranicki: Verehrter Thomas Mann, was soll das jetzt noch bringen? Ich interrrpretierre Ihnen jetzt besserrr die Romane von Frrau Zeh!…

  • Rundbrief Nr. 34



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    Am 21.10. konnte der bereits mehrfach verschobene Vortrag von Prof. Dr. Norbert Oellers stattfinden. Unter der Überschrift ‚Bert Brecht und Thomas Mann‘ stellte er ausführlich dar, wie der Dramatiker auf der einen Seite und der Epiker auf der anderen mit den jeweiligen Mitteln ihrer hohen Kunst auf die tragischen Zeitläufte reagierten. Er wählte hierzu zwei jeweils ungefähr gleichzeitig entstandene Werkpaare aus: Zunächst stellte er „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ neben die Novelle „Mario und der Zauberer“, dann „Leben des Galilei“ neben den „Dr. Faustus“. Bei aller Unterschiedlichkeit hob Herr Oellers die einzigartigen Qualitäten dieser beiden bedeutenden Dichter deutscher Zunge in der ersten Hälfte des 20.sten Jahrhunderts hervor. Bei der anschließenden Diskussion wurden Fragen zu den persönlichen Beziehungen der beiden zueinander besprochen. Herr Prof. Oellers umriß deren Nicht-Verhältnis und hielt als ausgewiesener Fachmann für den Dramatiker Friedrich Schiller seine Ansicht nicht zurück, daß seine größeren Sympathien beim Dramatiker Bert Brecht liegen.

    Weitere Gründe liegen auch im politischen und persönlichen Bereich. Im Sommer 1943 hatte sich Thomas Mann geweigert, eine Erklärung über die zu erhoffende Demokratisierung Deutschlands nach dem Ende des Krieges zu unterzeichnen, die vom Moskauer Nationalkonvent „Freies Deutschland“ veröffentlicht werden sollte. Seine Vorbehalte gegenüber Rußland mögen hier eine Rolle gespielt haben, aber auch sein grundsätzlicher Zweifel daran, daß man mit den Deutschen nach einem Kriege allzu gnädig umgehen sollte. In dem Text ‚Die Lager‘, der Mitte 1945 in verschiedenen, neu erscheinenden freien Zeitungen in Deutschland erschien, beschuldigt er keineswegs alle Deutsche, Täter gewesen zu sein, aber alle Deutsche seien eben bloßgestellt vor der Welt. Aber er läßt es auch nicht zu, die gesamte Schuld auf eine Führungsriege der Nazis zu laden:

    „Es war nicht eine kleine Zahl von Verbrechern, es waren hunderttausende einer sogenannten deutschen Elite, Männer, Jungen und entmenschte Weiber, die unter dem Einfluß verrückter Lehren in kranker Lust diese Untaten begangen haben.“

    In diesem Text erwähnt Thomas Mann auch den Münsteraner Bischof Graf von Galen und nennt ihn einen ‚unbelehrbaren Geistlichen‘, denn dieser hatte in seinem ersten Interview gegenüber der anglo-amerikanischen Presse gesagt, daß – obwohl er und andere gebildete Deutsche Antinazis wären – sie trotzdem „treu gesinnt sein müssten gegenüber dem Vaterland“ und sie daher die „Alliierten als Feinde betrachten müssten“. Ob Thomas Mann über das Wirken von Galens in den Nazijahren unterrichtet war, kann ich nicht feststellen, ich weiß nicht, ob Thomas Mann von dessen Predigten Kenntnis hatte, die die Machthaber bis aufs Äußerste reizten. Jedenfalls wurde dieser Text auch von Norbert Oellers‘ Vater Werner gelesen, und er schrieb einen, neben aller Respektbekundung leidenschaftlich erbosten Text wider Thomas Mann, der dann auch in der Ruhr-Zeitung veröffentlicht wurde. Er nennt Thomas Manns Sätze über von Galen einen „unqualifizierten Angriff“ eines Außenstehenden. Werner Oellers (1904-1947) war gläubiger Katholik und die Reden von Galens gaben ihm immer wieder die Kraft durchzuhalten, durchzuhalten in seinem Kampf gegen die Einziehung in die Wehrmacht, zu deren Musterungsterminen er seinen Körper mehrfach in einen so jämmerlichen Zustand versetzte, daß man ihn eben nicht einzog. Für diesen Einsatz bezahlte er mit seinem frühen Tod.

    Prof. Oellers übergab mir den sehr eindrucksvollen Text seines Vaters nach der Veranstaltung, er hatte ihn bei sich auf dem Rednerpult. Der Text, überschrieben mit ‚Rettet die Seelen‘ ist nicht weniger eindrucksvoll als jener mit ‚Die Lager‘ überschriebene Text von Thomas Mann. Der vollständige Satz zu von Galen lautet wie folgt: „Fühlt euch selbst nicht, wie dieser unbelehrbare Geistliche, »in erster Linie als Deutsche«, sondern als Menschen, der Menschheit zurückgegeben…“ Kein Satz, gegen den es heute irgendwelche Einwände gäbe, und die Affäre zeigt, wie in jener unmittelbaren Nachkriegszeit in den zerstörten Städten die Nerven der Menschen zum Zerreißen gespannt waren.

    Diese beiden Texte, nebeneinandergestellt, nacheinander verlesen, würde uns eine kleine Ahnung von der Situation verschaffen. Ich werde bei Herrn Oellers anfragen, ob er den Text seines Vaters für eine solche Veranstaltung frei gibt und ob er sich dabei beteiligen würde.

    Es ist noch nachzutragen, daß die Veranstaltung aufgezeichnet wurde und demnächst online gestellt und mit unserer Homepage verlinkt wird.

    Am Rande der Veranstaltung wurde über künftige Projekte gesprochen, leider schon wieder mit einem besorgten Auge auf die Entwicklung der Corona-Pandemie. Für das kommende Frühjahr bereitet die Co-Vorsitzende des Ortsvereins ein Programm über Thomas Mann, H. C. Andersen und die Vertonungen seiner Gedichte vor. Der Arbeitstitel lautet:

    HANS CHRISTIAN ANDERSEN: Märchen und Gedicht-Vertonungen und ihre Spiegelung und Literarisierung bei Thomas Mann – Ein LIEDeraturabend für Gesang, Klavier und Sprecher. Lieder u. a. von Schumann, Grieg, Gade und Prokofieff

    An einer Diskussion über Tóibíns ‚Der Zauberer‘ scheint kein Interesse zu bestehen. Ich habe den Roman nach hundert Seiten beiseitegelegt.

    Abschließend möchte ich Ihnen noch zwei Bücher vorstellen, die in den zwanziger und dreißiger Jahre von Autoren aus dem persönlichen Umfeld von Thomas Mann verfaßt wurden:

    Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude

    Auf dies Buch wurde ich aufmerksam durch das Nachwort von Walter A. Berendsohn zu den ‚Sieben Manifesten zur jüdischen Frage‘. Es erschien 1921 bei S. Fischer in Berlin und hatte bei meiner Ausgabe von 1922 schon die 16. Auflage erlebt. Wassermann (1873-1934) war nach wilder und entbehrungsreicher Jugend seit Anfang des Jahrhunderts ein erfolgreicher Schriftsteller. Mit dem Erscheinen des ‚Caspar Hauser‘ setzte in der deutschnationalen Presse eine Empörungswelle gegen ihn ein, daß er „als Jude nicht fähig sei, ihr geheimes, ihr höheres Leben mitzuleben, ihre Seele aufzurühren, ihrer Seele sich anzuschmiegen“ und nun, als Mann von fast 50 Jahren gibt er einen Lebensabriß und eine Darstellung der fortwährenden Kränkungen und des Sich-zurückgesetzt-Fühlens in Deutschland aber auch in Österreich. Diese über Jahrhunderte gewachsene und auch von den Kirchen geschürte Aversion gegen die Juden hat auch die gebildeten Stände erfaßt. Die Texte lassen einen schaudern. Thomas Mann versucht ihn nach Erscheinen des Buchs zu besänftigen, spricht vom ‚Pflänzchen Antisemitismus‘, das in Deutschland keine Wurzeln schlagen könnte.

    Nach Wassermanns Tod 1934 gibt seine Frau Martha Karlweis im Querido-Verlag 1935 eine Biographie ihres Mannes heraus, zu der Thomas Mann ein Vorwort schreibt. Darin heißt es:

    „Wie maßlos er am Ende recht bekommen sollte, das ahnte er damals so wenig wie ich.“

    Die beiden hatten sich schon als „ganz junge Leute“ kennengelernt im Gründungsjahr des ‚Simplicissimus‘ 1896, so Thomas Mann bei seiner Tischrede auf seinen „Freund“ Jakob Wassermann zu dessen 56sten Geburtstag. Kurz zuvor waren beide auf einer Liste „eines völkischen Kulturkampfbundes … als Kulturschädlinge und Seelenverderber“ bezeichnet worden. Dagegen führt Thomas Mann Wassermanns konservatives Rebellentum an: Er habe die besondere Art des Künstlertums bewahrt, die des genialen Unterhalters und Trostspenders. Diese gemeinsame Idee eines humanen Lebensdienstes bindet sie zusammen in dem „Kampf gegen die tödliche Trägheit des Herzens.“

    Das Verhältnis der beiden zueinander ist eine eingehende Untersuchung Wert – wenn es eine solche noch nicht geben sollte, ich kenne sie nicht. Der Briefwechsel ist sehr umfangreich, die Textstellen, in denen sie aufeinander Bezug nehmen, ebenso. Aber vor allem möchte ich auf dieses Buch aufmerksam machen: ‚ Mein Weg als Deutscher und Jude‘! So altmodisch Wassermanns Sprache sich ausnehmen mag, so beschämend aktuell scheint mir der Inhalt dieses hundert Jahre alten Buches. Es hätte eine Neuauflage verdient.

    Gleichfalls beklemmend aktuell ist der gerade im Bonner Weidle-Verlag neu erschienene Roman von Theodor Wolff ‚Die Schwimmerin‘. Theodor Wolff war von 1906 bis 1933 Chefredakteur des Berliner Tageblatts – und somit einer der einflußreichsten Journalisten Deutschlands – bevor er sich nach Südfrankreich ins Exil begab. Dort traf er mehrfach mit Thomas Mann zusammen, Briefe wurden gewechselt. 1937 erschien ‚Die Schwimmerin‘ bei Oprecht in Zürich. Ein Ausschnitt seiner Beschreibung der mondänen Gesellschaft an der Côte d’Azur, des ebenso neuen wie befremdlichen Umfeld der beiden Dichter, soll die Sprachmacht Wolffs verdeutlichen:

    Draußen auf dem Fahrdamm bewegte sich ununterbrochen, lückenlos und oft stoppend, der Korso der Autos, der pompösesten Autos aus allen Weltgegenden und Fabriken, ein riesiger Lindwurm, der sich mit blanken Schuppen langsam vorwärtsschob. In den Wagen saßen die gesicherten Existenzen, das Polster einpressend wie schwere Geldsäcke, und flittrige Grazien, indische Maharadschas ohne den verzaubernden Glanz ihrer Palastkostüme, populäre männliche und weibliche Filmstars, mächtige Zeitungsbesitzer, […] Fast alle taten, als wäre ihnen die Bewunderung der Zuschauer so gleichgültig wie in einer Rindviehausstellung den preisgekrönten Kühen.

    Es soll keineswegs abwertend klingen, wenn ich sage, dies sei eine zur Literatur geronnene Reportage. Wolff benutzt die Folie einer Liebesgeschichte zwischen einem erfolgreichen Manager mittleren Alters und einer allzu jungen und dennoch auf Selbstbestimmung pochenden Dame für seinen Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands seit dem ersten großen Krieg – der zweite ist schon als Ahnung zugegen. Besagte Dame trägt die Züge von Ilse Stöbe, von Wolffs früherer Sekretärin. Sie arbeitete 1939- 1941 für das Auswärtige Amt, und wurde, nachdem Sie Informationen zum geplanten Überfall auf die Sowjetunion nach Moskau übermittelt hatte, 1942 in Berlin als Landesverräterin hingerichtet. Gegen den Rat von Freunden bleibt Theodor Wolff nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich. Im Mai 1943 wird er verhaftet und stirbt noch im September des gleichen Jahres.

    Seit 1962 werden mit dem Theodor-Wolff-Preis herausragende Journalisten geehrt. Seit 2014 wird auf einer Gedenktafel am Auswärtigen Amt auf Veranlassung von Frank- Walter Steinmeier Ilse Ströbel gedacht.

    Lassen Sie sich diesen Lesegenuß nicht entgehen und seien Sie herzlich gegrüßt Ihr Peter Baumgärtner

  • Rundbrief Nr. 33a



    Liebe Mitglieder des Ortsvereins Bonn-Köln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, liebe Interessierte an unserer Arbeit,

    in wenigen Tagen ist es soweit: Am Donnerstag, den 21.Oktober spricht Herr Prof. Dr. Norbert Oellers zu uns im „Rittersaal“ der „Gesellschaft Schlaraffia Bonn“ zum Thema Bert Brecht und Thomas Mann, den beiden sicher bedeutendsten Schriftstellern Deutschlands der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Er spricht dabei über ein Nicht-Verhältnis der beiden zueinander: die beiden hatten sich stets wechselseitig im Auge, wußten, was der andere tat, hatten sich aber nichts zu sagen, sprachen eher mit dritten übereinander, der eine, der ewige Großbürger mit der Neigung zu sozialdemokratischen Thesen am Ende seines Lebens, und der andere, der im Arbeiteranzug im schicken Wagen ins tolle Wochenendhaus am See in Bukow fuhr.

    Wir erwarten einen spannenden Abend, der sicher den einen oder die andere zum Widerspruch reizen wird. Herr Oellers freut sich auf eine lebendige Diskussion im Anschluss Bei Herrn Büning-Pfaue sind bis dato ca. 20 Anmeldungen eingegangen, 25 weitere können noch folgen, bitte um nur schriftliche Anmeldung nur bei Herrn Büning- Pfaue: buening@uni-bonn.de

    Nochmals zu den Regularien: Als Hygieneplan gilt: die 3 G-Regel, „G“eimpft, „G“enesen und „G“eprüft (nicht länger her als 24 h), Maske: bei Betreten des Hauses … bis zum angewiesenen Sitzplatz (Schedestraße 17 /Ecke Kaiserstraße; Bushalte „Schedestraße“, Buslinien 610 und 611); .. Abstandhalten, Desinfektionsmittel-Option nutzen, Stühle stehen im 1,5 m-Abstand, Getränke/Gläser gegebenenfalls mitbringen; maximal insgesamt nur 45 Personen; Veranstaltungs-Beginn: 19.30 Uhr

    Ich hoffe, wir sehen uns am Donnerstag. Seien Sie herzlich gegrüßt Ihr Peter Baumgärtner